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Wenn ich nach langer Zeit zum ersten Mal wieder unser Vorzelt betrete, dann hat das etwas Erhabenes. Ich fühle mich dann immer ein bisschen wie ein Filmstar. Ich fühle mich wie James Stewart in »Mr. Hobbs macht Ferien«!
Das ist einer meiner Lieblingsfilme gewesen, als ich noch mit Schwester, Mama und Papa sonntagnachmittags auf dem Sofa Frankfurter Kranz gegessen habe. Seitdem wurde der Film alle zwei Jahre wiederholt, und wenn ich zappend vorm Fernseher saß und plötzlich die verzweifelte Gestalt von James Stewart erblickte, dann musste ich den Film schon wieder gucken, obwohl es ein bisschen problematisch ist, bei »Mr. Hobbs macht Ferien« in der Mitte des Films einzusteigen. Der Drehbuchautor hatte nämlich die unglaublich witzige Idee, die Geschichte mit dem Ende anzufangen, wahrscheinlich weil damals noch nicht abzusehen war, dass man vierzig Jahre später »zappen« konnte!
Der Film beginnt damit, dass James Stewart, also Mr. Hobbs, seiner Sekretärin einen Brief diktiert, den seine Frau erst nach seinem Tod erhalten soll. In diesem Brief erklärt er ihr, warum sie nie wieder gemeinsam in Urlaub gefahren sind. Das ist eine billige Retourkutsche, weil Mr. Hobbs nach Europa fahren wollte und seine Frau Peggy, also Maureen O’Hara, ihrerseits ein kleines Haus an der amerikanischen Küste gemietet hatte. Dieses Haus ist das Musterbeispiel einer schauerlichen Bruchbude: kein fließendes Wasser, eine Pumpe, die nicht funktioniert, eine Katastrophe!
Auch wenn es nicht so scheinen mag, es gibt etliche Gemeinsamkeiten zwischen dem Film und meinem ersten Betreten des Vorzelts bei jedem Campingurlaub. Erstens fährt Mr. Hobbs wie ich auch einen Kombi, obwohl meiner keine Türen aus Holz hat. Die zweite Gemeinsamkeit ist der Gesichtsausdruck. James Stewart und mir steht die Freude auf den Urlaub, aber auch die Skepsis hinsichtlich der Immobilie ins Gesicht geschrieben. Und drittens würde auch ich in wenigen Minuten das Wasser anschließen, und es würde einfach nicht bereit sein, aus dem Hahn zu laufen. Woher ich das jetzt schon weiß? Na ja, Erfahrung!
Zum Glück gibt es auch Unterschiede: Wir haben nur zwei Kinder dabei. Enkel, die ihren Opa »Brummpa« nennen, wie die Kindeskinder von Mr. Hobbs, sind hoffentlich noch in weiter Ferne. Aber der Hauptunterschied ist, dass Mr. Hobbs der Urlaub in Europa verwehrt wird. Wir hingegen sind in Europa, genau genommen in einer der schönsten Ecken von Europa. In der Nähe von Noordkapelle in den Niederlanden, auf Camping de Grevelinge!
Ich holte tief Luft, schaute kurz dankend nach oben und betrat das Vorzelt.
»Könntest du eben das Wasser anschließen?«, fragte Anne.
Ja, das konnte ich. Das Anschließen ist im Grunde überhaupt kein Problem. Man öffnet mittels des Wohnwagenschlüssels das Gasflaschenstaufach im Bug des Wohnwagens und holt das sorgfältig eingerollte und beinahe wasserdicht in einer Plastiktüte aufbewahrte Ende des Schlauchs aus dem besagten Gasflaschenstaufach und danach aus der Plastiktüte. Dann schraubt man die Gardena-Kupplung auf den Wasserhahn und steckt den Schlauch mit dem Gegenstück zu ebenjener Gardena-Kupplung auf das soeben aufgeschraubte Verbindungsstück. Man dreht den Wasserhahn am Waschhäuschen noch nicht auf, weil man vorher an der Spüle im Vorzelt den Hahn öffnen muss. Dann endlich heißt es »Wasser marsch!«.
Auch dieses Mal ging ich Schritt für Schritt vor. Der Wasserhahn oberhalb der Gardena-Kupplung war aufgedreht, die Leitung hatte ihren Schließmuskel entsperrt, und das Wasser marschierte … nicht! Dafür gab es keine physikalischen Gründe. Das ist Camping oder Urlaub, oder es ist halt ein ganz persönliches Problem von James Stewart und mir. Schon drei Jahre zuvor hatte ich beschlossen, dieses Phänomen nicht weiter zu erforschen. Ich wartete einfach ab.
