Wilhelm hatte von allem nichts mehr mitbekommen. Das tröstete sie ein wenig. Ihr gegenüber saß er da, den Kopf zur Seite gesunken, den Mund halb offen, die Augen ebenfalls, zusammengefallen wie eine vertrocknete Pflanze.
„So kann’s gehen“, sagte sie leise in den Wohnraum hinein und ihre Stimme hallte leise wider. Seit einigen Stunden wusste sie, wie junge Leute den Geruch von alten Menschen wahrnahmen.
Die Pfleger waren einfach eines Morgens nicht mehr wiedergekommen. Gitta, die mit ihrem Rollator noch recht gut zu Fuß war, hatte versucht, irgendjemanden per Telefon zu erreichen, doch die Telefone funktionierten nicht. Im ganzen Haus nicht, wie sie gesagt hatte, bevor sie zusammengebrochen war. Stress vermutlich.
Nach und nach war das Altenheim leerer geworden. Bloß einer, ausgerechnet der weißhaarige, dicke Hans mit dem schlecht sitzenden Gebiss, hatte sie gefragt: „Soll ich dich mitnehmen, Käthe?“
Sie hatte nur mit dem Kopf geschüttelt. Es hätte doch sowieso nichts gebracht; sie wollte niemandem im Weg sein. „Lass mir nur den Wilhelm hier“, hatte sie gesagt. Wilhelm hatte niemanden mehr und alles da draußen hätte ihm nur Angst gemacht.
Seit einigen Stunden schon versuchte sie, aufzustehen. Hunger und Durst waren überwältigend stark geworden und drängten sie aus dem Sessel, während dieser Umstand gleichzeitig dazu führte, dass sie noch weniger Kraft hatte als sonst. Sie verfluchte das Altsein in diesem Moment. Aber sie konnte doch nicht bloß hier sitzen und auf den Tod warten. Nicht so.
Es dauerte noch gute 40 Minuten, bis sie endlich auf zitternden, dürren Beinen stand wie ein neugeborenes Reh. Systematisch und extrem vorsichtig, um nicht zu stürzen, hielt sie sich an allem fest, wonach ihre mageren Hände greifen konnten, und bewältigte ihren Weg in die Küche, einen Schritt vor den anderen, in nicht einmal 20 Minuten. Sie war sehr stolz auf sich, als sie sich gegen die Arbeitsfläche lehnte und beschloss trotz des Pochens an beiden Hüftseiten und der knirschenden Knie, stehenzubleiben – allein aus logistischen Gründen.
Nachdem sie etwas getrunken hatte – ganze zwei Gläser Wasser aus dem Wasserhahn, köstlich kühl und frisch und klar –, tat sich gleich das nächste Problem vor ihr auf. Sie musste etwas essen, doch alles im Kühlschrank war verdorben und die Nahrung, die nicht so leicht verderblich gewesen war, befand sich in Konserven. Für Konserven benötigte sie einen Dosenöffner und obwohl sie wusste, wo dieser war, waren da eben ihre steifen Finger.
Es dauerte weitere 20 Minuten, bis sie, halbe Drehung um halbe Drehung, eine Dose mit Suppe geöffnet hatte. Sie hatte sich eine besonders große ausgesucht – der Aufwand sollte sich ja auch lohnen. Zum Essen beschloss sie, auf einen Löffel zu verzichten. Man musste es sich ja nun wirklich nicht unnötig schwerer machen.
Nachdem sie sich endlich gestärkt hatte, was dringend nötig gewesen war, stakste sie zurück in den Wohnraum; dieses Mal brauchte sie bloß 15 Minuten. Sie stützte sich an dem großen Fenster neben der Schiebetüre ab und sah in den Innenhafen.
Alles lag da wie immer, ruhig und fast idyllisch. Das machte ihr am meisten Sorgen. Dass irgendetwas Großes passiert war, dafür musste man nun wirklich kein Experte sein. Da draußen war niemand, hier war niemand, und vermutlich sah das überall so aus. Was sie so verstimmte, ihr Angst machte, war die Tatsache, dass sie nicht einen Hinweis fand, was passiert war.
Die Trümmer von früher, an die sie sich immer noch so genau erinnern konnte, obwohl sie ein Kind gewesen waren, waren furchtbar gewesen, die Zerstörung schien ihr endlos damals und erschien ihr auch heute noch so, aber diese verdammten Trümmer hatten wenigstens gezeigt, dass die Bomben gefallen war, dass erst einmal Ruhe war für kurze Zeit, dass man vielleicht sogar wieder anfangen konnte, aufzubauen, vielleicht sogar, nur vielleicht, dass es vorbei war.
„Immer den Kopf unten halten, Käthe!“, hatte ihre Mutter wieder und wieder gerufen. „Immer den Kopf unten halten!“ Die Vibrationen hatten sie alle bis ins Mark erschüttert.
In diesem Moment hatte sie gedacht, dass es nie aufhören würde, dass sie bis zum Ende der Zeit im staubigen Keller hocken würde, den Kopf unten, die Arme darüber zusammengeschlagen, um dem Lärm zu entkommen und einfach zu vergessen, wo sie gerade war, obwohl sie sowieso wusste, dass sie das nicht konnte und sie wünschte sich selbst weg von diesem Ort und ihre Familie und alle anderen und raus aus diesem Pfeifen, Krachen, Knallen, Schreien, Rattern, Knirschen, Trümmern, Weinen, Pochen, Rumpeln, Donnern, Jammern, Jaulen, Bluten, Heulen, Zucken, Blitzen, Sterben-
„So kann’s gehen.“
Es war furchtbar gewesen. Aber irgendwann hatte es aufgehört. Seitdem hatte sie jeden Tag damit gerechnet und war jeden Abend froh um einen weiteren, ruhigen Tag gewesen und hatte gewusst: Selbst wenn die Kriege nicht wie Gletscher kommen würden, war da immer noch der schlichte, alte Tod. Es war furchtbar. Furchtbar und eindeutig.
Doch das da draußen? Sie schauderte. Das war ein lauerndes Nichts. Nichts als nichts.