Not all those who wander are lost


Seine Kollegen hatten gelacht, als er ihnen beim Mittagessen die Stadtpläne gezeigt hatte, auf denen Textmarker-Linien wie Adern verliefen. Amüsiert waren sie noch gewesen, als er erläutert hatte, dass das Fahrrad eine sehr gut geeignete Fortbewegungsmöglichkeit sei, wenn die Zombies bald kämen. Als er seinen beiden besten (und einzigen) Freunden den Schrank mit den Jagdgewehren, Pistolen, Schwertern, Messern, Macheten und einer Armbrust aufgeschlossen hatte, schlug der Spaß schnell in Besorgnis und Befremdung um. Nach den ersten Berichten hatten sie nichts mehr gesagt. 

In diesem Moment war er unfassbar stolz auf sich gewesen; von Anfang an hatte er gewusst, dass er Recht behalten würde – jetzt waren sie tot. Dachte er zumindest. Aber er war sich ziemlich sicher. Die Gebäude der Stadtwerke waren eine einzige riesige Todesfalle; viel zu leicht zugänglich, viel zu verwinkelt, viel zu viele Türen, Eingänge, Treppen und Leitern. Diejenigen, die nicht sofort zu ihren Familien aufgebrochen waren, wollten unbedingt bleiben; wenigstens die Wasserversorung aufrecht erhalten; sicherstellen, dass nicht die gesamte Infrastruktur kollabierte und ähnlich heroisches Gequassel. 

Er war doch nicht bescheuert. Die Gruppendynamik, die sich damals schon abgezeichnet hatte, musste sowieso im Drama enden. Er hatte genug Filme gesehen, so etwas ging nie gut aus. Nachts hatte er sich davongeschlichen, ohne dass jemand etwas bemerkt hatte. 

Schon als die ersten Berichte im Fernsehen liefen, über unerklärliches Sterben, überfüllte Krankenhäuser und überfülltere Leichenhallen, hatte er gewusst, was geschah. Dass die Medien nicht das zeigten, was eigentlich passierte, war ja klar; das taten sie doch nie. Zwar war die Rede von Massenverbrennungen gewesen, um den Ausbruch von Krankheiten zu vermeiden, doch er hatte sofort durchschaut, dass es eine riesige Verschwörung war. Sie wollten nicht an die Öffentlichkeit lassen, dass die Leichen einfach verschwanden und sie nicht mit ihrer Wissenschaft und ihren klug klingenden Worten erklären konnten warum. Aber er wusste es.

Im Stockdunkeln hatte er sich nach Hause geschlichen, still und effizient wie eine Ratte zum Futter, hatte jeden Moment damit damit gerechnet, angesprungen zu werden; von stinkenden, fauligen, hirnfressenden Untoten. Geparkte Autos, schwarze Seitenstraßen, halb offenstehende Türen, alles wurde zur potenziellen Todesfalle. 

Innerhalb kürzester Zeit war er sich sicher, hypersensitiv Geräusche wahrnehmen zu können; ein Moment, in dem er begann, sich wie ein Wolf auf Jagd zu fühlen. Das flaue Gefühl vom Adrenalin und dem von innen auf seinen Schädel einprügelnden Puls konnte er auf einmal umwandeln und überreizte Aufmerksamkeit und verstärkte Instinkte. Er fühlte plötzlich Veränderungen um ihn herum; Bewegungen, Gerüche und Töne wurden zu Erweiterungen von ihm selbst. Er war von einer primitiven Ursprünglichkeit erfüllt, die er nie zuvor empfunden hatte – allerdings konnte er das nicht in präzise Worte fassen. Er wusste nur, dass irgendetwas plötzlich stimmte; als hätte alles in ihm immer auf bloß eine solche Situation gewartet, als sei seine bisherige Existenz nur bloße Vorbereitung für den Ernstfall gewesen. Er hatte auf einmal Sinn. Er vibrierte förmlich. Ein sehr ätherischer Zustand. 

Als er so still wie nur möglich seine Haustüre hinter sich schloss, wusste er, dass er es geschafft hatte. Er brauchte nicht einmal eine halbe Stunde, um ein paar Habseligkeiten – nichts Sentimentales, kein Platz dafür – im schon längst vorbereiteten Marschrucksack zu verstauen; den Großteil der Zeit nahmen umfassende Bestandsaufnahmen seiner Waffen ein. Entschlossen verriegelte er die Tür, als er ging, und warf den Schlüssel in den nächsten Gulli. Er würde sowieso nie hierhin zurückkommen. 