Anne hatte es sich unterdessen im Vorzelt gemütlich gemacht. Das Windlicht auf dem Tisch und die drei Kerzen auf dem Sideboard verbreiteten ein warmes Licht, aber es war schon ziemlich kühl geworden. Sie hatte sich das Plaid über die Beine gelegt und das Strickzeug genommen. Ich kramte mir einen warmen Pullover aus dem Wäschekorb mit der Kleidungserstausstattung. Der große Rest lag noch im Auto.
Ich berichtete über den Fortschritt meiner Inbetriebnahme-Aktivitäten nur knapp: »Das Wasser ist angeschlossen!« Dann wartete ich wieder.
Als Anne fragte: »Kannst du mir Teewasser heiß machen?«, öffnete ich wortlos die Tür, ging erneut um das Vorzelt herum zum Gasflaschenstaufach im Bug des Wohnwagens und ärgerte mich nur ganz kurz darüber, dass ich die Gasflasche vor ein paar Minuten nicht gleich mit angeschlossen hatte. Danach betrat ich erneut den Wohnwagen, öffnete das Sicherheitsabsperrventil und drückte den Piezo-Zünder, um die Gaszentralheizung in Betrieb zu nehmen. Ich legte mich flach auf den Boden, um das Aufleuchten der Kontrollflamme in der Heizung zu überprüfen. Als ich das kleine Flämmchen sah, dachte ich: Aha! Gas funktioniert. Also nahm ich die Teekanne, ging zum Waschhäuschen und füllte sie mit Wasser. Zurück im Wohnwagen nahm ich den kleinen Kochtopf aus dem Hängeschrank und goss das Wasser aus der Teekanne in den Topf. Mit dem extra langen Gaskocherfeuerzeug entzündete ich den Gaskocher und stellte den Topf auf die Flamme.
Natürlich schaute mich Anne verwundert an. Natürlich erwartete sie eine Erklärung für mein umständliches Vorgehen. Warum hatte ich nicht einfach den Wasserhahn im Vorzelt aufgedreht? Ich konnte ihr keine Erklärung geben, zumindest keine vernünftige. Also sagte ich gar nichts. Irgendwann würde das Wasser laufen, das wusste ich mittlerweile. Ich hätte natürlich zu Prüfungszwecken in den Wasserhahn schauen können, aber dann würden die Wassermassen sicher just in dem Moment aus der Leitung sprudeln, wenn beide Kinder gerade das Vorzelt betraten. In einem solchen Fall wäre es unmöglich, den Respekt der Kinder aufrecht zu erhalten. Ich konnte nicht beeinflussen, wann die Kinder das Vorzelt betraten, also schaute ich lieber gar nicht erst nach.
Ich setzte mich zu Anne. Wir sprachen nicht über die Polizei und nicht über das, was wir an diesem Abend erlebt hatten. Wir wollten beide so tun, als hätte wie jedes Jahr einfach ein Urlaub begonnen. »Wo sind die Kids?«
»Nebenan bei Schulenkämpers kniffeln. Ich habe gesagt, Punkt zwölf ist Schluss. Sie sind ja auf dem Platz, da kann nichts passieren.« Das kleine Lächeln erstarb auf ihren Lippen. Die Ereignisse des Abends hatten uns schon wieder eingeholt.
»Ja«, sagte ich. »Letztes Jahr galt das noch: Sie sind ja auf dem Platz, da kann nichts passieren. Aber dieses Jahr hat jemand Coen umgebracht. Und dieser Jemand läuft noch frei herum. Ich weiß nicht, ob er hier auf dem Campingplatz ist, aber zumindest war er hier.«
Anne sah mich mit weit aufgerissenen Augen an. »Coen?«
»Ja sicher, hast du das noch nicht gehört? Lothar hat schon gesagt, das ist sicher keiner vom Campingplatz gewesen. Denn wenn Coen tot ist, dann …« Ich wurde von Annes plötzlichem Schluchzen unterbrochen. »Du weinst ja?«
»Du sagst … du sagst, jemand hat Coen umgebracht?« Ihr Schluchzen wurde lauter. Es war nicht hysterisch, aber es fehlte nicht viel.
