Eintrag 53


Liebes Tagebuch,


so nah war ich noch nie. ich komme immer näher. Heute habe ich zum ersten Mal seit Langem wieder einen anderen Menschen gesehen. Es war eine Frau. Sie hat etwas gesucht, nicht jemanden. Das sieht man. Ich habe sie erst gehört, dann gesehen, um genau zu sein. 

Aus der Wohnung neben der, die ich gerade durchsucht habe, kamen plötzlich Geräusche, rumpelig und barsch. Definitiv Geräusche von jemandem, der kein Problem damit hat, Geräusche zu machen. So leise wie möglich bin ich zu einem Kleiderschrank geschlichen und habe mich versteckt. Es roch fies nach Mottenkugeln und alten Menschen. Ich habe mich kaum getraut, überhaupt zu atmen. Fast krampfhaft habe ich die ganze Zeit den kleinen Metallkasten festgehalten, in dem das Schloss steckt, damit die Tür geschlossen bleibt. Ich weiß nicht, wie lange ich dort stand, regungslos und ängstlich. Jedenfalls hörten die Geräusche plötzlich auf. Erst hatte ich Angst, dass sie mich finden könnte – ich weiß nicht, warum. Vielleicht hatte ich Angst, das könnte ihre Wohnung sein. Doch nichts passierte, also habe ich mich getraut, die Türe des Schranks zu öffnen und bin geduckt zum Fenster geschlichen. 

Sie schlenderte gerade über die Straße, in aller Ruhe, als ginge sie bloß spazieren. Ich weiß nicht, was mich dazu bewegt hat, aber plötzlich riss ich das Fenster auf und rief ihr hinterher. Zugegeben, erst kam kein Ton. Eher ein Krächzen. Doch ich habe es wieder versucht, lauter, immer lauter. Dann länger. Dann mit anderen Worten als bloßem „Hey!“

Nichts. Sie reagierte nicht. Sie schlenderte einfach weiter.

Ich wurde mutiger, rief ihr sogar Schimpfworte nach. „Hey, Schlampe! Hure! Fotze!“ Ein wenig aus Wut, ein wenig, weil ich die Hoffnung hatte, sie würde vielleicht darauf reagieren. 

Nichts. Sie ging einfach. 

Ich kam mir so unfassbar feige und dumm vor. Ehrlich gesagt fühle ich mich immer noch so. Feige, weil ich mich vor jemandem versteckt habe, der sich offensichtlich nicht ansatzweise für mich interessiert. Dumm, weil ich ihr hinterhergerufen habe, und das mehr als nur einmal. Weil ich sie beschimpft habe. Was, wenn sie mich ignorieren wollte, aber die Flüche sie dazu gebracht hätten, umzukehren und mir den Schädel einzuschlagen? 

Ich muss lernen, mich klüger und vorsichtiger zu verhalten. Das ist keine Zeit, die Naivität verzeiht. Ich hatte Glück, dass ich ihr egal war, dass sie schon längst wahnsinnig war, dass sie mich vielleicht (hoffentlich) einfach nicht gehört hat. 

So etwas wird mir nicht noch einmal passieren. Darf es nicht. Ich darf mich nicht gefährden. Ich muss sie finden. Ich will sie finden. Sie soll mich finden können. Wie soll das funktionieren, wenn mir etwas zustößt?

Kurz hatte ich sogar die Idee, der Unbekannten zu folgen. Ich bin doch wirklich dämlich! Wohin hätte mich das denn geführt? Zu ihr nach Hause. Wenn sie so etwas überhaupt hat. Und wenn sie mich nicht vorher entdeckt hätte, wie ich ihr folge, und mich getötet hätte. Sie wäre sogar im Recht gewesen. Ich würde das gleiche tun. 

Wenn mir jemand hierhin folgen würde... Ich weiß nicht, wozu ich plötzlich fähig wäre. Allein aus Furcht. Und ehrlich gesagt will ich auch nicht darüber nachdenken. Ich hoffe, ich muss es nie wissen.

Es ist schon schwer genug, sich nicht selbst zu vergessen.

Wie dem auch sei. Ich bin mir sicher, dass ich näher komme. Langsam, systematisch. Das Gebiet, wo sie nicht ist, wird immer größer.

Ich kann nur hoffen. Ich muss hoffen. Hoffen, dass sie nicht jeden Tag ähnlich weite Strecken zurücklegt wie ich. Dass sie nicht schon am Treffpunkt war, während ich unterwegs war, um sie zu finden. Dass wir uns nicht durch einen miesen Schicksalsscherz immer wieder verpassen. 

Immer wenn alles droht, überwältigend frustrierend zu werden, denke ich an Momente, die wir zusammen erlebt haben. Wie wir damals, bevor die Welt auseinandergebröselt ist wie trockener Sand, Hand in Hand durch den Innenhafen gegangen sind, immer den Joggern im Weg. Wie wir darüber lächeln mussten, wenn sie uns, wortlos gereizt, etwas zu nah überholt haben. Wie wir die Menschen beobachtet haben, wie sie an uns vorbeigingen, ohne uns zu beachten. Manchmal hatten wir das Gefühl, mit der Umgebung zu verschmelzen, zu Hintergrund zu werden, der bloß da ist. Selbstverständlich.

 Wir mochten das. Wir mussten nie darüber reden, wie sehr wir diese Selbstverständlichkeit liebten lieben. Schweigen war stärker als reden. Wir mussten nie darüber reden, wie viel wir uns bedeuten. Wir wussten es einfach. So sollte es sein. 

An so etwas denke ich, wenn mich die Suche nach ihr zu frustrieren droht. Denn das ist es wert. Definitiv. 

Ich will sie wiedersehen. 

Ich muss sie wiedersehen.

Ich brauche sie.

Ich will sie.

Ich weiß nicht

Ich liebe sie.

Sie liebt mich

Wir lieben uns.

Dass ich sie finden werde, daran habe ich keinen Zweifel. Bloß wann ich sie finden werde? Es wird Zeit. Ich habe Angst, dass sie sich nicht an mich erinnern kann, wenn wir uns finden. 

Warum sollte sie sich nicht an mich erinnern können? Aber das wird nicht passieren.

Ich komme näher. Ich weiß es. Ich spüre es.