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Wir betraten den großen Gastraum der Kantine von de Grevelinge wie schon zigmal zuvor. Normalerweise geht dann allerdings über den Pappeln die Sonne unter. Jetzt stand sie hoch am Himmel, und sie würde im Süden noch ein bisschen höher steigen.

Der alte Holzraum ist nie hell gewesen, aber jetzt wirkte er noch einen bisschen düsterer als sonst, obwohl draußen heller Tag war – vielleicht weil die Stecker der Spielautomaten nutzlos neben den Steckdosen lagen. An diesem Freitagvormittag sah die Kantine nur beinahe so aus wie an einem ganz normalen Abend. Kein dunkles Bier floss schäumend aus Edelstahlhähnen. Und es war merkwürdig still. Kein Klacken von Billardkugeln war zu hören. Die großen Lautsprecherboxen gaben keinen Ton von sich. Selbst die Menschen am Tresen und an den Tischen waren still.

Johnny war zwar mit Wim hinter dem Tresen, aber beide waren nicht geschäftig wie sonst. Sie saßen auf ihren Barhockern nur ruhig da, denn die Leute auf der anderen Seite des Tresens waren heute keine Gäste. Niemand musste bedient werden.

An den drei hohen Tischen saßen, auch auf Barhockern, Bram van Buyten mit seiner Frau, Isabelle Rimmel, Anouk Gerritsen, die Bedienung in der Kantine, Gerd und Uschi Balkenhol sowie Adi und Babette Schreiner. Nun kamen noch Gaby, Lothar, Anne und ich dazu.

Am Tresen standen Derrick und Harry: der Inspecteur und seine Assistentin. In der Ecke saß ein Mann, den ich nicht kannte, ein sehr blasser Mann im dunklen Anzug.

Lothar fragte so leise, wie ich ihn noch nie sprechen gehört hatte: »Hast du eine Ahnung, was wir hier sollen?«

»Nee, überhaupt nicht«, flüsterte ich zurück. »Warum sind gerade diese paar Menschen hierher bestellt worden? Es sind zweitausend Leute auf dem Campingplatz. Wo sind die ganzen anderen?«

Die Schwingtür ging noch einmal auf, der hagere blonde Mann, der Freund von Andrea Heinrichs, Erwin Herkrath, betrat den Raum. Er sah sich um, fand den leeren Hocker neben Isabelle und setzte sich. Er fingerte ein Päckchen Zigaretten aus der Hosentasche und zündete sich eine an. Ich saß drei Meter entfernt, aber ich nahm den Duft der brennenden Zigarette sofort wahr. Verdammt, ich würde niemals wirklich Nichtraucher werden.

Anscheinend war die Runde jetzt komplett, denn die Polizistin, die bisher mit dem Rücken zu uns am Tresen gesessen hatte, schloss ihr Notizbuch und wandte sich uns zu.

Der Inspecteur rutschte von seinem Barhocker, er ging vor der Theke einmal auf und ab und ließ dabei seinen Blick über die Anwesenden gleiten. Dann lehnte er sich gegen die Theke, massierte mit Zeige- und Mittelfinger der rechten Hand seine Schläfe und begann eine seltsame Predigt:

»Die Halbinsel Walcheren ist nicht entstanden, als der liebe Gott die Erde erschuf. Sie ist eine Polderlandschaft. Es war der liebe Niederländer, der Walcheren erschuf, weil ihm der liebe Gott nachts im Traum erschienen war und ihm mitgeteilt hatte, dass er damals am dritten Tag einen ganz besonderen Teil der Schöpfung vergessen hatte, und das müsste jetzt dringend nachgeholt werden. So ist durch einen Tipp vom lieben Gott und durch viel harte Arbeit eine Landschaft entstanden, wo Menschen und Tiere, Bäume und Blumen friedlich miteinander leben konnten.«

