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Sein schlechtes Gewissen machte ihm zu schaffen. Piet steckte den Schlüssel ins Schloss. Das hatte schon mal fast geräuschlos funktioniert. Jetzt musste er ihn nur noch eineinhalb Mal nach rechts drehen, und die schwere Haustür würde sich leise öffnen.

Weit gefehlt! Er vernahm die metallischen Geräusche des Schlüssels im Schließzylinder in einer Lautstärke, als würden riesige verrostete Zahnräder nach Jahren versuchen, ohne jegliches Schmiermittel ineinanderzugreifen. Die Tür öffnete sich. Die eichenen Schiffsbohlen auf dem Fußboden knarzten wie sich öffnende Särge in billigen Horrorfilmen. Es war schlichtweg unmöglich, dass Juliana entging, dass er soeben den Hausflur betreten hatte.

Trotzdem versuchte er, geräuschlos wie Chingachkoog an Julianas Wohnungstür vorbeizukommen. Die dritte Treppenstufe musste er mit einem großen Schritt auslassen, denn er wusste genau, dass gerade diese Stufe regelrecht aufjaulte, wenn man darauf trat. Quatsch! Juliana hatte ihn auf jeden Fall gehört. Ihre Augen waren nicht mehr viel wert, aber ihre Ohren konnte man nicht überlisten. Sie würde so tun, als hätte sie ihn nicht gehört, und er würde so tun, als hätte sie ihn nicht gehört. So einfach war das. Er trat auf die vierte Stufe, und sein Handy meldete sich ohrenbetäubend. Okay, vorbei!

»Hallo?«

»Piet, ich muss dich dringend sprechen«, erklang die Stimme von Arie Tromp aus dem Hörer.

»Weißt du eigentlich, wie spät es ist«, schimpfte Piet gedämpft. »Du weckst ja das ganze Haus.«

»Es ist wichtig!«

»Arie, es ist kurz vor zwölf, und ich brauche wirklich eine Mütze voll Schlaf.«

Der Gerichtsmediziner klang aufgeregt. »Ich bin ganz sicher, dass du die brauchst, aber ich habe eine interessante Neuigkeit für dich.«

»Okay, wann und wo?«, gab Piet nach.

»Wo kann man sich denn in Middelburg um diese Uhrzeit treffen? Im Seventy-Seven

»Da ist es zu laut, um sich zu unterhalten. Wir treffen uns in einer viertel Stunde im Rooie Oortjes

»Okay, ich bin da.« Arie legte auf.

Das Café Rooie Oortjes lag zu Fuß keine zehn Minuten entfernt am Vlasmarkt. Der Gedanke an die alte verrauchte Kneipe zeichnete Piet ungewollt ein Lächeln ins Gesicht. Wenn er sich nicht eiserne Disziplin auferlegt hätte, wäre er eh noch bei Ruud reingeschneit, einfach so, auf ein Bier oder vier. Er ging durch die Herenstraat bis zur Lange Delft.

Nachts warf sich Middelburg besonders ins Zeug. Der Lange Jan, der Turm der Nieuwe Kerk, wurde angestrahlt, genauso wie das alte Stadhuis am Markt. Piet hätte auch am Wasser entlanggehen können, am Havenkaai, aber er liebte den Markt um diese Zeit. Wenn die Touristen in ihren Ferienhäusern und Wohnwagen verschwunden waren, dann pulsierte ein anderes Leben zu Füßen des Stadhuis. Vom Brooklyn her wehte süßlicher Duft auf die Straße, das war ein klares Zeichen für »Touristen weg!«. Der Marktplatz war leer, abgeräumt die Marktstände, an denen noch heute Morgen jeder Blödsinn Abnehmer gefunden hatte.

