Es ist meine Schuld. Verliere den Verstand.
Weiß nicht, was passiert ist. Muss eingeschlafen sein. Einfach so, unvorbereitet. Aufgewacht und weg war er. Ich lag da nur, sabbernd und planlos, und habe es einfach geschehen lassen. Eigentlich halb so wild, bring ja auch nichts, dem Ganzen zu sehr nachzuhängen.
Gibt größere Probleme, im wahrsten Sinne des Wortes. Die Elefanten sind tot. Die Kadaver zu beseitigen fällt schon mal raus. Raubtiere zu ihnen locken? Fressen Raubtiere Tiere, die sie nicht selbst erlegt haben? Fressen Raubtiere überhaupt Tiere, die schon tot sind? Wären mehr Dokumentationen über Tiere in freier Wildbahn sinnvoll gewesen, um überhaupt irgendeine Ahnung zu haben? Vermutlich. Vielleicht kommen die Geier ja zurück, das sind Aasfresser, keine Frage.
Die Pinguine haben es auch nicht geschafft. Schon verfüttert. An die Schneefüchse. Haben nicht alles geschafft, aber lassen niemanden ins Gehege. Wollen vermutlich beschützen, was sie haben. Kluge Tiere.
Natur ist doch wirklich etwas Mieses und Faszinierendes. Da stirbt irgendetwas und trotzdem geht alles weiter wie immer. Als wäre es egal, dass da jemand stirbt.
Die Vögel freilassen, das war der Plan. Aber das bezog sich doch nicht auf diesen blöden Strauß! Der ist doch nicht einmal ein richtiger Vogel, kann doch nicht mal fliegen. Genau wie die Pinguine. Wo ist er hin? Hoffe, er ist noch irgendwo im Zoo. Vielleicht taucht er ja irgendwo auf, während der nächsten Runde, kann doch sein, vielleicht.
Muss eingeschlafen sein. Eine andere Erklärung gibt es nicht. Aber einfach so?
Habe schlecht geträumt. Das Nilpferdbaby war auf einmal riesig, größer als die Elefanten, und wollte mich fressen. Hab versucht, ihm Milch zu geben, aber das hat es nur kurz aufgehalten, dann wollte es mich fressen. Bin weggerannt, aber nur immer wieder im Kreis, dieses riesige, stampfende, sabbernde Ungeheuer hinter mir her. Die Elefanten haben nur zugesehen mit ihren trüben Augen, die Flamingos standen auch nur da, die Vielfraße haben sich gegenseitig blutig gebissen und gefressen und die Affen haben gekreischt und gekeift, und dann bin ich auch schon wieder wach geworden, vom Kreischen und Keifen dieser verdammten Affen.
Was für ein Schwachsinn. Man muss kein Psychologe dafür sein. Verliere den Verstand.
Und weg war dieser verdammte Strauß.
Er ist doch vollkommen hilflos da draußen. Wenn er überhaupt da draußen ist, vielleicht ist er ja wirklich hier und versteckt sich nur irgendwo. Aber wo sollte sich ein zweieinhalb Meter großer Laufvogel schon verstecken? Bei meinem Glück bei den Bären. Oder den Wölfen. Die sehen übrigens mittlerweile auch ganz furchtbar abgemagert aus. Haben wir ja was gemeinsam. Aber so hätte das Ganze noch etwas Gutes, Futter für die anderen, vielleicht auch ein wenig für mich. Straußensteak soll lecker sein. Kann man das auch roh essen? Wie Rind?
Es ist meine Schuld.
Ändert alles nichts daran, muss weiter die Runden gehen. Immer noch nicht das Nilpferdbecken sauber gemacht und die Affen brauchen neues Futter, diese gierigen Monster und irgendetwas für die Wölfe muss ich auftreiben, das ist ja nicht mit anzusehen, vielleicht muss ich sogar ein krankes oder schwaches Tier töten, aber so ist das nun einmal, fressen oder gefressen werden, was bleibt da schon übrig.
War naiv zu glauben, dass es weniger Arbeit ist, wenn die Vögel weg sind. Hätte sie einfach sterben lassen und verfüttern sollen. Fast jeder mag Geflügel. Konnte aber nicht. Weiß auch nicht, wieso. Ist doch eh unausweichlich. Vielleicht wäre es einfach gewesen, wenn ich ihnen den Hals umgedreht hätte. Aber wie dreht man einem Waldkauz den Hals um? Der hat doch gar keinen. Außerdem hätte er mir vermutlich eher die Hand mit diesem kleinen, spitzen Todesschnabel zerlegt. Freilassen war die einzige Alternative.
