Die Verlorene
1 Es lebte eine junge Frau in der Gemeinschaft. Sie hatte rote Haare und blasse Wangen und ein makelloses Gesicht.
2 Viele Männer verfielen ihr, ohne, dass sie es beabsichtigte. So zog sie den Neid und den Hass der anderen Frauen auf sich.
3 Sie war schön, doch außer ihrer Jugend und Schönheit gab es nichts, das sie in der Gemeinschaft beitragen konnte.
4 Sie versuchte, ihren Zweck zu finden. Sie versuchte, zu arbeiten, zu dichten, zu lehren, doch ein Platz unter den Anderen blieb ihr verwehrt.
5 Sie war eine Verlorene unter den Ihrigen.
Der Prozess der Verlorenen
6 Die Gelehrten gaben ihr die Chance, sich zu erklären.
7 „Was ist dein Zweck in unserer Gemeinschaft?“, fragten sie die Verlorene.
8 „Ich suche noch danach“, antwortete sie.
9 „Zum Suchen hast du genügend Zeit gehabt!“, antworteten die Gelehrten. „Du bist 20 Jahre alt, es wird Zeit, dass du deinen Platz findest. Denn wir haben keinen Platz für jemanden ohne Platz.“
10 Die junge Frau verzweifelte. „Verehrte Gelehrte, ich hatte nicht das Glück, in eine Bestimmung hineingeboren zu werden.
11 Mein Vater ist kein Bäcker, also backe ich nicht. Meine Mutter ist keine Lehrerin, also lehre ich nicht.
12 Ich muss selbst finden, was mich ausmacht.
13 Doch alle Positionen in der Gemeinschaft sind besetzt, und es scheint, als wolle niemand mich lehren, uns zu nutzen.
14 Ich bin eine Verlorene unter den Meinigen.“
15 Die Gelehrten schwiegen, dann zogen sie sich für eine Beratung zurück. Einige Stunden musste die junge Frau ausharren, bis die Gelehrten wiederkehrten.
16 Dann sagten sie: „Dir soll ein Platz in der Gemeinschaft sicher sein.“
17 Als die Verlorene jubeln wollte, fügten sie hinzu: „Doch diesen Platz wirst du dir erarbeiten müssen.
18 Du sollst hingehen, an die Oberfläche, und erst zurückkehren, wenn du deinen Platz kennst.
19 Bringe uns etwas mit Zweck.“
20 Und so war beschlossen, dass sie gehen müsse.
21 Also ging sie.
Die Suchende
22 So wurde die Verlorene die Suchende.
23 Die junge Frau war wütend und schwor sich, nie mehr zum verborgenen Dorf zurückzukehren. Sie ging über die Oberfläche, ohne Ziel und ohne Absicht. Ihr Körper und ihr Geist wurden unrein durch den Schmutz der Erde.
24 Doch ihre Wut klang ab. Das verborgene Dorf war ihre Heimat und es fehlte ihr. Und so schwor sie sich selbst, etwas zu finden, dass sie zurück zur Gemeinschaft bringen konnte. Sie wusste nicht, was es war, doch sie wusste, dass sie danach suchen musste.
25 Also ging sie.
26 Sie sah die Leere, die endlose Verheerung, und dass die Menschen eine graue Erde zurückgelassen hatten.
27 Sie roch die Verwesung, die allgegenwärtig war, und spürte die durchdringende Kälte des grauen Himmels.
28 Sie verzweifelte, sie disziplinierte sich selbst und sie verzweifelte wieder. Sie hungerte und durstete, doch sie ging weiter, immer auf der Suche nach einem Ding, das ihr und der Gemeinschaft von größtmöglichem Nutzen sein könnte.
29 So ging es viele Tage lang, bis sie stehen blieb und ausrief: „Was soll ich tun, Götter? Was soll ich finden, wenn ich nicht weiß, wonach ich suche?
30 Ich wandere ohne Sinn und Ziel, die Umgebung ist mir ebenso gleichgültig geworden wie ich mir selbst. Ich bin wie ein Blatt im Wind, das bloß umhergetrieben wird und nichts dagegen tun kann!
31 Ich finde nichts, niemanden, und ich weiß nicht, wie ich meiner Gemeinschaft beweisen soll, dass ich einen Platz unter ihnen verdient habe.
32 Ich weiß nicht, ob ich schlafe oder wache, ob ich gehe oder stehe, ob ich hungere oder satt bin.
33 Mir ist gleichgültig geworden, ob ich sterbe oder lebe.
34 Alles ist eins geworden.“
Die Läuterung der Prophetin
35 Und da, als die diese Worte sprach, verstand sie, warum sie
losgeschickt worden war.
36 Sie verstand, wer sie war.
37 Und so wurde aus der Suchenden die Prophetin.
38 Und die Prophetin rief: „Ich bin es also, die für die Gemeinschaft einen Zweck hat! Kein Gegenstand, kein bloßes Relikt, sondern mein Wesen, meine bloße Existenz!
39 Das Wissen, das nichts als bloßer Gegensatz existiert, sondern alles eins ist!
40 Alles ist ebenso Grau wie der Himmel.
41 Das ist mein Zweck, mein Ziel, mein Sein.
42 So soll ich der Gemeinschaft davon berichten.“ Und sie fiel auf die Knie und dankte den Göttern für ihre Geduld und Weisheit.