Das blaue Zeug


Als Simon wach wurde, war es dunkel – er wusste nicht, ob noch oder schon. Da waren noch leichte Kopfschmerzen, aber ansonsten ging es ihm scheinbar relativ gut, wie er feststellte. Das war selten. Es war ruhig in der Wohnung; offensichtlich waren Mikey und Frank wieder einmal nicht da. Es war ihm eigentlich ganz Recht, allein zu sein.

Mit einem leichten Ächzen stand er auf. Die Kälte des gefliesten Bodens stieg direkt durch seine Fußsohlen in seine Beine. Er musste sich kurz orientieren, tastete mit dem Fuß nach der flachen Schaumstoffmatratze, die auf dem Boden lag, und fuhr mit der Hand über die Wand daneben. Sie hatte überall kleine Löcher, und wenn er mit dem Finger darin herumbohrte, spürte er den pulvrigen Putz unter seinen Nägeln. So tastete er sich langsam zur Balkontür, die sich wie immer schlecht öffnen ließ und trat nach draußen.

Er hatte immer mehr das Gefühl, dass der Balkon abschüssig war und hielt sich zur Sicherheit ein wenig zu fest am Geländer fest. So stand er da, mit nackten Füßen, Gänsehaut und nur mit einer ausgebeulten Jeans bekleidet und sah auf die Königsstraße hinunter. Am Brunnen waren Mikey und Frank auch nicht, und das wunderte ihn etwas. Aber sie würden schon wiederkommen. Er konnte sowieso nicht sonderlich viel erkennen; trotz der zweiarmigen Laternen, die an beiden Seiten der Einkaufsstraße dämmerten, lag alles in einem gelbgrauen Dunkeln, das jede Bewegung verschluckte. Nur die üblichen Punkte strahlten aus dem eintönigen Schattenbrei: Das rote S, das weiße U auf blauem Grund und in einiger Entfernung – kaum mehr zu erkennen, wenn er nicht die Augen zusammenkniff –, das grüne Dreieck mit den offenen Ecken. Keine erleuchteten Fenster in der Nähe; es musste spät sein. Er zog eine Zigarette aus seiner weiten Hosentasche, ein Feuerzeug aus der anderen, und rauchte. Als er sich gerade die zweite anzünden wollte, klopfte es an der Tür.

Langsam schlurfte er zur Tür. Um diese Zeit konnte es wohl kaum wichtig sein. Es war Elisa, die Kapuze bis zu den Augenbrauen gezogen; strähnige, dunkle Haare ragten trotzdem heraus. Unschlüssig stand sie vor der halboffenen Türe und sah die schattenhafte Silhouette Simons an. 

„Kein Licht oder was?“, fragte sie.

„Was willst du?“

„Sind die beiden Anderen da?“

„Warum?“

Sie seufzte. „Sind sie da oder nicht?“

„Langweile?“

Anstatt zu antworten, trat sie ein. „Ernsthaft, warum machst du nicht einfach das Licht an?“ Sie tastete nach dem Lichtschalter neben der Tür, drückte mehrmals, nichts passierte. 

Simon zuckte mit den Schultern und nuschelte: „Deshalb.“

„Habt ihr Kerzen?“

Er deutete in eine Ecke, wo drei fast abgebrannte Kerzen standen. „Romantisch heute?“

Elisa ging in die Ecke und tastete nach der, die am größten war. „Ihr müsst wirklich etwas an eurer Inneneinrichtung tun. Meine Stimme hallt hier drin nach, das ist komisch.“

„Was weißt du schon von Inneneinrichtung?“

„Feuerzeug?“, fragte Elisa. 

Wortlos reichte Simon ihr sein Feuerzeug. 

Elisa ging in die Richtung von Simons Schlafplatz, kauerte sich hin und zündete die Kerze an. Das gelbliche Flackern machte ihr Gesicht weicher als es war, während die Furchen und Schatten im Gesicht von Simon bloß dunkler wurden.