Es war kaum zu fassen, wie ruhig es plötzlich in der Kantine geworden war. Der pastorale Klang der Stimme des Inspecteurs ließ jedes Gespräch verstummen. Jetzt wurde die Stimme noch leiser. »Ich sagte: friedlich miteinander! Wissen Sie, ich liebe diese Küste. Ich bin hier geboren, und ich nehme es schlichtweg nicht hin, dass irgendwer auf die Idee kommt, man könnte diese malerische Landschaft auch mal als Kulisse für eine Bluttat missbrauchen. Irgendwer hier in der Runde glaubt, er ist am Ende des Tages unbeschadet davongekommen. Ich kann Ihnen eines versichern: Ich glaube das nicht.« Er räusperte sich. »Coen Rimmel war mein Freund. Er war ein Mensch, der mit seiner Frau eine glückliche Ehe führte. Er hatte einen Beruf, der ihn ausfüllte, und er wurde von allen gemocht – von fast allen, wie wir heute wissen. Bis man ihm am letzten Samstag, an diesem verhängnisvollen Samstag, ein Seil um das linke Bein band. Er wurde mithilfe eines Flaschenzuges an die Decke des Waschhauses gezogen, bevor sein Kopf in die Edelstahlwanne der Porta-Potti-Entsorgungsstation gesenkt wurde, sodass er in der widerlichen Brühe ertrinken musste. Vorher wurde ihm mit einem stumpfen Gegenstand der Schädel zertrümmert, und zwar genau so, dass er bewusstlos war, aber noch nicht tot.«

Ein leises Murmeln war im Raum zu hören. Der Inspecteur begann wieder auf und ab zu gehen, immer an seinem »Publikum« entlang.

»Erst nach dem Tod kommt der Polizist ins Spiel«, sagte er, »das Verbrechen ist schon geschehen. Das ist das Blöde an unserem Job. Wir können nichts verhindern, wir können nur zwei Fragen beantworten. Meist ist die erste Frage Voraussetzung für die zweite. Die erste Frage lautet: Wer hatte ein Motiv? Die zweite ist dann: Wer war der Mörder?«

Wieder folgte eine Pause, jetzt waren nicht einmal mehr Atemzüge zu hören.

»Coen war der Chef der Kantine hier auf de Grevelinge. Viel Arbeit, viel Umsatz, aber nur im Sommer, an ein paar sonnigen Wochenenden und in den Osterferien. Reichtümer konnte er sicher nicht ansammeln. Wirtschaftliche Motive scheiden aus, denke ich. Aber Eifersucht braucht kein Geld. Herr Westerbeck, sind Sie eifersüchtig?«

»Aber hallo!«, sagte Lothar.

»Und wenn jemand Ihrer Frau, wie sagt man so schön, an die Wäsche ginge, dann würden Sie …«

Lothar schaute grimmig drein. »Dann würde ich mir den vorknöpfen!«

»Und wie würde so was aussehen?«, fragte der Inspecteur.

»Na, ich würde den zur Rede stellen und ihm sagen, er soll die Finger von Gaby nehmen, sonst …«

»Sonst was?« Der Inspecteur lächelte schmal.

»Sonst …«, Lothar überlegte, »… könnte ich verdammt ungemütlich werden.«

»Anouk, wie ungemütlich kann der Herr Westerbeck werden?«

Anouk Gerritsen saß auf einem Barhocker am linken Stehtisch, in der Nähe des Ausgangs, zusammen mit Bram van Buyten und Isabelle. »Nun …«, sagte sie, »… er hat den Coen am Pullover gepackt, ihn geschüttelt und geschrien: Ich hau dich unangespitzt in den Boden, Kollege, ich bring dich um!«

»Haben Sie das so gesagt, Herr Westerbeck?«

Lothar war sichtlich nervös. »Ja, das habe ich wohl gesagt, aber das habe ich …«

»Mehr möchte ich im Moment nicht von Ihnen wissen. Danke, Herr Westerbeck.«

Lothar sah aus, als hätte er nicht übel Lust, den Inspecteur auch mal eben unangespitzt in den Boden zu hauen.

Der wandte sich Babette zu. »Frau Schreiner, sind Sie von Beruf auch Polizistin?«

»Nein, ich arbeite bei der Stadtsparkasse in Köln«, antwortete Babette verwundert.