 

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Piet ging über den Pottenmarkt in den Vlasmarkt, vorbei am Café ’t Fust, wo tausend Bierflaschen aus allen Teilen der Erde leer, aber nicht nutzlos herumstanden. Dort saß er gerne im Ohrensessel direkt am Fenster an dem Tisch, der eigentlich ein Ofen war, ein alter gusseiserner Ofen, in dem ein Teelicht oder eine Friedhofskerze dem Zecher vorgaukelte, das alte Ding sei noch in Betrieb. Von diesem Ohrensessel aus hatte man die ganze Kneipe im Blick. Piet liebte diesen Platz. Dort trank er ein Murphy’s Irish Red, wenn er nicht im Hinterzimmer mit den Jungs Billard spielte.

Aber mit Arie hatte er sich im Rooie Oortjes verabredet. Er wollte Clapton hören, und er wollte reden können. Das Oortjes öffnete erst um Mitternacht, also würde es noch ziemlich leer sein. Warum öffnete Ruud eigentlich erst um Mitternacht?

Das alte Backsteinhaus lag jetzt vor ihm, eine Neonschrift und zwei angestrahlte rote Ohren am Giebel wiesen Piet den Weg. Tagsüber musste man an diesem Haus vorbeilaufen. Vielleicht gab sich Ruud einfach Mühe, die Existenz einer spannenden Kneipe vor jedem Touristen zu verheimlichen. Ruuds Rooie Oortjes war um diese Zeit eine »duitsers-freie« Zone. Ganz Middelburg war um diese Zeit eine »duitsers-freie« Zone.

Ruud quittierte Piets Erscheinen mit einem unmerklichen Nicken. Er nahm ein Glas aus dem Regal und ließ ein frisches Hoegarden hineinlaufen. Piet schaute sich um, Arie war noch nicht da. Er setzte sich an den Tresen. »Hoi, Ruud.«

Ruud hatte eine Frisur wie der berühmte Tennisspieler Vitas Gerulaitis. Ruuds Problem war, dass Vitas Gerulaitis die Australian Open 1977 gewonnen hatte. Seitdem hatte sich die Frisurenmode geändert. Nicht jedoch für Ruud, er trug das blonde Haar weiterhin schulterlang und gelockt.

»Hoi, Piet! Musst du drei Bier lang nachdenken?«

»Ja, das auch«, sagte Piet. »Arie hat mich angerufen, er will mich treffen.«

»Arie?«

Piet gähnte. »Arie Tromp, der Gerichtsmediziner.«

»Arie habe ich hier noch nicht gesehen, kommt sicher noch.«

Piet hatte mit Clapton richtig gelegen. White Room aus seiner Cream-Zeit erklang aus den Lautsprechern. Old Slowhand spielte eines der besten Gitarrensoli der Rockgeschichte, und Piet wusste wieder, warum er das Treffen gerade hierher verlegt hatte. Nicht nur Ruuds Frisur hatte die Zeit unbeschadet überstanden, auch die Musik hatte jegliche Anfeindung von Rap und Hiphop überlebt.

Arie betrat die Kneipe. Er war fast unsichtbar. Eigentlich betrat nur ein dunkelgrauer Anzug den Raum. Der Kopf war vor der kalkweißen Wand nur als Schatten zu erkennen. »Goedenavond, Piet! Schön, dass du noch vorbeikommen konntest. Ich habe was Spannendes herausgefunden.«

Piet wies auf den leeren Barhocker.

»Du weißt doch, dass Coen an einem Seil aufgehängt wurde«, begann Arie verheißungsvoll.

»Ja klar, das Seil war um sein rechtes Bein geschlungen.«

»Das Seil wurde mit einem sogenannten Palstek um sein Bein geknotet. Und das Seil war eine Festmacherleine. Kennst du dieses Seglergeschäft am Kinderdijk, Watersportwinkel Hansen

»Ja klar.«

»Ich war heute Morgen da, die haben genau das Seil im Angebot.«

»Das Seil ist reine Industrieware«, sagte Piet, »das hat jede Zeilmakerij und jeder Bootsshop im Angebot.«

»Aber der Mörder hat das Seil nicht gekauft, um damit Coen von der Decke baumeln zu lassen.«

