Apocalypse later


Die Stille war so allumfassend, dass er dachte, er sei taub geworden. Es war hier immer ruhig gewesen, aber nie so zermürbend lautlos. Er war sich sicher, dass er der Letzte war. Um sich zu versichern, dass er noch hören konnte, pfiff er die ersten Takte von Wachet auf, ruft uns die Stimme, was ihn kurz beruhigte. Doch als er die Gurken wässerte, stiegen wieder diese ungewohnten unbequemen düsteren Gedanken in ihm auf. Durch das schlechte Gewissen darüber, dass er seit über einer Woche nicht ein einziges liturgia horarum gehalten hatte, konnte er sie beiseite schieben. Katholische Schuld wächst in ein Leben wie Schimmel.

Er hatte – weiß Gott – Besseres zu tun. Ohne die Hilfe der Anderen verbrachte er den Großteil des Tages damit, sich um das Nötigste zu kümmern, was er zum leben brauchte. Gießen, ernten, sähen. Wasser aus dem Brunnen schleppen, abkochen, abfüllen. Jetzt war es wichtiger denn je, die Selbstsuffizienz zu erhalten. Anfangs hatte er noch versucht, den stoischen Tagesablauf einzuhalten, doch mit all den Verpflichtungen und lauten Fragen im Kopf hatte sich jedes Gebet als zunehmend unpraktisch erwiesen. Zwar stand er immer noch vor Sonnenaufgang auf, doch aus bloßer Gewohnheit, nicht aus Notwendigkeit; der gleiche Grund, warum er immer noch das Gewand trug. Außer Lebenserhaltung gab es ja keine Notwendigkeit mehr.

Die Brüder waren vor einem Monat – ungefähr; er hatte aufgehört, die Tage zu zählen – als freiwillige Helfer (physisch und metaphysisch) in die Umgebung aufgebrochen; er war als einziger zurückgeblieben, um Kamp nicht allein zu lassen. Er hatte sich freiwillig gemeldet. Wenn er gern mit Menschen zu tun gehabt hätte, wäre er wohl kaum Mönch geworden. Selbst die Brüder waren an den meisten Tagen hier oben eher eine Tatsache, die er akzeptieren musste, als willkommene Abwechslung zum eigentlich immens stumpfsinnigen Leben. Zum Glück redeten sie nie viel. Jetzt allerdings wünschte er sich jemanden für ein Gespräch. Jemanden, der ihn nicht ermahnte, wenn er unbequeme Fragen stellte. Kein Fragezeichen setzen, wo Gott einen Punkt gemacht hat. Das hatte der Pater immer gesagt.

Er hatte verfolgt, wie sich die Lage entwickelt hatte. Da sowieso niemand da war, konnte er anfangs den Fernseher den ganzen Tag lang laufen lassen; ein willkommenes Geräusch in der Geräuschlosigkeit. Vor etwa zwei Wochen war das auch verschwunden. Schwarzer Bildschirm. Zwar versuchte er jeden Morgen sein Glück und drückte auf den Schalter unter der gewölbten, angestaubten Scheibe, doch nichts. Insgeheim wusste er, dass der Strom nie wiederkommen würde. 

Er sank auf die Knie. Ohne zu wissen warum, vergrub er seine Hände tief in der lockeren Erde des Gemüsebeets, die Kälte an seinen Handflächen klärte den Nebel in seinem Kopf etwas. Er atmete tief ein, sog gierig die kräftige Würze der Erde durch die Nase und hoffte, so den Effekt der Klarheit verstärken zu können. Doch es tat sich nichts. Die hoch stehende Sonne verriet ihm, dass es ungefähr 12 Uhr sein musste. Zeit für Gebete, danach Essen. Eigentlich.