Der Arm sieht nicht gut aus. Wundert mich übrigens, dass bisher keine Tiere verletzt sind. Obwohl- So wenig wie sie sich bewegen- Bis auf die Affen. Die toben immer noch. Fürchte, sie wollen mir damit sagen, dass sie raus wollen. Aber kann doch keine Horde von wildgewordenen, hungrigen Affen freilassen. Wer weiß, was hier dann passiert. Nachher kommen sie mir noch während der Runden in die Quere und mein Stundenplan geht nicht mehr auf und das kleine Nilpferdbaby hat Hunger und beißt mich und die Wölfe brechen aus, weil sie die Affen riechen und leichte Beute wittern und dann verwechseln sie mich mit einem Affen und beißen mich tot und das war’s dann.
Unwahrscheinlich, aber möglich. Hätte nie gedacht, dass so eine Situation wie die hier überhaupt möglich ist und zack, bin mittendrin. Alles so leer und still auf den abgelegenen Wegen, nur meine eigenen Schritte und mein leicht pfeifendes Atmen und diese pochenden Kopfschmerzen. Die Sonne hilft auch nicht unbedingt. Schwitze zu stark. Blöde Hitze.
Auf einmal ist da etwas, mitten auf dem Weg. Groß, rosa, feucht. Weiß nicht genau, was es ist, nähere mich vorsichtig. Bestimmt drei Meter lang, vielleicht länger. Es ist zu glibbrig für eine Schlange. Zum Glück bewegt es sich nicht. Gehe näher heran, langsam, vorsichtig. Es sieht aus wie-
„Noch nie einen Regenwurm gesehen, oder was?“
Zucke zusammen, springe zurück, ohne es zu wollen. Mein Herz rast. Das rosa Ding hat sich aufgerichtet und sieht mich mit kleinen Augen an. Es ist ein Regenwurm. Ein riesiger, sprechender Regenwurm. Wusste gar nicht, dass Regenwürmer überhaupt Augen haben. Verliere den Verstand.
„Starren ist unhöflich.“
„Entschuldigung.“ Meine Stimme klingt rau und zittrig. Woher kommt bitte die Ruhe, mich zu entschuldigen?
„Schon okay“, sagt der Wurm. „Du läufst hier die ganze Zeit rum, nicht wahr?“
Nicke, immer noch verdattert, immer noch mit meinem Herz im Hals.
„Warum machst du das?“, fragt der Wurm. Er kommt ein Stück näher, mustert mich, als wäre ich hier das Merkwürdige. Sein Kopf wandert einmal um mich herum. Kann hören, wie der Boden unter ihm knirscht, wenn er sich bewegt; sehe genau, wo kleine Steinchen an seinem feuchten Körper hängenbleiben. Glaube sogar, rieche ihn.
Er mustert mich immer noch. Nicke erst einmal, warum auch immer.
Der Regenwurm lässt mich keinen Moment aus den Augen, rollt sich ein wenig zusammen als würde er sich hinsetzen, wieder ein wenig von mir entfernt. Zum Glück.
„Nicht wirklich eine Ja-oder-Nein-Frage, aber von mir aus. Musst du ja wissen.“
Er wirkt, als würde er sich entspannen. Das beruhigt mich ein wenig.
„Ich bin kein Experte, was Menschen betrifft“, sagt er jetzt, „aber du siehst nicht besonders gut aus, glaube ich. Ein bisschen dünn.“ Er macht eine Pause, dann flüstert er bedrohlich, zischend: „Schade eigentlich, sonst hätte ich jetzt mein Abendessen.“
Das war es dann schon wieder mit meiner Beruhigung, weiche zurück; bereit, zu rennen. Doch plötzlich lacht er, ein lustiges, helles Lachen, ehrlich und irgendwie ein wenig niedlich. „Scherz, Scherz, keine Sorge!“ Und er lacht und lacht, sein Kopf schwingt dabei hin und her wie ein Pendel. Es dauert eine Weile, bis er sich beruhigt.
Dann: „Aber wirklich, warum machst du das? Warum rennst du so ruhelos hier rum? Dass du sowieso nicht alle retten kannst, ist dir doch wohl klar, oder?“
Zögere und sofort beginnt er wieder, mich neugierig anzusehen. Also lieber antworten. „Irgendjemand muss es doch machen. Kann sie doch nicht verhungern lassen, sie sind-“
„Es ist ja jetzt nicht so, dass Tiere so sind wie ihr Menschen und darauf angewiesen sind, Essen einzukaufen, nicht wahr?“ Er zögert kurz, legt den runden, rosa Kopf schief. „Das macht ihr doch, ihr Menschen, oder? Einkaufen?“
Nicke. Sofort wirkt er zufrieden. Da fällt mir eine gar nicht so dumme Antwort ein. „Aber es ist jetzt ja auch nicht unbedingt so, als wären Tiere grundsätzlich in Käfigen zuhause.“
Der Wurm verharrt einen kleinen Augenblick; wirkt, als würde er nachdenken. Dann sagt er: „Da ist natürlich auch etwas dran.“
Bin kurzzeitig noch einmal verwirrt wegen diesem angenehmen Gespräch mit einem riesigen Regenwurm, gehe dann ein paar kleine Schritte auf ihn zu. „Kann ich dich etwas fragen?“
„Schieß los.“
„Was ist hier passiert?“ Das interessiert mich wirklich. Habe ja immer noch keine Ahnung. Nicht, dass es etwas ändern würde, aber interessant ist es allemal.