»Ach, dann ist die Detektivspielerei nur Ihr Hobby?«

»Ich spiele nicht Detektiv«, widersprach sie. »Ich habe durch Zufall etwas herausgefunden. Fragen Sie mal den netten Herrn van Buyten.«

»Das habe ich schon getan. Wim, hat Bram van Buyten das Gespräch mit dir gesucht?«

Wim sah zu seinem Steuerberater hinüber. »Ja, das hat er, und das ist auch noch nicht ausdiskutiert.«

Babette schien entsetzt, dass der Inspecteur jetzt nicht Bram van Buyten ins Gebet nahm. »Ja aber …!«, rief sie.

»Warum haben Sie sich denn so in die Ermittlungen gestürzt?«, fragte der Inspecteur. »Ist es nicht so, dass Sie in erster Linie wollten, dass kein Verdacht auf Ihren Mann fällt?«

Babette war erstarrt. »Nein, ich …«

»Was war da los an Pfingsten? Fünf Frauen verbringen ohne ihre Ehemänner ein Wochenende an der Nordsee. Sie flirten auf Teufel komm raus! Und dann fiel der entscheidende Satz. Wie lautete der, Frau Balkenhol?«

»Coen sagte: Ich hoffe, ihr hattet alle schöne Tage in Holland. Eine von euch hatte jedenfalls eine wunderbare Nacht mit mir.«

Anouk lachte laut auf. Doch wenn die Gemeinde andächtig dem Pfarrer lauscht, lacht man nicht. Alle Blicke richteten sich auf die junge Frau mit dem kurz gelockten dunklen Haar, deren gelbes Poloshirt mit Rückenaufdruck sie als Mitarbeiterin von de Grevelinge auswies. Anouk schaute überrascht in die Menge: »Was gucken Sie so? Das ist nun wirklich zum Lachen. Da haben also fünf Weiber einen Zickenkrieg veranstaltet, und fünf Kerle waren eifersüchtig wegen Coens berühmtem Eine von euch hatte jedenfalls eine wunderbare Nacht mit mir! Das war ein Spiel! Coen konnte sehr verschwiegen sein, sehr diskret. Also, wenn er euch gesagt hat, dass er eine wunderbare Nacht hatte, dann könnt ihr sicher sein, die Frau saß nicht mit am Tisch!« Sie lachte wieder.

Der Inspecteur blickte in die Runde. »Wim, hast du was gegen die Ehe von Isabelle und Coen gehabt? Isabelle, war eure Ehe glücklich? Anouk, haben Sie sich mal mit Ihrem Chef gestritten? Ich will jetzt auf keine dieser Fragen eine Antwort. Ich will nur eins festhalten: Es gibt keine Zeugen, es gab keine Fingerabdrücke, keine DNA-Spuren. Und alle hier im Saal haben ein Motiv – für den ersten Mord.«

Der blasse Mann im grauen Anzug an der Seite des Tresens räusperte sich.

»Vielleicht kennen Sie Arie Tromp noch nicht.« Der Inspecteur zeigte auf den Unbekannten. »Er ist der zuständige Gerichtsmediziner. Ja, Arie?«

Arie Tromp stand auf – ein unnötiges Unterfangen, denn sitzend auf dem Barhocker war er genauso groß gewesen. »Ich denke, wir können die Frauen ausschließen. Rimmel war ein großer, kräftiger Mann, und er wurde durch einen Schlag auf den Kopf außer Gefecht gesetzt. Wir sollten uns darum auf die Männer konzentrieren.«

Der Inspecteur blickte scharf in Tromps Richtung. »Im Gegenteil! Wir sollten uns besonders auf eine Frau konzentrieren. Auf Andrea Heinrichs, das zweite Opfer. Arie?«

Der Gerichtsmediziner nickte. »Der zweite Mord gleicht dem ersten wie ein Ei dem anderen. Der Schlag mit einem stumpfen Gegenstand, die Ohnmacht, das Seil, der Tod durch Ertrinken. Wir können davon ausgehen …«

»Überlass die Schlussfolgerungen bitte mir«, unterbrach ihn der Inspecteur.

Der Pathologe schien beleidigt. Zwischen zusammengebissenen Zähnen knurrte er etwas auf Holländisch, das so klang, als wolle er verdammt noch mal wissen, was er hier sollte, wenn er nichts sagen durfte.

