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Vielleicht war es das Meer, auf das er schaute, oder es war die salzige Luft. Vielleicht waren es auch ihre Lippen, keine Ahnung! Er bekam Hunger, und zwar auf Fisch. Die Gazelle stand hinterm Deich, aber er würde am Strand entlang gehen. Nach hundert Metern hätte er das Paradiso erreicht. Ein alter Freund hatte sich vor einiger Zeit in den Kopf gesetzt, in einem Strandpavillon mit etwas anderem als Frikandel speciaal, frites Mayo Geld zu verdienen. Die Idee war scheiße, aber der Koch war sensationell. Und ein Spaziergang am Strand würde Piet verdammt guttun.
Er stand auf und genoss einen letzten Blick von der Pier aufs Meer. Ein Segelboot schwebte über der dunstigen Stelle, wo eben noch ein orangefarbener Sonnenball in der Nordsee versunken war.
Der Wind war nicht mehr wüstenheiß, die Hitze des Nachmittags war mit der Sonne verschwunden. Piets Gedanken kreisten nur um das eine Thema: Isabelle. Sie hatte ein Motiv. Aber sie war keine Mörderin. Sie könnte ihrem Mann so etwas nicht antun – nicht dem Mann, den sie so sehr liebte. Aber hatte sie Coen wirklich so geliebt, wenn sie Piet gerade eben geküsst hatte? Und nicht einfach geküsst. Das war nicht wie Schutz suchen oder an eine breite Schulter anlehnen. Das war mehr gewesen, das war … Verlangen?
Sliptongetjes wäre heute falsch, Seezungenfilets, das war Anfängerfisch. Er wollte etwas schmecken, vielleicht einen Seebarsch. Mal schauen, was Adriaan heute auf der Karte hatte.
Die Sonne brannte schon seit einer halben Stunde nicht mehr auf den Strand herunter, aber der Sand hatte die Wärme gespeichert. Der Weg tat gut.
Auf den letzten hundert Metern seines Weges tauchte ein ungeahntes Hindernis auf. Die Urlauber waren zwar schon verschwunden, aber zwei Caterpillar-Planierraupen waren noch unterwegs, zwei auf diesem kleinen Strandabschnitt. Der Winter hatte den Strand gefressen, und die Raupen versuchten ihn wiederherzustellen. Zoutelande war der Ort mit den meisten Sonnenstunden in den Niederlanden. Das hatte er vor Kurzem noch in irgendeiner Zeitung gelesen – oder war es ein Werbeprospekt gewesen? Der Golfstrom bog genau hier um die Ecke und sorgte für ein besonderes Mikroklima im Frühling, im Sommer und im Herbst, aber der Winter war hart und konnte Strände fressen.
Bei Zoutelande gab es die höchste Düne der Niederlande, vierundfünfzig Meter hoch. Die Düne hatte diesen Teil der Küste gegen die Westerschelde geschützt. Aber unmittelbar vor dem Ortskern half den Bewohnern die Düne nicht mehr weiter. Hier hatten die Menschen einen Deich angelegt.
Die Wasserstraße nach Vlissingen führte in ein paar Hundert Metern Entfernung vorbei. Darauf zogen große Containerschiffe vorüber, nur das große Pumpschiff lag bewegungslos in der Fahrrinne. Es saugte den Sand vom Meeresgrund an und pumpte das Wasser-Sand-Gemisch über riesige Rohre an den Strand. Dort hatten die Caterpillar-Raupen schon Rechtecke abgegrenzt, und jetzt verteilten sie das Wasser-Sand-Gemisch gleichmäßig in diese Rechtecke. Der Strand wuchs von Minute zu Minute. Auch in Zoutelande hatten die Menschen gelernt, mit den Naturgewalten umzugehen.
Piet erreichte die Stufen zum Paradiso. Auf der Terrasse standen zwei Olivenbäume in riesigen mit Bankirai-Holz verkleideten Blumentöpfen. Er musste bekloppt sein, der Adriaan.
Der bekloppte Adriaan stand auf der Terrasse. Er sah Piet, ging in den Pavillon und kam wenig später mit einem deutschen Weizenbier zurück. »Wie immer ein Erdinger.«
»Danke!«
Adriaan lächelte schief. Er kannte Piet in- und auswendig. »Kannst du auch mal zu mir kommen, wenn du keinen Ärger hast? Kannst du nicht einfach mal zum Saufen vorbeikommen?«
»Hast du irgendeinen Fisch, der nicht zum Ausnehmen nach Marokko verschickt wurde, also irgendein Tier, das länger gelebt hat, als es jetzt tot ist?«
»Pass mal auf, du Arschloch!«, sagte Adriaan. »Bei mir gibt es fangfrischen Fisch, das weißt du sehr genau. Ich empfehle den Seebarsch, mit Salzkartoffeln und Zeekraal. Also bestell jetzt, dann ist das der letzte Satz, den ich heute mit dir gewechselt habe. Ich habe keinen Bock, mich mit ’nem depressiven Commissaris zu unterhalten.«
»Inspecteur«, korrigierte ihn Piet.
»Vielleicht bist du ja deshalb depressiv«, erwiderte Adriaan mürrisch.
»Bring mir den Seebarsch und lass mich in Ruhe.«
Adriaan ging kopfschüttelnd in Richtung Küche.
»Adriaan?«
»Ja?«
»Danke!«
»Schon gut!« Die Küchentür schlug hinter Adriaan zu.
Die Voraussetzungen waren: Coen hatte keine Feinde, er war der Kantinenwirt. Seine Ehe mit Isabelle war eine ganz normale Ehe. Er ging fremd, sie ging fremd, sie hatten sich nichts vorzuwerfen. Es ergab einfach keinen Sinn!
Die Schlussfolgerung müsste sein: Coen war nicht ermordet worden. Aber er war verdammt noch mal tot! Der Mörder musste ein kräftiger Mann gewesen sein, der Coen abgrundtief hasste. Aber für diesen Hass gab es anscheinend keinen Grund, oder besser: Piet kannte ihn noch nicht.
Der Seebarsch war ein Gedicht, und der Zeekraal war wunderbar, mit einer kleinen Prise Muskat, in Butter gedünstet. Adriaan stellte Piet wortlos ein frisches Glas Erdinger auf den Tisch. Man hatte ihm nicht nur den Seebarsch aufgetischt, sondern auch irgendeine Voraussetzung, die nicht stimmte. Welche war das?
Der Inspecteur schaute zum Horizont. Das Pumpschiff lag weiter unbeweglich, das Meer jedoch wurde rauer. Darüber wölbte sich noch ein blauer Himmel, aber hinten am Horizont waren einige dunkle Regenwolken zu erkennen. Irgendwo in diesem Himmel fehlte ein einziges Puzzleteil. Piet saß da, an der Nordsee, die ein Teil von ihm war, der Wind half ihm heute nicht. Der alte Mann und das Meer. Hemingway hatte immer gewusst, was zu tun war, wenn die letzte Idee fehlte. Piet nahm sich vor, sich so zu betrinken, dass er gerade noch nach Hause finden würde.