Der Wurm sagt erst nichts, dann antwortet er nur: „Ist das nicht offensichtlich?“
Zucke mit den Schultern. Etwas anderes fällt mir gerade wirklich nicht ein.
„Die Menschen sind verschwunden. So einfach ist das.“
Bin ein wenig enttäuscht, antworte: „So weit war ich auch schon.“
„Wo ist dann das Problem?“, fragt er.
Bin mir kurz nicht sicher, ob die ganze Sache wirklich so einfach ist, doch lasse es dann einfach gut sein. Trotzdem ist es merkwürdig angenehm, seit Langem wieder einmal ein Gespräch zu führen. Frage also: „Hast du irgendeine Ahnung, was ich jetzt machen soll?“
„Du solltest dich darauf konzentrieren und fokussieren, deine Gänge hier zu optimieren.“ Dann lacht er wieder. „Ihr Menschen redet so, oder? Einige von euch?“
Weiß nicht genau, wovon er redet, doch nicke. Seine Antworten sind reichlich dürftig.
„Ich bin gar nicht so schlecht. Ein T-Shirt hier oben und ich gehe fast als einer von euch durch, oder was meinst du?“
Nicke wieder planlos und er lacht wieder hell. Dann sieht er mich an und wird eindringlich. „Aber ganz ehrlich, es gibt meiner Meinung nach nur zwei Möglichkeiten für dich: Entweder du machst hier weiter, bis du umfällst – und so wie du aussiehst dauert das nicht mehr lange – oder du gehst einfach nach Hause.“
Es überrascht mich vollkommen, wie einfach die zweite Möglichkeit zu sein scheint; bin völlig verdattert, bekomme kein Wort heraus.
Muss allerdings auch gar nichts sagen, denn plötzlich meint der Wurm: „Ich muss jetzt leider weiter.“
Er dreht sich langsam um; fast elegant, wie er so kriecht. Er hat sich noch nicht vollkommen umgedreht, da sagt er noch: „Du solltest dich um deinen Arm kümmern. Sieht nicht gut aus, finde ich. Aber wie gesagt, ich bin kein Experte für Menschen.“ Dann ist er verschwunden.
Verliere den Verstand. Reibe mir die Augen, streiche durchs Gesicht. Es schmerzt, die Hände zu heben. Untersuche kurz meinen Arm. Sieht wirklich nicht gut aus.
Gehe weiter. Ist es wirklich so einfach? Nach Hause gehen? Ende? Aber irgendjemand muss sich nun einmal um sie kümmern, ist doch niemand da. Muss die Runden gehen, mitnehmen, was da ist; füttern, was geht; putzen, wofür Zeit ist. Schaffe das schon irgendwie.
Der Traum war mies. Wirklich mies. Will nicht, dass das Nilpferdbaby mich frisst. Fressen Nilpferde überhaupt Fleisch? Und welche Tiere hier fressen eigentlich Menschen? Regenwürmer machen scheinbar nur Scherze darüber. Die Wölfe bestimmt, wenn ihnen nichts anderes übrig bleibt. Und Krokodilen macht das bestimmt nichts aus. Bei denen ist nie so wirklich klar, ob sie tot sind oder noch leben. Manchmal eine Augenbewegung, dieses milchige Häutchen von unten, zack, das war’s dann wieder für eine Stunde. Habe meist keine Zeit, darauf zu warten. Aber die Krokodile sind auch nicht die höchste Priorität. Glaube, sie kommen lange ohne Futter aus. Habe da mal eine Doku gesehen.
Um den Strauß hätte ich mich mehr kümmern müssen. Sein Straußenkollege – oder ist es eine Straußenkollegin? – steht nur da, fast wie die Flamingos, nur auf zwei Beinen, und steckt den Kopf in den Sand. Glaube, er schläft, keine Ahnung.
Es ist meine Schuld. Ich habe versagt.
Muss weiter. Die Runden gehen. Bei den Wildhunden vorbei, den Pandas, den Flamingos, den Kudus und Bongos, oder Antilopen, um es kürzer zu machen, wieder zu den Affen. Sie können ja auch nichts dafür, dass sie so viele sind. Muss weiter.