»Der zweite Mord sah also genauso aus wie der erste«, fuhr der Inspecteur fort. »Wieder der Schlag auf den Hinterkopf, wieder ertrunken, ach ja, und wieder dieses Seil. Arie?«

Der blasse Mann atmete genervt aus. »Ich habe an der Druckstelle, wo sich die Schlinge um das Bein zugezogen hat, Salzspuren auf der Haut entdeckt und daraufhin das Seil überprüft. Es ist früher mit Salzwasser in Berührung gekommen.«

»Das Seil war eine Festmacherleine, wie sie von Seglern benutzt wird. Herr Lehnen, Sie sind Segler.«

Ich war erschrocken. Ich hatte ihm zugehört, und ich hatte mich in der Rolle des Zuhörers gesehen. Aber gerade hatte mich der Inspecteur direkt angesprochen. »Ääh, wie bitte? Segler? Ja natürlich! Wir haben seit sechs Jahren einen kleinen Kajütkreuzer auf dem Veerse Meer! Wir teilen uns das Boot mit …«

»Die Besitzverhältnisse interessieren mich im Moment weniger. Der stumpfe Gegenstand, mit dem die beiden Opfer niedergeschlagen worden sind, könnte zum Beispiel ein Paddel gewesen sein. Haben Sie ein Paddel an Bord?«

Ich musste wohl oder übel nicken. »Ja, jeder Segler hat ein Paddel an Bord, falls der Außenborder ausfällt. Das passiert leider öfter, als mir lieb ist.«

»Und jeder Segler benutzt eine Festmacherleine. So eine wie diese hier?« Der Inspecteur zog ein Stück Seil aus der Tasche.

»So in etwa, aber …«

»Wird diese Festmacherleine nass?«

»Jedes Seil an Bord wird nass, vom Regen, vom Meer …«

»Kommt die Leine mit Salzwasser in Berührung?«

»Sicher!«

»Segelt hier im Saal sonst noch jemand?«

Stille. Ein paar Augenblicke später erklang Wims Stimme. »Ich kann segeln, aber ich habe es seit Jahren nicht mehr gemacht. Im Sommer, wenn das Wetter entsprechend ist, ist der Campingplatz voll, und ich komme nicht dazu.«

Der Inspecteur schaute noch einmal in die Runde, aber niemand sonst meldete sich.

Das durfte doch wohl nicht wahr sein! Jetzt war ich plötzlich verdächtig, nur weil ich gerne mit einer kleinen Jolle über das Veerse Meer schipperte. Das machten tausend andere auch! »Ich habe ganz ehrlich …«

»Würden Sie bitte nur dann reden, wenn Sie gefragt werden? Danke. Wir sind hier nicht im Deutschen Parlament.«

Anne legte mir die Hand auf den Arm. Ich hasste diesen aufgeblasenen Inspecteur.

»Arie, was war mit dem Knoten?«

»Es war ein Palstek, ein Seglerknoten«, sagte der Gerichtsmediziner.

»Herr Lehnen, würden Sie mir so einen Palstek bitte mal vorführen?«

Ich machte einen Palstek in das Stück Festmacherleine und ärgerte mich darüber, dass meine Finger dabei zitterten. Er nahm das Seil zurück und gab es Anne. »Ziehen Sie bitte mal die Schlinge zu, Frau Lehnen.«

Anne nahm das Seil und zog an der Schlinge. »Das ist das Auge, Herr Inspecteur, und das Auge eines Palstek zieht sich auch unter Belastung nicht zusammen.«

Anne ist schon in der Segelschule besser gewesen als ich. »Wenn es also ein Palstek war, mit dem das Seil um das Bein geschlungen war«, sagte sie, »dann hat sich die Schlinge sicher nicht zugezogen.«

Die Augen des Inspecteurs waren nur noch Schlitze. Er sah aus, als wäre er von einem plötzlichen Kopfschmerz übermannt worden, als er sich an Anne wandte. »Ich möchte auch Sie bitten, die Schlussfolgerungen mir zu überlassen. Dennoch haben Sie vollkommen recht. Wir suchen also nicht einen Segler, wir suchen jemanden, der wollte, dass wir einen suchen.«