»Aber Anne, wir kannten ihn doch kaum. Gut, wir haben ein paar Mal ein Bier bei ihm getrunken, und ich finde es auch sehr traurig, aber …«
»Na und?« Sie wandte ihren Blick ab. »Ich habe ja auch geweint, als sie im Fernsehen übertragen haben, wie Menachem Begin beerdigt wurde, und von dem habe ich eigentlich nichts gehalten, und bei der Beerdigung von Lady Di … Ich bin halt so! … Und Coen war wirklich ein netter Kerl.«
»Klar, das war er …« Ich suchte ihren Blick, aber sie schaute ins Nichts. Anne saß zwar mir gegenüber am Tisch, aber sie war ganz woanders. Ich wusste, dass ich ihr in diesem Moment nicht helfen konnte. Sie brauchte Zeit. »Wenn du willst, geh ruhig schlafen. Ich warte hier auf Tristan und Edda«, bot ich ihr etwas hilflos an.
»Dann gehe ich jetzt. Danke.« Sie stand auf, küsste mich auf die Wange, ging in den Wohnwagen und schloss die Tür hinter sich. Sechzehn Jahre waren wir verheiratet. Ich kannte sie so genau und verstand sie doch nicht.
Die Taschenlampe lag in der obersten Schublade des Sideboards im Vorzelt. Ich knipste sie an. Pures Glück! Wenn man am ersten Urlaubstag die Taschenlampe raussucht, dann sind normalerweise die Batterien leer, aber dieses Mal warf die Taschenlampe einen mächtigen Lichtkegel gegen die blau-weiß gestreifte Vorzelt-Wand. Ich beleuchtete den Weg um das Vorzelt herum und fand meinen »Weinkeller« unter dem Wohnwagen. Vorne unter dem Caravan lagen zwei Plastikstapelregale nebeneinander. Sie fassten zwölf Flaschen Wein, und diese zwölf Flaschen lagen in einem perfekten Mikroklima: konstante Feuchtigkeit bei durchschnittlich vierzehn Grad im Sommer. Besser geht es nicht! Ich beleuchtete die Regale, und tatsächlich, da lag noch eine Flasche Rotwein ganz rechts im zweiten Regal. Ich hatte in den Osterferien offenbar eine übersehen.
Tristan und Edda kamen von Schulenkämpers zurück. Ich hätte jetzt noch auf Zähne putzen bestehen müssen, aber ich akzeptierte einfach die flüchtigen Gutenachtküsschen und hoffte, dass sie wirklich gut schlafen konnten.
Ich zog den Reißverschluss zu, fand in meinem Aktenkoffer die Lesebrille, und nun genoss ich Annes kleine Kerzen-Armada umso mehr. Die Lesebrille erlaubte mir, das Etikett zu entziffern. Ich hatte einen Chianti Classico gefunden, Casanuova di Nittardi, Jahrgang 2000, ein sortenreiner Sangiovese. Die Lagerung unter dem Wohnwagen hatte ihm entweder nicht geschadet, oder sie hatte ihm sogar gutgetan. Ich hielt meine Nase in das Glas, vernahm einen vollen Duft von Kirschen, Vanille und Toscana … und ein Geräusch, das ein Glas Chianti nicht verursachen kann. Es war das Ratschen des Reißverschlusses.
»Komm rein, Lothar. Ein Glas Wein?«
»Ja, das kann ich jetzt gebrauchen.«
Lothar nahm sich ein Rotweinglas aus dem Sideboard. Camping ist zwar die Urlaubsform des improvisierenden Abenteurers, aber auf gute Weingläser muss man bei uns trotzdem nicht verzichten. Es gibt sechs schöne große, dünnwandige Rotweingläser, sechs etwas kleinere elegante Weißweingläser und vier sehr schlanke Sektgläser, allesamt mundgeblasen, aber das ist nichts Besonderes. Fußgeblasen, das wäre etwas Besonderes.
Lothar hatte den Wein sofort als Rotwein identifiziert und daher die ganz linke Sideboard-Tür geöffnet, um sich ein Rotweinglas herauszunehmen. Nach Jahren der Nachbarschaft kennt er sich in unserem Mobiliar bestens aus.
Zwei Minuten später saß er mit gefülltem Rotweinglas vor mir und sagte: »Ich versteh da was nicht.«
»Was denn?«
Er stellte sein Glas wieder ab, lehnte sich in dem blau-weiß gestreiften Campingstuhl zurück und sagte: »Gaby hat plötzlich losgeheult.«
»Wie, losgeheult?«, fragte ich verblüfft.
»Na, als ich erwähnt habe, dass Coen umgebracht worden ist, da hat die losgeheult! Was guckst du denn jetzt so blöd?«
»Anne hat auch geweint.«
Lothar trank einen Schluck aus seinem Weinglas, kontrollierte noch kurz die Farbe des edlen Tropfens, dann stellte er das Glas nachdenklich auf den Tisch, schaute mir in die Augen und fragte: »Was war da eigentlich an Pfingsten los?«