Um diese Uhrzeit war es in der Marienkapelle am kühlsten. Er warf einen kurzen Blick in den protzig-barocken Terassengarten hinunter. Früher hatte er die Aussicht immer genossen. Jetzt verhöhnten ihn die kreuzförmig angelegten Wege, strahlend in der Mittagssonne, zwischen den mittlerweile wild wachsenden Rasenflächen und dem Brunnen in der Mitte, der ihn wie ein Auge ohne zu blinzeln anzustarren schien. Grimmig schlurfte er los.

In der Kapelle lagen kleine Felder aus Licht wie Scherben auf dem Boden, ansonsten dämmerte der spartanisch eingerichtete Raum in einem blauen Halbdunkel. Er griff nach dem dicken Buch mit der narbigen Oberfläche aus roten Leder, legte den Kopf auf seinen bis zum Kinn hochgezogenen Knien ab und blätterte ziellos – das erste Mal seit Wochen. Plötzlich sprangen ihm Textstellen entgegen, die er unzählige Male überlesen hatte. Eine dieser nervigen Eigenschaften der Bibel: Sie wollte kontinuierlich ihre Ratschläge mitteilen.

Und alle Völker werden vor ihm zusammengerufen werden und er wird sie voneinander scheiden, wie der Hirt die Schafe von den Böcken scheidet. Er wird die Schafe zu seiner Rechten versammeln, die Böcke aber zur Linken. [...] Und sie werden weggehen und die ewige Strafe erhalten, die Gerechten aber das ewige Leben.

Matthäus 25, 32-46.

Jesus trennte an dieser Stelle als Weltrichter die gerechten von den ungerechten Menschen. Eine ganz schön umfangreiche Aufgabe. So hatte er es zumindest immer verstanden. Schafe gut, Böcke böse. Böcke waren in diesem Fall wohl Ziegen, vermutete er – Jesus hätte ja wohl kaum einen Grund gehabt, Weibchen von Männchen zu trennen; einfach aus Prinzip Frauen zu erlösen und Männer zu verstoßen. Die Metapher hinkte jedenfalls wie ein Einbeiniger.

Warum das Christentum so besessen von Ziegen als Inkarnation des Bösen waren, hatte er nie nachvollziehen können. Bloß wegen der Hörner? Hochlandrinder hatten auch Hörner und wirkten nicht wirklich satanisch. Einer der Brüder hatte ihn einmal darauf hingewiesen, dass ein Ziegenschädel aussehe wie ein umgedrehtes Pentagramm, das Zeichen des Bösen, des Teufels, des Biests. Er hatte höflich genickt, doch die Erklärung hatte ihm bei weitem nicht gereicht. Er war sich damals schon nicht mehr sicher, ob der Glaube an die Dualität von Gut und Böse überhaupt noch relevant war. Seit all den Toten wusste er es. Das einzige, worauf die Journalisten, Wissenschaftler und Ärzte sich einigen konnten, war, dass das Massensterben von Menschen ausgelöst worden war. Das ultimative Böse war keine vermenschlichte Entität, kein im Dunkeln agierendes Ungeheuer; es waren Menschen. So war das.

Mit krauser Stirn blätterte er weiter.

Wir danken dir, Herr, Gott und Herrscher über die ganze Schöpfung, der du bist und der du warst; denn du hast deine große Macht in Anspruch genommen und die Herrschaft angetreten. Die Völker gerieten in Zorn. Da kam dein Zorn und die Zeit, die Toten zu richten: die Zeit, deine Knechte zu belohnen, die Propheten und die Heiligen und alle, die deinen Namen fürchten, die Kleinen und die Großen, die Zeit, alle zu verderben, die die Erde verderben.

Offenbarung, 11, 17-18.

Er kam der Sache näher. Die Toten richten – Bedeutete das, die Lebenden nicht zu richten, bis sie tot waren? Hatte Er ihn vergessen? Hatte er damit als letzter Überlebender seine Chance auf die göttliche Evaluation seiner Existenz bereits verpasst, ohne es zu wissen? Er war sich relativ sicher, dass er noch lebte, auch wenn er sich in den letzten Tagen oft gefragt hatte, was Leben überhaupt war. Sofort kam er sich lächerlich vor. Pseudoschwermütige Fragen für einen Philosophiekurs in der Sekundarstufe, wie er fand. 