Arie Tromp war aufgestanden und hatte das Seil genommen. Er betrachtete es. »Ich bin kein Segler, aber so ähnlich sah der Knoten aus. Ich habe ihn nur mit den Bildern in einem Buch verglichen, aber wie gesagt, das ist nicht mein Gebiet.«

»Schon gut, Arie.« Der Inspecteur setzte sich auf seinen Barhocker, ergriff das Notizheft seiner Assistentin und wechselte unvermittelt das Thema. »Wie viel Zeit ist vergangen zwischen dem Schlag auf den Kopf und dem Tod durch Ertrinken?«

Der Gerichtsmediziner hatte sich auch wieder auf seinen Barhocker verzogen. »Das kann man nicht genau sagen. Eine halbe Stunde vielleicht.«

»Nicht länger?«

»Vielleicht eine Stunde. Mehr nicht, es waren keine Verkrustungen zu erkennen.«

Der Inspecteur blickte Gerd an. »Balkenhol?«

Gerd schüttelte entschieden den Kopf. »Mindestens zwei Stunden, vielleicht zweieinhalb. Zumindest bei der toten Frau.«

Tromp sprang auf. »Wie kommen Sie darauf?«

»Ich habe ein leichtes Brillenhämatom bei Frau Heinrichs festgestellt«, erklärte Gerd, »also muss sie nach dem Schlag noch einige Stunden gelebt haben.«

»Ich habe kein solches Hämatom diagnostiziert.« Arie schien verwundert. »Was erlauben Sie sich eigentlich? Was glauben Sie, mit wem Sie hier reden? Ich bin Pathologe, ich bin nicht irgendwer. Wollen Sie mir etwas anhängen? Na los! Nur um das festzuhalten: Zum Todeszeitpunkt der zweiten Leiche saß ich mit dir, Piet, im Rooie Oortjes. Es hat also gar keinen Sinn, mir hier irgendetwas in die Schuhe zu schieben.«

Der Inspecteur nickte mehrmals und ging zum Tisch von Bram van Buyten, er nahm eine Zigarette aus der Schachtel des hageren blonden Mannes und zündete sie an. »Wann war der Todeszeitpunkt bei Frau Heinrichs, Arie?«, fragte er.

»Zwischen dreiundzwanzig Uhr dreißig und ein Uhr dreißig. Steht alles in meinem Bericht.«

Der Inspecteur drehte sich um. »Balkenhol?«

»Zwischen zwei Uhr und vier Uhr Dienstag früh!«

Tromp war außer sich. »Und woher wissen Sie das, verdammt noch mal? Hat die Frau Ihnen das noch kurz erzählt, als Sie sie gefunden haben?«

»Ich habe ein Nomogramm nach Henßge durchgeführt«, sagte Gerd. »Vor Kurzem hatte ich einen interessanten Bericht darüber gelesen, deshalb ist das Programm auf meinem Laptop.«

»Und mit welchen Werten wurden die Berechnungen durchgeführt? Haben Sie die Leiche untersucht?«

Der Inspecteur unterbrach ihn. »Ich habe Herrn Balkenhol mit allen notwendigen Daten versorgt, sie standen in deinem Bericht. Umso erstaunlicher ist, dass die errechneten Zeitpunkte so weit auseinanderliegen. Dafür muss es einen Grund geben. Warum ist so viel Zeit zwischen der Schädelfraktur und dem Ertrinken vergangen? Sicher kein Zufall. Oder, Annemieke?«

Die Assistentin blätterte in ihrem Moleskine-Buch: »HoofdInspecteur Coleta Pfennigs vom Drogendezernat in Rotterdam hat uns mitgeteilt, dass Gamma-Hydroxy-Butyrat, besser bekannt als Liquid X oder Liquid Ecstasy, einen Menschen leicht außer Gefecht setzen kann. Es kann zur Ohnmacht führen und schließlich zum Tod. Das ist das Problem bei dieser Droge. Es werden eine Menge Fehler bei der Dosierung gemacht. Wenn der Mensch nach der Einnahme noch zwei Stunden lebt, ist der Stoff im Körper praktisch nicht mehr nachweisbar.«

