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Piet ging zum Tresen. Er nickte Wim zu, drehte sich um und lehnte sich mit dem Rücken gegen die gescheuerte Holzplatte. Er schaltete seine Augen auf Weitwinkel und registrierte jede Bewegung in seinem Blickfeld. Im politiebureau hielt man ihn für einen harten alten Knochen, wobei es von seiner Laune, seiner Tagesform und vom Wetter abhängig war, ob das »hart« oder das »alt« zutraf.

Meistens hatte er mit seinem Alter keine großen Probleme. Er arbeitete anders als die Kollegen. Er war immer der Ansicht, dass man Fälle nicht lösen konnte, indem man seinen Hintern vor einem Computermonitor platt saß, deswegen konnte er mit diesem grauen Kasten auch nicht so umgehen wie Vermeer oder die anderen. Er war älter als Meinert Waatering, der hoofdInspecteur, nicht viel älter, aber immerhin. Er respektierte seinen Chef, aber er rutschte nicht auf Knien über den Flur, wenn er ihn sah. Er konnte noch mit allen mithalten, und er hatte nur noch sieben Jahre.

Es war Piet durchaus recht, dass man ihn für hart hielt. Manchmal gab er sich sogar Mühe, dieses Image zu nähren. Es gab Situationen im Polizeidienst, in denen ein solcher Ruf hilfreich sein konnte. Am Anfang hatte er sich immer amüsiert, wenn das Wort »Macho« fiel, sobald er ins bureau kam. Macho, darunter verstand man doch landläufig ein männliches Arschloch, das keinen besonderen Wert auf Deo legte. Piet hatte den Begriff sogar einmal im Lexikon nachgeschlagen und unter dem Stichwort »Machismo« nachgelesen. Bei ihm vermutete man also »starke Überlegenheitsgefühle und Herrschaftsansprüche gegenüber der Frau«. Es hätte ihn nicht gestört, wenn dies gestimmt hätte. Es stimmte aber ganz und gar nicht

Annemieke Breukink war gekleidet wie ein Mitglied des englischen Hochadels, unmittelbar vor oder nach einer Fuchsjagd. Er war der Inspecteur, sie trug den Dienstgrad eines brigadier. Er war also ihr direkter Vorgesetzter. Dennoch hatte sie früher von dem Fall erfahren als er, und sie hatte sich vorab entschieden, ihn nicht vor der Beschaffenheit des Tatortes zu warnen. Außerdem war sie mehr als dreißig Minuten vor ihm am Tatort gewesen. Und da sollte er sich überlegen fühlen? Blödsinn! Im Gegenteil: Er musste aufpassen, dass sie nicht mitbekam, wie unterlegen er sich manchmal fühlte.

So etwas Ähnliches wie ein Mitglied des Hochadels war Annemieke Breukink schließlich auch, nicht adelig im Sinne von »von« oder »van«, aber es gab ja auch Geldadel. Annemiekes Vater, Geert Breukink hatte in Rotterdam durch IT-Handel mit Lagerplätzen ein Vermögen verdient. Das war eigentlich nichts Ungewöhnliches, ungewöhnlich war nur, das er sein Vermögen behalten hatte, obwohl eine Menge Analysten nur wenige Monate zuvor ihr Haus darauf verwettet hätte, dass BSE einen Hammer-Konkurs hinlegen würden. BSE, Breukink Storing and Engineering, hatte die große Internet-Blase überlebt, mit ein paar Schrammen, aber immerhin.

 

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Geert Breukink war ebenso steinreich wie vernarrt in seine Tochter, und er war überhaupt nicht begeistert gewesen von Annemiekes Idee, zur Polizei zu gehen. Andererseits war sie seine Tochter, und so wusste er, dass es wenig Sinn hatte, mit ihr darüber zu diskutieren. Wenn sich eine Breukink etwas in den Kopf gesetzt hatte, dann war jeder Versuch, ihr das wieder auszureden, vergeblich. Als würde man versuchen, Schießpulver aus einem Gewehrlauf zu kratzen. Mit jedem Versuch wurde das Pulver nur fester zusammengepresst, und je länger man versuchte, den Schuss zu verhindern, desto lauter wurde der Knall.

Annemieke Breukink saß neben Piet am Tresen. Sie hatte sich so auf einen Barhocker gesetzt, dass sie ihn ansehen konnte, dabei hatte sie aber fast den gesamten Gastraum im Auge, vor allem den Teil, den Piet nicht einsehen konnte. Die beiden waren ein eingespieltes Team.

Annemieke räusperte sich fast unhörbar: »Ich wusste nicht, dass du ihn kennst. Glaub mir, sonst hätte ich dir am Telefon mehr gesagt. Ich wollte doch nur …«

Er blickte sie kurz an und sagte dann ruhig: »Schon gut. Dann lass uns mal zusammenfassen, was wir wissen.«

»Wir haben einen Toten. Wir haben dessen Identität, und wir wissen, dass es kein natürlicher Tod und kein Selbstmord war. In der Nähe des Tatortes befanden sich zur Tatzeit knapp unter zweitausend Menschen. Eine Tatwaffe fehlt nicht, denn es gab keine. Das ist alles.«

»Das ist nichts«, stellte Piet fest.