„Hast du heute noch was vor?“, fragte Elisa, während sie ihre Hände in Richtung der Flammen streckte. 

Simon zuckte mit den Schultern. „Denke nicht. Du?“

„Darf ich?“ Sie deutete auf Simons Matratze.

Er nickte, also setzte sie sich im Schneidersitz darauf. Er war froh, dass das Licht so mild war, die Flecken auf der Matratze waren ihm etwas peinlich. Außerdem war er froh, dass Mikey und Frank nicht da waren. Ihm war es immer unangenehm, wie sie auf Elisa herumhackten. Sie roch nun einmal so, wie Obdachlose rochen. Ihm machte das nichts. Er setzte sich neben sie, schob den anfänglichen Würgereflex beiseite und streckte, wie sie es auch tat, seine Hände in Richtung der Flamme.

„Schön, nicht wahr?“, fragte sie. Er konnte ein Lächeln in ihrem Gesicht erkennen. 

„Schätze schon“, antwortete er. 

„Weißt du, wann die beiden zurückkommen?“

Er zuckte mit den Schultern. „Weiß ich nie. Warum?“

Sie nestelte in einer ihren vielen Taschen herum, die ihre dicke Daunenjacke hatte. Sie zog diese Jacke nie aus, auch im Sommer nicht. Frank machte sich oft darüber lustig. „Ist es als Penner nicht ganz schön scheiße, wenn dir immer kalt ist?“, fragte er dann und lachte dreckig. Elisa ging immer darüber hinweg, als ob sie ihn nicht gehört hätte. Simon schätzte, dass ihr ihr eigener Geruch unangenehm und es eine Art Höflichkeitsgeste war, dass sie angezogen blieb, wenn wenn sie in Gesellschaft war – aber er wollte sie nicht fragen. Das wäre mit Sicherheit noch demütigender für sie. In solchen Momenten wollte er Frank immer die Nase brechen. Das war recht einfach, das wusste er.

Sie zog eine Glaspfeife und kleines Plastiksäckchen mit Crack aus der Tasche. Er musste nicht einmal genau hinschauen, um die fleischfarbenen Brocken zu erkennen. 

„Lust?“, fragte sie.

Er schüttelte nur den Kopf. „Der Dreck macht dich dumm.“ Dann griff er hinter sich, hob die Matratze an und holte ebenfalls einen Plastiksäckchen hervor, in dem ein paar von den blauen Kristallen waren, die seit Kurzem überall herumgingen.

„Hier.“ Er reichte ihr die Tüte – eine Geste, die er sich eigentlich nicht leisten konnte. „Das macht alles interessant.“

Sie nickte. „Das blaue Zeug? Viel davon gehört.“ Sie zerstieß das Meth in der Tüte mit Simons Feuerzeug und inhalierte einen kleinen Haufen von ihrer Handfläche. „Danke“, sagte sie. 

„Nicht so viel, stark“, nuschelte Simon. Elisa winkte ab. Dann nahm er eine ähnliche Menge wie sie.

Sie lehnten sich zurück und ließen ihre Blicke durch die Wohnung wandern. Eigentlich war Wohnung ein etwas zu großes Wort für dieses Zimmer mit Küchennische und dem lächerlich kleinen Bad, aber immerhin kostete es so wenig, dass sie es sich zu dritt gerade so leisten konnten und nicht alle drei Monate umziehen mussten. Außerdem wollten die wenigsten so direkt in der Innenstadt wohnen; die Mieten waren günstig und sie meist ungestört. Er mochte es hier. 

„Weißt du, was ich gern tun würde?“, fragte Simon nach einigen Minuten.

„Sag.“

„Eine Pommesbude eröffnen. Nichts besonderes, eben Pommes, halbe Hähnchen, vielleicht Burger. Frittieren. Das kann ich. Glaube ich.“

„Klar kannst du das“, antwortete Elisa.

„Meinst du?“

„Sicher.“

So saßen sie nebeneinander und redeten – niemand konnte sich später mehr daran erinnern, worüber –, bis die Sonne aufging.