Aber wo war die Belohnung für seinen Verzicht, seine Askese, seine Moral, die Jahre von Disziplin und unsicherer Unterwerfung vor einer höheren Macht? Allein, dass er so dachte, ließ ihn bereits ertappt fühlen – das war selbstsüchtiges Denken, mehr nicht. Doch langsam schwand seine Geduld. Die Kleinen und die Großen, die gab es doch nicht mehr. Die Erde war leergefegt, überzogen von verrottenden Körpern. Daran bestand kein Zweifel. Wo also blieb sein Richtspruch? Sein Verderben?

Nächste bitte.

Das Reich Gottes gleicht einem Sauerteig den eine Frau nahm und unter drei Scheffel Mehl mengte, bis er ganz durchsäuert war. 

Lukas 13, 20.

Das berüchtigte Sauerteig-Gleichnis. Er hatte diese Passage zum ersten Mal als Kind von seinem Vater vorgelesen bekommen, der mit seinem schwieligen Finger Wort für Wort auf der Seite angetippt hatte als sei die Berührung der Worte gleichbedeutend mit Verstehen, während seine dröhnende Stimme jedes Wort tragend in die Endlosigkeit dehnte – doch auch jetzt wirkte sie auf ihn nicht sonderlich sinnvoll. Was bedeutete die Frau, der Scheffel, das Mehl, die Welt, der Sauerteig? Was war abstrakt, was konkret? Was hatten die alten Propheten nur mit ihren Metaphern, Vergleichen, Parabeln, all diesen Gleichnissen? Er entschloss sich für eine wenigstens ansatzweise befriedigende Aufschlüsselung für folgende Variante: Das Reich Gottes war die Welt in Vollendung – so, wie sich Christen das wohl nach dem Jüngsten Gericht vorstellten. Der Sauerteig vor der Mehlzugabe war die Welt vor dieser Vollendung. Die Frau war seiner Meinung nur da, damit das sprachliche Bild etwas konkreter wurde und funktionierte, die Scheffel Mehl das, was die Vollendung der Welt (was auch immer das genau sein mochte: Erlösung? Das Paradies? Die Vernichtung von allem für etwas Neues?) benötigte. Wenn die Welt (der Teig) sich also veränderte (durchsäuerte), befand sie sich in einem kontinuierlichen Umwandlungsprozess. Seit knapp 2.000 Jahren. Eine frustrierende Vorstellung. Irgendwann war es doch endlich an der Zeit, anzukommen – zumal er seit den unerklärlichen Toden keine Veränderungen mehr feststellen konnte. Offenbar war der Sauerteig fertig.

Er war hier. Sonst war nichts. Er war sich sicher, der Letzte zu sein. Alles stagnierte. Die Pflanzen draußen wuchsen zwar noch, die Sonne ging auf und unter, der Wind wehte, doch davon abgesehen passierte nichts. Ja, er hatte sich aufgrund der Ruhe und des stoischen Lebensrhythmus’ überhaupt dazu entschieden, Mönch zu werden, aber das war etwas anderes, ein spiritueller Rückzug in einer vollkommen chaotischen, sinnentleerten und brutalen Welt. Doch diese Welt existierte nicht mehr. Diese Eschatologie, die Lehre von der Vollendung des Einzelnen mit dem Anbruch der neuen Welt, wie der Pater immer gesagt hatte, wirkte mittlerweile bloß noch wie ein erzwungenes Happy-End eines Hollywood-Films, das die hässliche Wahrheit in Süßlichkeit ertränken sollte: Absolute Leere. Hinter all diesen Worten steckte keine Metaphysik, kein großes Ganzes, kein Trost. Es gab keine neue Welt.

Schwach klappte er das Buch zu. 

Die Apokalypse hatte er sich anders vorgestellt. Endgültiger.