Wim kam hinter dem Tresen vor und gesellte sich zu den beiden. Er wandte sich an Annemieke: »Darf ich mich kurz vorstellen? Mein Name ist Wim Verheijden, ich bin hier der Chef von Camping de Grevelinge.« Dann wandte er den Kopf. »Hoi, Piet!«

Piet hatte Mühe, ein Grinsen zu unterdrücken. Annemieke schaffte es anscheinend, nur durch ihre Aufmachung, ihre ganze adelige Attitüde, eine solche Distanz zwischen sich und den Leuten zu erzeugen, dass sich alle benahmen wie in der Sonntagsschule. »Willst du uns vielleicht was zu trinken verkaufen?«, fragte er.

»Gerne. Ein Bier, oder seid ihr im Dienst?«

»Sowohl als auch.«

Wim spülte zwei Gläser aus, zapfte zwei kleine Grolsch und stellte sie auf den Tresen.

Annemieke schaute ihren Chef halb belustigt, halb entsetzt an.

»Was guckst du so? Ich finde, ein Bier ist im Dienst okay«, sagte Piet.

»Ein Bier? Du hast mir gerade noch erzählt, du hättest schon drei Grolsch gehabt.«

»Das war vor deinem Anruf. Da war ich nicht im Dienst.«

Annemieke wandte sich zum Tresen um und sah Wim interessiert an. »Wer war er? Ich meine, ich weiß: Er war Coen Rimmel, Wirt hier in der Kantine, klar, aber wer war er wirklich?«

Als Piet Annemiekes Frage hörte, beschloss er, gedankenverloren in sein Bier zu starren. Er kannte Wim seit der Schulzeit, und – kaum zu glauben – Wim ging es mit ihm genauso! Er hätte beim Pokern keine Chance gegen Wim. Und Wim hätte beim Pokern keine Chance gegen ihn. Wenn sie beide zusammen mit einem Dritten gespielt hätten, dann hätte der ihnen sein Monatsgehalt genauso gut vorab überweisen können.

Wim betrachtete die Reste seines Biers und sagte: »Coen war sehr beliebt. Bei seiner Familie genauso wie bei den Campinggästen. Wissen Sie, wenn Johnny oder ich mal abends die Theke übernahmen, weil Coen krank war oder Urlaub machte, dann hatten wir prompt weniger Umsatz. Die Leute gingen früher nach Hause, und sie waren nicht so zufrieden wie bei Coen. Es gibt ein Sprichwort in Zeeland: Wenn die Kneipe laufen soll, gehört der Wirt hinter den Tresen! Der Wirt gehört also hinter den Tresen und weder zu Hause aufs Sofa noch auf Mallorca an den Pool. Aber das ist nur der eine wichtige Teil des Satzes. Der Wirt gehört hinter den Tresen, wohlgemerkt, der Wirt. Nicht Johnny und nicht ich. Der Wirt, das ist Coen.«

»War Coen …«, berichtigte Annemieke.

»Nein, ist Coen. Vielleicht gibt es hier irgendwann mal einen anderen Wirt, aber dann ist das hier auch eine andere Kneipe.«

Piet beobachtete, wie klitzekleine weiße Bläschen im Schaum seines Biers zerplatzten und gleichzeitig neue entstanden.

»Jeder auch noch so angesehene und beliebte Mensch hat Feinde«, zweifelte Annemieke.

»Ja, alle außer Coen. Ich weiß, das klingt blöd, aber Coen hatte keine Feinde. Jeder, der ihn kannte, kam zu ihm in die Kantine, und jeder, der diese Kantine wieder verließ, war Coens Freund. Coen hatte für jeden ein paar Minuten Zeit, und nach der letzten Runde gab es immer noch eine allerletzte Runde. Es tut mir leid für euch …« Wim nahm sein Glas, trank es aus, wischte sich den Schaum von den Lippen und eine Träne von der rechten Wange: »Es tut mir leid für euch, aber Coen hatte keine Feinde.« Er stellte das Glas auf die Spüle, nahm seinen Block und einen Stift und ging, um neue Gäste zu fragen, was sie trinken wollten.

Annemieke steckte ihr schwarzes Notizheft wieder in die Handtasche. »Fassen wir zusammen. Der Mann war also beliebt, im Familienkreis genauso wie bei seinen Gästen. Er hatte nur Freunde, und wenn da mal einer auftauchte, mit dem er sich nicht so grün war, dann verließ auch der die Kantine irgendwann als sein Freund. Dazu hatte der gute Herr Rimmel auch noch ein Gesicht, mit dem er mühelos von jeder Fernsehzeitung hätte lächeln können. Liege ich so weit richtig?«

»So weit schon.«

»Wieso war Coen dann hier Wirt und nicht in Den Haag Premierminister?«

»Vielleicht weil er einfach ein netter Kerl war«, sagte Piet. »Ich glaube, wenn du ein netter Kerl bist, dann bringst du es als Premierminister nicht weit.«

Annemieke seufzte. »Okay, dann machen wir uns auf die Suche nach dem Freund von Coen, der ihn umgebracht hat.«

»Nein, nein, der Feind existiert natürlich, aber nicht einmal Wim kennt ihn. Wenn er ihn kennen würde, hätte ich es gemerkt.«

Piet trank sein Glas leer und hob es hoch. »Und den Feind, den suchen wir morgen. Für heute habe ich Dienstschluss.« Sein Blick irrte durch den Gastraum und fand, was er suchte: »Wim? Machst du uns noch zwei Bier?«