27
Das Telefon klingelte um zwanzig nach sieben.
Wenn es für Piet eine falsche Zeit fürs Telefonklingeln gab, dann war es zwanzig nach sieben. Um vier wurde man aus dem Tiefschlaf gerissen. Das machte nichts, da schlief man einfach nur. Nach acht wäre es ihm auch egal gewesen. Da war er schon wach. Vielleicht lag er noch in den Federn, aber er war wach. Aber zwischen sechs Uhr dreißig und acht Uhr, das war die Zeit, in der sich seine Augenlider jeglicher Kontrolle entzogen. Sein Körper führte in dieser Zeitspanne ein Eigenleben. Das Hirn konnte wahrscheinlich nicht einschreiten, weil in seinen Träumen irgendwelche Gangster flohen, Fußballspiele wiederholt wurden oder ganze Spielfilme vor seinem inneren Auge abliefen – spannende Filme oder gruselige, manchmal waren sie auch durchaus pornografischer Natur.
Zwanzig nach sieben. Piet stand fast senkrecht im Bett, als es klingelte. Er brauchte einige Sekunden, um sich zu erinnern, dass das Telefon bereits erfunden worden war und dass dieser nervige Klingelton ihn an sein Handy locken sollte. »Ja?«, meldete er sich schlaftrunken.
»Piet?« Annemieke klang im Gegensatz zu ihrer sonstigen Gewohnheit ziemlich aufgeregt.
»Natürlich!«
»Bist du schon wach?«
»Jetzt ja«, sagte er trocken. »Kannst du mir endlich sagen, warum ich schon wach sein muss?«
»Kann ich«, sagte sie. »Wir haben wieder einen Toten auf de Grevelinge. Oder besser gesagt: eine Tote. Es handelt sich um eine Frau.«
Piet spürte, wie sich ein dickes Tau um seine Eingeweide zog. Isabelle?
»Ich bin in vier Minuten auf dem Platz«, sagte Annemieke.
»Ich bin auch gleich da. Ich muss mir nur eben eine Zahnbürste in den Rachen schieben.«
Er wollte schon auflegen, als Annemieke noch etwas hinzufügte. »Ääh, Piet?«
»Was ist denn?«
»Nimm den Wagen.«
Er legte auf. In Windeseile sprang er in die Klamotten, die neben seinem Bett auf dem Fußboden lagen. Er machte sich nicht die Mühe, im Schrank ein neues Hemd zu suchen, ging nur kurz ins Bad und war zwei Minuten später schon auf der Treppe, nur um sofort wieder umzukehren. Wo war dieser Scheiß-Autoschlüssel?
Es dauerte endlose Minuten, bis er ihn fand. Der Schlüssel lag in der obersten Schublade der Flurkommode, da, wo er hingehörte. Aber wie hätte er darauf kommen sollen, dass er auch tatsächlich dort lag?
Piet rannte die Treppe hinunter, lief um die Straßenecke zu seinem alten Landrover Defender. Er war sich sicher, dass er nicht anspringen würde. Doch der große Motor verrichtete sofort willig seinen Dienst, nachdem Piet den Zündschlüssel umgedreht hatte. Gutes altes Mädchen! Hatte ihm seine Untreue nicht übel genommen!
Piet verließ Middelburg auf der Landstraße Richtung Grijpskerke, und jeder Drempel führte ihm vor Augen, dass die Fahrwerksqualitäten eines achtzehn Jahre alten Defender nicht mehr dem Stand der heutigen Technik entsprachen. Nun gut, diese lustigen Hubbel in der Straße waren ja angebracht worden, damit man langsamer fuhr. Er hätte ja auch die vorgeschriebenen fünfzig Stundenkilometer einhalten können. Piet tat es nicht, er raste mit achtzig in die Ortschaft Buttinge und wäre beinahe mit dem Kopf gegen das unverkleidete Dach des Geländewagens geknallt. Das hätte seinen rasenden Kopfschmerz noch verschlimmert. Isabelle!
Wenige Minuten später hielt er mit quietschenden Reifen an der Rezeption des Campingplatzes, weil ihm ein uniformierter Polizist ein Handzeichen gegeben hatte.
»Wissen Sie, wo die Tote gefunden worden ist?«, fragte Piet hastig. »Steigen Sie ein!«
Ein nichts ahnender Camper sprang im letzten Moment zur Seite. Der Inhalt seiner Brötchentüte kullerte über den Asphalt. Immerhin, er hatte nur sein Frühstück, nicht aber sein Leben verloren. Piet jagte um die letzte Kurve, stellte den Motor ab, sprang aus dem Wagen, hastete über das Feld und stand nur Sekunden später an der Gracht.