Der Inspecteur stand jetzt direkt vor dem Pathologen. »Ich kann dir sagen, was passiert ist. Du hast Coen dieses Zeug ins Bier gemischt. Du hattest sicher keine Probleme mit der genauen Dosierung. Als er wehrlos war, konntest du diesem großen, kräftigen Mann den Schädel zertrümmern, um dann in Ruhe auf einen passenden Moment zu warten, um ihn unbemerkt ins Waschhaus zu bugsieren.«

»Das ist doch dummes Zeug«, sagte Arie. »Warum sollte ich das denn tun? Wo ist denn das Motiv?«

Der Inspecteur sah Isabelle an. »Hat Arie dich kurz vor der Tat aufgesucht?«

»Ja. Er … er hatte mich gefragt, ob ich wüsste, dass Coen nicht treu ist? Aber das hatte ich doch …«

»Wie hast du reagiert?«

»Ich habe gelacht.«

Der Inspecteur wandte sich wieder an den Pathologen. »Sie hat dich ausgelacht, nicht wahr, Arie? Du wolltest ihr einen großen Gefallen tun. Du wolltest die Sache aufklären, um ihr das Glück zurückzugeben, nicht wahr? Und sie hat gelacht!«

Arie nickte. »Sie hat gesagt, das wäre ihr egal, sie würde es ja auch tun.«

»Und damit war das Thema für dich erledigt, ja?«

»Ja natürlich«, sagte der Mann mit dem blassen Gesicht ruhig. »Das ging mich doch nichts an.«

Isabelle war aufgesprungen und stürzte auf den Gerichtsmediziner zu. Sie war außer sich. »Ich habe gesagt, ich gehe doch auch fremd – nur nicht mit dir! Du bist ein Mörder, Arie Tromp! Du hast Coen umgebracht!«

Tromps Gesicht war wie versteinert, aber unter der Oberfläche brodelte es, das merkte man deutlich. »Nein, das habe ich nicht. Warum auch? Und warum der zweite Mord? Um Himmels willen, merkt ihr denn nichts? Da sprechen vielleicht ein paar Indizien gegen mich. Ja, ich war ein bisschen nachlässig, als ich die Leichen untersucht habe. Aber ich bringe doch niemanden um!«

»Sie hat dich ausgelacht, und du hättest sie am liebsten getötet. Nicht wahr?«

»Isabelle?«, schrie Tromp. »Nein!«

»Genau«, wiederholte der Inspecteur ruhig. »Isabelle? Nein!«

Er legte Isabelle eine Hand auf die Schulter und führte sie zurück an ihren Platz. »Isabelle? Nein! Auch wenn dir danach zumute war. Die konntest du nicht umbringen, du liebst sie doch.«

Tromp sah den Inspecteur flehend an. Seine Augen waren weit aufgerissen. Sie schrien: Hör auf!

Aber der Inspecteur sprach weiter. »Coen! Den konntest du umbringen, die arme Andrea Heinrichs auch, und sie aus dem widerlichsten Grund, den man sich vorstellen kann. Denn es gab keinen! Du wolltest nur eine falsche Fährte legen, dir ein falsches Alibi verschaffen, Zeit gewinnen. Mit ihr hatte das nicht das Geringste zu tun.«

Der Gerichtsmediziner war in sich zusammengesunken. »Arie Tromp, ich nehme dich fest, weil du im dringenden Tatverdacht stehst, Coen Rimmel und Andrea Heinrichs umgebracht zu haben. Agent Munniks, schaffen Sie ihn hier raus. Ich kann diese verlogene Visage nicht mehr sehen!«

Der Polizist führte den Pathologen zum Auto. Hätte es eine Überwachungskamera in der Kantine gegeben, hätte man glauben können, jemand hätte den Monitor auf Standbild geschaltet. Nachdem der Polizist den Pathologen abgeführt hatte, bewegte sich niemand.

Es kam mir wie eine Ewigkeit vor, bis die Polizistin endlich aufstand und sagte: »Danke! Wir brauchen Sie nicht mehr. Sie können gehen.«

Wie benebelt trotteten wir zum Ausgang. Die Sonne blendete mich, und ich legte eine Hand über die Augen. Draußen war es unglaublich hell. Die Mittagssonne stand an einem Himmel, dessen Blau von drei kleinen Schleierwolken verziert wurde. Es war ein herrlicher Julitag geworden.