Mit seinen gewissenhaft durchorganisierten Karten brach er auf. Er sah dabei aus wie ein etwas zu schwer bewaffneter Pfadfinder und er war ähnlich aufgeregt wie ein Achtjähriger auf seinem ersten Campingausflug. Gewehr auf dem Rücken, Pistole an der Brust, Machete am Oberschenkel. Das brutale Pulsieren in seinem Kopf wurde ein wenig abgemildert durch das Wissen, dass er sich jetzt besser verteidigen konnte. Von nun an tat er keinen Schritt mehr ohne eine Waffe in der Hand. Aim for the head. Double tap.

Er hatte gleich gewusst, wohin er wollte. Schleuse Meiderich. Das perfekte Versteck. Abgelegen, aber nicht isoliert. Erhöht, ohne unzugänglich zu sein. Genau richtig. Hier sollte es sich einige Zeit lang aushalten lassen, da war er sich sicher. Wenn er sich sicher war, war es sicherlich eine gute Idee. Auf jeden Fall die 59 vermeiden; nichts war während des Zombie-Holocaust so gefährlich wie Ballungsgebiete. Also stapfte er los.

Schon nach dem ersten Kilometer seiner Wanderschaft spürte er, dass etwas ihn ihm befreit worden war. Er war klar, erfüllt von Leben und einem Sinn für die Gefahr, die ihn umgab. Sicher, da war auch Angst, doch dieser Angst war er Herr. Mit stoischer Ausdauer watete er durch das hohe Gras am Ruhrufer, frischer Wind brachte die Halme leise zum rauschen. Es war so still, dass er die der Vögel über seinem Kopf hören konnte. Leicht verschärftes Atmen durch die Nase, seine dumpfen Schritte, Grasrauschen, vereinzelte Flügelschläge, das Pfeifen des Winds in seinen Ohren, endlos schwappendes Wasser, mehr war nicht. Nur Ruhe. 

Er versuchte, einfach nicht darüber nachzudenken. Hätte er es getan, wäre er vermutlich innerhalb kurzer Zeit wahnsinnig geworden. Er war Dauerbeschallung gewohnt; eine Gewöhnung, von der er sich nicht so schnell lösen können würde. Selbst, wenn es im Büro still gewesen war, hatten Telefone geschrillt, Faxgeräte gezerrt und geknarzt, Tasten geklackert. Menschen verursachten Geräusche und versicherten sich so, ohne es zu merken, kontinuierlich gegenseitig, dass sie nicht allein waren. Doch wie gesagt: Er vermied, darüber nachzudenken. Es war zu beunruhigend. 

Dabei hatte die Stille sich langsam angekündigt als wollte sie, dass er sich an sie gewöhnen konnte. Eine Woche nach den Berichten, die 24 Stunden lang das Fernsehprogramm übernommen hatten wie eine Diktatur, stellten die ersten Sender den Betrieb ein. Nach und nach wurde es leiser, langsamer, dann riss plötzlich alles ab. Kein Informationsoverkill mehr, nur noch statisches Rauschen und Ungewissheit. Niemand mehr, der filmte, vertonte, konferenzschaltete und aufarbeitete, was sowieso nicht aufzuarbeiten war. Wohl oder übel hatte er sich daran gewöhnen müssen, auf sich allein gestellt zu sein. Zum Glück war er vorbereitet gewesen – zwar nicht emotional, auch wenn er das glaubte, aber immerhin praktisch.

Um sich abzulenken, ging er seiner philosophischen Ader nach. Irgendeinen Sinn hatte das Ganze doch bestimmt, natürliche Auslese oder so was. Er war sich ziemlich sicher, etwas über die evolutionär selektive Funktion von Krieg gelesen zu haben – oder gesehen, im Fernsehen, vermutlich eher das –, in seinem Kopf war es irgendetwas über Krieg und würdige Menschen. Viele waren empört gewesen, dass so etwas Furchtbares wie Krieg überhaupt einen Sinn haben sollte, von einer dermaßen weltverzehrenden, allumfassenden Vernichtung ganz zu schweigen. Er hatte nicht verstanden, warum das wieder so kontrovers sein sollte. War doch was dran. Warum sonst sollte er denn sonst noch leben? Irgendetwas musste er ja richtig gemacht haben. 

Nichts Besonderes passierte während der ersten Kilometer seines Fußmarschs. Er wusste nicht, wie lang er unterwegs war. 30 Minuten? 3 Stunden? Seine Uhr hatte er nicht mitgenommen – er musste sowieso lernen, den Sonnenstand zu lesen und ein Zeitgefühl zu entwickeln, das nicht nur in bloßen Stunden strukturiert war. Überleben war sein neues Leben, und dazu gehörte eben auch, die Bequemlichkeit von künstlichen Zeitsystemen zu vergessen. Obwohl er den gesamten Weg vor sich im Blick hatte und problemlos sehen konnte, was einen halben Kilometer vor ihm lag, drehte er sich immer wieder misstrauisch um und ging einige Schritte rückwärts. Man konnte gar nicht vorsichtig genug sein. Bis er einen von ihnen traf, wusste er nicht, wie sich sich verhielten. Waren sie langsam und schlurfend? Konnten sie rennen? Klettern? Sprechen? Hoffentlich nicht. War ein Biss ansteckend? Reichte schon der Kontakt mit Körperflüssigkeiten? War die Seuche parasitär? Viral? Bakteriell?