Neben den Kopfschmerzen plagte ihn nun auch noch ein schlechtes Gewissen. Es war ein grausiger Anblick. Aber Piet war erleichtert und ärgerte sich gleichzeitig, dass er diese Erleichterung empfand. Es war nicht Isabelle. Es war eine bedauernswerte Frau um die vierzig. Wahrscheinlich hatte sie eine Familie, und diese Familie war noch viel mehr zu bedauern. Die Position der Leiche verdeutlichte nur zu sehr, dass es derselbe Täter war oder dass die Polizei dies zumindest denken sollte.
Annemieke trat auf den schwer atmenden Inspecteur zu. »Die Spurensicherung wird in wenigen Minuten hier sein«, berichtete sie. »Wir haben alle Personalien aufgenommen und werden die Leute jetzt vom Tatort entfernen.«
Piet ging ein paar Schritte auf das Ufer der Gracht zu. Ein weißes Seil mit roten und blauen Fäden. »Mein Gott! Was ist das für ein Satan. Habt ihr ihren Namen? Sie muss Angehörige hier auf dem Platz haben. Ich meine, man fährt nicht allein auf einen Campingplatz.«
»Sie heißt Andrea Hinrichs oder Heinrichs, und sie ist wohl mit ihrem Freund und seiner Tochter hier. Die Tochter ist um die vierzehn. Vermeer ist unterwegs zur Rezeption, er besorgt die Personalien und fragt, wo der Stellplatz ist. Wir müssen es dem Mann und der Tochter sagen.«
»Ja, das müssen wir wohl …«
»Andrea!« Plötzlich stürzte ein großer, hagerer Mann mit blonden halblangen Haaren ans Ufer. »So nehmt sie doch da runter!«
Annemieke ging auf ihn zu. »Ja, das werden wir auch sofort tun. Kommen Sie. Ich bringe Sie hier weg.«
»Nein, ich will hier nicht hier weg! Wo ist ein Arzt? Warum ist denn noch kein Arzt hier?«
Ein Mann, den Piet schon einmal während der Befragung getroffen hatte, legte die Hände auf die zitternden Schultern des schluchzenden Mannes und sagte: »Ich bin Arzt, aber ich konnte ihr leider nicht mehr helfen. Kommen Sie.«
Ein Polizist wandte sich an die gaffende Menge. »Gehen Sie jetzt nach Hause. Räumen Sie diesen Ort. Sie behindern die Polizei. Na los, wird’s bald?«
Wim trat eilig zu Piet. »Hier, ich habe den Namen und die Adresse der Toten. Sie sind erst seit vier Tagen hier. Verdammt, was hat dieses Schwein bloß vor?!«
»Das wüsste ich auch gerne«, sagte Piet. »Jetzt wird alles genauso ablaufen wie vor drei Tagen. Arie wird kommen. Wir werden die Camper befragen, wir werden dich befragen und Isabelle. Und alle, alle, alle werden uns sagen, dass sie auch nicht den Hauch einer Erklärung dafür haben.«
Männer in den weißen Overalls der Spurensicherung bevölkerten den Tatort. Die Fotografin vom politiebureau bannte mit ihrer Nikon jeden Quadratzentimeter auf die Speicherkarte. Wieso kann ein Kopf so schmerzen, wenn er doch leer ist?, fragte sich Piet. In seinem Schädel war kein einziger brauchbarer Gedanke, keine Idee. Nur diese elende Hilflosigkeit.
»Vielleicht hat der Täter diesmal einen Fehler gemacht.« Annemieke sah nachdenklich zu der Leiche hinüber, die nun auf der Wiese lag und gerade mit einem Tuch vor all den Blicken geschützt wurde. »Bei Coen hat er nicht eine einzige Spur hinterlassen. Aber irgendwas müssen wir doch finden.«
»Ja, wir müssen was finden«, stimmte Piet zu, »aber wir wissen nicht, was wir suchen sollen. Ich gehe jetzt.«
»Das kannst du nicht tun!«, sagte Annemieke empört.
»Doch!«
Wim und Annemieke starrten Piet hinterher, wie er durch die Hecke verschwand. Wenige Sekunden später hörten sie den Motor des Defender aufheulen. Die quietschenden Reifen hätte man dem alten Vehikel gar nicht zugetraut.
Wim fuhr sich über das unrasierte Kinn. »Verdammte Scheiße, wir haben hier fünf Kilometer Höchstgeschwindigkeit. Das gilt auch für ihn!«
Annemieke wandte sich zu ihm und blickte ihn über eine nicht vorhandene Lesebrille an. Ein Lächeln gelang ihr nicht. »Laufen Sie hinterher und sagen Sie’s ihm!«