Piet sah ihn prüfend an. »Machst du jetzt meine Arbeit? Hast du nicht genug damit zu tun, Leichen auseinanderzunehmen?«

Der Gerichtsmediziner grinste. »Doch, ich habe genug zu tun, vor allem, weil ich gründlich arbeite.« Er wurde wieder ernst. »Über dem rechten Knöchel, wo sich die Schlinge zugezogen hat, war an Coens Bein eine Druckstelle, die habe ich untersucht. Es war zwar keine Wunde, aber ich habe eine Hautprobe entnommen, und dabei habe ich Spuren von Salz gefunden. Daraufhin haben wir das Seil noch mal genauer in Augenschein genommen: Es weist einen signifikanten Salzgehalt auf. Dieses Seil ist lange in Kontakt mit Salzwasser gewesen.«

Jetzt schaute Piet doch etwas überrascht. Ein Seglerknoten und Salzwasserspuren am Seil … »Unser Mann war also ein Segler.«

»Es sieht so aus.«

»Und deswegen bin ich extra so spät in die Kneipe gekommen?«

»Reicht das denn nicht? Das ist doch ein wichtiges Indiz. Was willst du denn noch?«

»Mindestens zwei Bier. Tooske …?!«

Tooske war eine dunkelhaarige Frau, deren Vater einst aus Surinam gekommen war. Die verschiedenen Erbanlagen waren in ihrem Gesicht ausgesprochen vorteilhaft kombiniert. Zwischen ihrer Jeans und dem schwarzen T-Shirt war auf der linken Seite ihres Rückens das Fragment einer Tätowierung zu sehen, ein Tattoo in Schwarz, Rot, Weiß und Blau. Vielleicht war es ein Teil eines Fisches oder eines Drachen. Man konnte das Gesamtmotiv nur erahnen, ein spannendes Rätsel, an dem sich viele Stammgäste beteiligten. Tooske war einer der Gründe, warum Piet gerne bei Ruud sein Bierchen trank.

Sie stellte zwei frische Biere vor die beiden auf den Tresen. Piet nahm einen tiefen Schluck, Arie nippte nur.

»War eigentlich Alkohol im Spiel? Hatte Coen etwas getrunken?«

»Sag mal, liest du meine Berichte eigentlich gar nicht?« Der Pathologe klang beleidigt.

»Doch schon, aber der Bericht liegt bei Annemieke. Also sag schon!«

»Er hatte Alkohol getrunken, aber nicht viel. Es waren knapp null Komma drei Promille, also vielleicht zwei Bier.«

Piet korrigierte die Zahl in Gedanken auf vier und fragte sich, ob Arie schon nach einem Bier den gleichen Wert erreichen würde.

Die Frage ließ sich in dieser Nacht nicht mehr abschließend beantworten, denn Arie verabschiedete sich, als er sein Bier noch nicht einmal halb ausgetrunken hatte. »Ich muss los, ich brauche meinen Schlaf. Morgen um sieben bin ich wieder in der Pathologie.«

»Und wenn du nicht pünktlich bist, läuft dir die Kundschaft weg!«

Piet widmete sich wieder seinem Bier, dann drehte er sich noch einmal zu dem dunkelgrauen Anzug um, der schon an der Tür war: »Danke, Arie! Das war ja fast ein Opfer für dich. Freiwillig gehst du nicht in so eine Kneipe, oder?«

»Eher nicht.« Arie verließ das Lokal.

In diesem Augenblick spielten Golden Earring Radar Love.

 

»No more speed, I’m almost there

Gotta keep cool now, gotta take care

Last car to pass, here I go

And the line of cars drove down real slow.«

 

Ruud nahm das halb leere Glas vom Tresen und stellte Piet ein neues hin. »Ein komischer Typ, oder?«

»Seine Lieblingsbeschäftigung sind Leichen«, erwiderte Piet. »Was willst du da erwarten?«