Ralf und Daniel standen am schmalen Weg, der direkt vor dem rotgeziegelten Gebäude entlangführte und rauchten. Beide hatten die Schultern hochgezogen und die Hände in den Taschen ihrer Winterjacken vergraben. Ralf strich mit dem Fuß durch den Raureif auf dem Rasen, bracht dabei ein paar Halme ab.
„Immer, wenn es so kalt ist, weiß ich nicht, ob das mein Atem oder Rauch ist“, sagte er.
„Hm“, machte Daniel zur Antwort.
„Hm?“, fragte Ralf nach.
Daniel schwieg ein wenig mit krauser Stirn, dann sagte er: „Nichts. Ich denke. Tschuldigung.“
„Worüber denkst du nach?“
Daniel strich sich durch seine grau melierten Haare, die bis zu seinen Ohrläppchen reichten, wenn er sie nicht nach hinten gekämmt trug wie gerade. Dann kratzte er seinen immer so sorgsam gestutzten Vollbart, in dem sich ebenfalls einige silberweiße Haare versteckten. „Dies und das, du weiß schon.“
„Jetzt lass dir nicht alles aus der Nase ziehen, mein Gott!“, fuhr Ralf ihn an und klopfte ihm auf die Schulter.
„Was werden soll, wenn ich raus bin. Das Übliche eben, dies und das, hab ich doch gesagt.“
„Was soll schon werden?“, fragte Ralf. „Wir suchen uns irgendeinen mies bezahlten Job und versuchen, keinen Scheiß zu bauen.“
„Leichter gesagt als getan, hm?“
„Hm“, antwortete Ralf und nickte.
„Wartet jemand auf dich?“, fragte er dann.
Daniel schüttelte den Kopf und sie nahmen ein paar stille Züge.
„Hast du irgendetwas in Aussicht?“, fragte Daniel.
„Nicht wirklich. Ein alter Kollege von mir arbeitet in einer Wäscherei, Bettzeug aus Hotels, so ein Kram eben, du weißt schon. Bestimmt zum Kotzen, aber vielleicht kann ich ja da unterkommen. Da bin ich schon überqualifiziert, wenn ich Deutsch spreche!“ Wieder lachte er und schlug Daniel auf die Schulter. „Weißte?“
„Jaja, ich weiß.“ Er hatte keine Lust auf die Richtung, die die Gespräche an diesem Punkt üblicherweise nahmen. „Klingt immerhin besser als nichts. Meinst du, sie nehmen dich?“
„Das will ich doch hoffen!“, sagte Ralf. „Ich werde wohl kaum dreckige Bettwäsche verzocken.“
Daniel musste lächeln; dieses charismatische Lächeln, das ihn schon so oft vor schwerwiegenden Problemen bewahrt hatte.
„Ich denke auch, dass du das schaffst. Ist ja alles halb so wild bei dir.“
„Immer, wenn du so redest, klingst du, als hättest du jemanden umgebracht.“
Daniel lächelte wieder. „Geld ist heiliger als Menschenleben. Weißt du doch.“
Ralf nickte etwas bitter, schnippte seine Zigarette auf den Rasen, wo sie kurz gelb aufleuchtete, bevor sie verglimmte; Daniel tat es ihm nach. Dann steckte Ralf sich die nächste an.
Er hielt die Schachtel Daniel hin und fragte: „Auch noch eine?“
Daniel winkte nur ab und sah konzentriert in die Ferne.
„Kannst du dich nicht irgendwie, was weiß ich, selbstständig machen? Du bist doch ein kluger Kerl.“
Daniel reagierte nicht.
„Ich glaube, viele hier wären froh, wenn sie so viel auf dem Kasten hätten wie du.“
Daniel zuckte mit den Schultern. „Ich denke, ich habe da schon eine Idee, aber ich weiß nicht.“
„Warum weißt du nicht?“
„Es wird lange dauern. Sehr lange. Und es wird eine Menge von mir abverlangen.“
„Über wie lange reden wir?“
„Jahre.“
„Wie viele?“
„30, 40. Mindestens.“
Ralf schnaubte und riss seine leicht gelblichen Augen auf. „Bist du bekloppt? Keine Beleidigung jetzt, aber bist du dir sicher, dass du in 30 Jahren nicht schon längst ins Gras beißt?“
Daniel löste sich aus seinem starren Fokus, sah Ralf an, lachte. „Arschloch!“
Ralf grinste und schlug ihm auf die Schulter. Ein Beamter öffnete die blaue Tür von innen und rief hinaus: „Werdet fertig, Jungs. Essen fassen.“
„Jajaja, sofort, sofort!“, rief Ralf zu ihm herüber und der Beamte verschwand wieder im Gebäude. „Nervensäge“, raunte er verschwörerisch in Daniels Richtung.
„Könnte weitaus schlimmer sein“, antworte Daniel. „Fast wie ein Hotel hier.“
„Aber auch nur fast“, sagte Ralf verächtlich und zog an seiner fast bis zum Filter aufgerauchten Zigarette. „Aber ganz im Ernst: Was hast du denn vor?“
Daniel sagte nichts.
„Reden wir von einem richtigen Job? Oder willst du nochmal studieren oder sowas?“
Nichts.
Plötzlich lachte Ralf. „Du unverbesserlicher Bastard!“ Gerade, als er Daniel wieder auf die Schulter schlagen wollte, löste sich dieser aus seiner Apathie.
„Komm, wir gehen.“
Ohne ein weiteres Wort ging er in Richtung der blauen Türe. Ralf sah dabei zu, wie er sie öffnete, ihn einmal ansah, mit den Schultern zuckte und das Gebäude betrat. Sollte er doch pünktlich sein, wenn ihm die Meinung der anderen so wichtig war. Ralf warf die Kippe vor seine Füße, trat sie aus und steckte sich die dritte an.