Die Ungewissheit machte ihn gehetzt und unvorsichtig. Während er wieder einmal rückwärts ging, trat er in eine kleine Vertiefung in der Ufererde. Wild mit den Armen rudernd versuchte er, sein Gleichgewicht wiederzufinden, doch er fühlte, wie sich sein Schwerpunkt mit jedem plumpen Schritt unaufhaltsam weiter nach hinten verlagerte. Zu weit nach hinten. Er streckte seinen Hintern aus, als wolle er sich auf einen Stuhl setzen, und landete schwer und hart auf dem Boden. Im selben Moment fetzte ein unfassbar lauter Knall direkt hinter seinem Rücken durch das Netz aus Stille. Seine Ohren schmerzten plötzlich, er hörte nichts als monotones Fiepen, schmeckte Blut. Der Schmerz vibrierte in seinen gesamten Körper hinein, vom Steißbein und von seinen Ohren ausgehend trafen sich zwei Impulse mitten in seinem Magen mit unerwarteter Wucht. Stark würgte er. Regungslos wie ein Stein saß er einige Sekunden da, wartete, versuchte zu verstehen. Seine Hände begannen, ohne sein Zutun seinen Körper abzutasten. Hier nichts, da nichts. Das Blut kam aus seiner Zunge, auf die er sich beim Aufprall gebissen hatte. Am Hinterkopf brannte es. Vorsichtig taste er. Fühlte sich merkwürdig kahl an. Er blickte auf seine Finger: Dreckig-blonde Haarsträhnen auf braun-rotem Grund. Wieder fassungslose Sekunden. 

Dann drängte sich langsam Rationalität zurück in sein Bewusstsein: Durch den Aufprall hatte sich sein Schuss aus seinem Sauer-Jagdgewehr gelöst, das er auf dem Rücken getragen hatte. Behutsam beugte er sich unter dem Gurt durch, die Beine plump nach vorn ausgestreckt, sodass er aussah wie ein zu großes Kleinkind. Der Lauf war noch heiß. Er starrte die Waffe an. Nicht gesichert. Wie konnte er nur so unvorsichtig sein? Wieder fassungslose Sekunden. Ein Streifschuss. So knapp. Bloß Zentimeter an seinem Hirn vorbei.

Mit einem winzigen routinierten Handgriff (ein Handgriff bloß, wie konnte er nur so unvorsichtig sein?) drückte er den kleinen schwarzen Metallhebel auf dem Lauf nach oben, legte langsam die Waffe wieder um, rappelte sich vom Boden auf, ignorierte den schwachen Schmerzrest in seinem Körper; vor allem am Hinterkopf. Wenn sie jetzt hören konnten... Hektisch ging er weiter, erhöhte immer weiter sein Marschtempo, spürte nach einigen hundert Metern, dass sein Herz raste. Wenn sie jetzt hören konnten- Er hatte seine Position verraten. Ein massiver Nachteil. Ein massiver überflüssiger verzichtbarer Nachteil. Plötzlich blieb er stehen, hockte sich hin, griff gezielt, aber mit zitternden Finger in seine Hüfttasche und kramte eine .30-Patrone hervor, um nachzuladen. Jeder Schuss in der Waffe erhöhte seine Überlebenschancen. Überleben war das Einzige. Er hetzte sich weiter.

Er hatte sich immer noch nicht wirklich beruhigt, als er die Silhouette der Schleuse erkennen konnte. Wie ein klobiger Türrahmen, symmetrisch und beige-braun, wurde sie immer größer, Schritt für Schritt, unerträglich langsam. Er hätte erleichtert sein sollen, doch anstatt dessen wuchs die Anspannung in ihm immer mehr, je näher er seinem Ziel kam. Er wurde langsamer, ging geduckt, schlich fast. Jetzt nur keine Fehler machen. Wie ein Kaninchen drückte er sich durch die hochgewachsenen Büsche am Ufer – nicht mehr viel übrig vom Wolf auf Jagd wie der er sich anfangs gefühlt hatte.

Als seine Hände das rostbraunen Metallgeländer umschlossen und Kälte durch seine Handflächen stieg, kehrte seine Ruhe ein wenig zurück. Er war angekommen. Schwer atmete er durch, grinste verhalten. Wenigstens wusste er jetzt, dass sein Gewehr einwandfrei funktionierte. Definitiv gut zu wissen. Galgenhumor. Mit großen Schritten, zwei Stufen auf einmal, eilte er die Metalltreppen hinauf. Keinen Moment lang zweifelte er daran, hier allein zu sein.