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Anne fuhr den schwer beladenen A6 vom Strandparkplatz zu Camping de Grevelinge. Es war eine prima Idee gewesen, direkt zum Strand zu fahren. Wenn wir erst noch ausgeladen hätten, die Sitzgruppe nach draußen gestellt, Kaffee gekocht, die Nachbarn begrüßt, dann wären wir an diesem Tag sicher nicht mehr ans Meer gekommen.

Und wenn wir doch noch erst ausgepackt und dann an den Strand gefahren wären, hätten wir es bestimmt nicht geschafft, zurückzukehren, bevor der große Zeiger die Elf erreicht. Das ist aber eine Uhrzeit, die jedem de Grevelinge-Camper in Fleisch und Blut übergegangen ist. Nach elf Uhr abends kann man den Campingplatz zwar noch betreten, aber nicht mehr befahren. Dann ist die Schranke zu! Und wer will schon die frische Bettwäsche, die neuen Kopfkissen, den Aufschnitt, den Kaffee, die Flasche Wein und all die anderen Dinge, die man noch an diesem Abend im Wohnwagen brauchen würde, unter dem Arm zum Stellplatz tragen!

Durch die spontane Idee, gleich als Erstes an den Strand zu gehen, hatten wir gut drei Stunden Zeit gutgemacht. Diese drei Stunden hatte ich genutzt, mit dem Ergebnis, dass Anne nun den Wagen fuhr.

Punkt 22:48 Uhr waren wir an der Schranke. Immerhin! Schon eine Viertelstunde später hätten wir den Wagen draußen abstellen müssen.

Gleich würden wir frische Bettwäsche aufziehen, die Kopfkissen drapieren, den Kühlschrank anschließen, den Aufschnitt darin lagern, die Flasche Wein öffnen und den Urlaub ein zweites Mal beginnen.

Anne schob die Karte mit dem Strichcode in den Kartenleser und die Schranke öffnete sich. Normalerweise fliegen jetzt im Fond zwei Türen auf, und die Kinder sind verschwunden. Die kommen nur noch zum Essen nach Hause. Okay, es sind meine Kinder. Sie kommen oft.

Heute blieben die Türen geschlossen. Es war eben ein harter Tag gewesen.

 

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Fünf Stundenkilometer sind die Höchstgeschwindigkeit auf de Grevelinge, und wenn man schon mal gedankenverloren mit der halsbrecherischen Geschwindigkeit von acht Stundenkilometern vor einem dreiradfahrenden Vierjährigen eine Vollbremsung vollführen musste, dann weiß man, dass fünf Stundenkilometer völlig okay sind.

»Was ist denn da los?«, fragte Edda plötzlich und ließ das Fenster herunter. »Da ist Blaulicht! Da ist irgendwas passiert!«

»Cool! Halt mal an!«, rief Tristan.

Anne hielt an. »Wahrscheinlich ist das irgendein Notarztwagen. Wir fangen jetzt nicht an zu gaffen!«, mahnte sie.

»Das ist kein Notarztwagen, das ist ein Polizeiauto!« Tristan öffnete die Tür, und Edda folgte seinem Beispiel.

Ich schaute zu Anne hinüber: »Kannst du schlafen, wenn du nicht weißt, was hier los ist?«

»Wohl nicht«, gab sie zu.

Auf de Grevelinge darf man seinen Wagen nicht direkt neben dem Stellplatz parken, und das ist auch gut so. Wenn der Himmel im Frühjahr oder im Herbst seine Schleusen öffnet, kommt es durchaus vor, dass die Drainage überfordert ist. Die Reifenspuren würde man aus den Stellplätzen nie wieder rausbekommen. Die Autos stehen daher auf extra dafür vorgesehenen Parkplätzen, die mit Muschelkalk bestreut sind.

Anne lenkte den Wagen auf einen solchen Parkplatz und drehte den Zündschlüssel nach links. In diesem Moment ging auch das Blaulicht aus. Wir stiegen aus und blickten auf die riesige Menschenmenge, die dicht gedrängt stand wie beim Kölner Rosenmontagszug.

»Was ist denn hier los?«, fragte ich.

»Da ist einer umgebracht worden«, ertönte hinter mir eine bekannte Stimme.

»So ein Blödsinn!« Ich drehte mich um.

Lothar streckte mir die Hand entgegen. »Na?«, fragte er. »Endlich Urlaub? Fängt ja gut an.«

Lothar ist seit fünf Jahren unser Nachbar. Er ist ein drahtiger Mann mit grau meliertem Bart. Sein Äußeres bringt einen nicht direkt auf die Idee, dass er ein sympathischer Typ sein könnte. Doch das ist er. Ein verdammt sympathischer Typ. Lothar läuft gern, und auch das sieht man ihm nicht wirklich an. Aber wenn man ihn laufen sieht, verliert man das Vertrauen in althergebrachte Athletenmuster. Beim Volleyballspielen letztes Jahr hatten wir ihn »Killerplauze« genannt, er schob nämlich einen beträchtlichen Kugelbauch vor sich her, aber er tat das in einer enormen Geschwindigkeit.

»Einer ist umgebracht worden? Wer?«

»Erste Antwort: Ja, es gibt einen Toten. Das hat sich wie ein Lauffeuer über den Campingplatz verbreitet. Zweite Antwort: Keine Ahnung. Was meinst du, warum wir hier stehen!« Er wandte sich zum Gehen. »Gehen wir lieber ein Bier trinken?«

»Aber nur eins«, erwiderte ich. «Anne ist bestimmt schon zu Hause.«

Wir gingen zur Kantine, aber die war geschlossen. Davor saßen zwei Jungs auf ihren Mountainbikes und rauchten Zigaretten. Ich konnte mir nur mit viel Mühe verkneifen, sie vor den Gesundheitsgefahren des Zigarettenrauchens zu warnen. »Wieso ist die Kantine denn zu?«

»Wie soll die denn aufmachen – ohne Coen!«

»Wieso ohne Coen?«

»Haben Sie das denn nicht mitgekriegt? Den hat man doch umgebracht!«

»Coen?! Aber … wer tut denn so was?«

Lothar behielt die Fassung. »Sicher kein Camper«, meinte er. »Wenn Coen tot ist, dann gibt es hier kein Bier mehr.«