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Ich hatte den zweiten Roman angefangen. Sechs Romane hatte ich mir vorgenommen. Den ersten hatte ich weggelegt. Nach sechzig Seiten muss ich drin sein, sonst lese ich ihn nicht zu Ende. Sechzig Seiten, das ist ein innerdeutscher Flug, inklusive Wartezeit in der Cafeteria am Flughafen Köln-Bonn, Terminal 1, Gate B. Wenn mich das Buch am Zielflughafen immer noch nicht fesselt, dann lege ich es weg. Ich verschenke es nicht, ich verkaufe es nicht bei eBay, ich lege es weg. Ich habe mal einen wunderbaren Menschen kennengelernt, der eine fürchterliche Angewohnheit hatte. Er las nur Taschenbücher, und die Seiten, die er gelesen hatte, riss er heraus. Mich schauderte jedes Mal, wenn ich das sah. Bücher zerreißen, das ist zwar nicht wie Bücher verbrennen, aber man tut es trotzdem nicht. Ich werde irgendwann anbauen müssen, weil ich keine Bücher weggebe. Gut, dann baue ich halt an.
Jetzt hatte ich den zweiten Roman aus der Tasche geholt: Michel Birbaek, Wenn das Leben ein Strand ist, sind Frauen das Mehr. Ich hatte geglaubt, dass das ein guter Titel für ein Urlaubsbuch ist. Holland, Urlaub, seit sechzehn Jahren verheiratet und immer noch verliebt. Nicht immer, aber immer mal wieder, und das immer noch! Ich fragte mich, was das bedeutet: Liebe? Ich fragte mich, was das bedeutet: verheiratet sein?
Man trennt sich leichter, und wenn es Probleme gibt, zieht man leichter einen Schlussstrich, wenn man »nur« eine Beziehung hat. Wir sind verheiratet. Mit dem Ring am Finger denkt man länger nach.
Ich dachte nach, aber ich sagte nichts. Ich fürchtete mich vor Wahrheiten. Ich saß mit meinem Roman im Vorzelt und las. Anne las auch, und sie strickte. Das werde ich nie begreifen. Sie strickte und schaute dabei in ihr Buch. Man nennt das jetzt multitaskingfähig. Ich kann mit Mühe gleichzeitig die Treppe runtergehen und Kaugummi kauen. Sie kann gleichzeitig über Pfingsten in Urlaub fahren und …
»Mist, jetzt habe ich mich verzählt!« Sie begann, wieder Maschen zu zählen und danach die soeben gestrickte Reihe wieder aufzuribbeln. Das beruhigte mich. Normalerweise verstrickt sie sich wegen so einer profanen Doppelbelastung nicht!
Ich sagte gar nichts. Ich schaute in mein Buch und las die vierte Seite zum dritten Mal.
Anne warf ihr Strickzeug auf den Tisch. »Also gut, du willst wissen, was hier an Pfingsten los war. Ich dachte, du vertraust mir.«
Ich sah sie mit großen Augen an und legte mein Buch weg. »Ich dachte, wir haben keine Geheimnisse voreinander.«
»Ich habe keine Geheimnisse vor dir!«
»Ach, deswegen bist du in letzter Zeit so gesprächig!«
»Wir können es auch lassen!«
Ich legte das Buch aus der Hand, ich schaute sie an, und sie tat mir fast ein bisschen leid. Aber ich tat mir immer noch ein bisschen mehr leid. Ich griff über den Tisch hinweg nach ihrer Hand, die immer noch in der Nähe des Strickzeugs lag, damit sie im Notfall schnell wieder danach greifen konnte.
Ich sah ein Flehen in ihren Augen, und ich fühlte mich schon wieder schuldig, als sie sagte: »Ich bin ganz sicher nicht fremdgegangen. Ich hatte das nie vor, und ich habe es auch nicht getan.«
Wahrscheinlich sah sie die Erleichterung in meinen Augen, denn ich glaubte ihr jedes Wort, weil ich ihr jedes Wort glauben wollte!
»Wir haben tagsüber das besondere Animationsprogramm gestartet. Wir wollten besser sein als ihr. Wir waren reiten, Volleyball spielen, wir waren am Strand und … und abends waren wir bei Coen in der Kantine. Die Jungs haben Kicker gespielt, Edda hatte mit einem Typen angebändelt, den sie Schweini nannten, weil er so eine Frisur hatte wie dieser Fußballspieler, und …«
Anne griff wieder zu Nadeln und Wolle, aber jetzt durfte dieses Gespräch nicht abbrechen.
»Und?«
Sie seufzte. »Und Coen hat mit uns allen geflirtet, auf Teufel komm raus. Wir haben getanzt. In der Kantine tanzt doch normalerweise keiner! Aber Andrea meinte dann, Coen müsste auch einen Genever mittrinken. Und Coen hat gesagt, aber nur, wenn sie mit ihm tanzt.«
»Hast du auch mit ihm getanzt?«, fragte ich leise.
»Ja, aber außer Coen und uns Frauen war keiner mehr in der Kantine. Hey, wir haben einfach riesigen Spaß gehabt. Es war ein großartiger Abend.«
»Aber irgendwo gab es da ein Problem.«
Sie schüttelte energisch den Kopf. »Nein, es war nur großartig. Wir haben dann irgendwann bezahlt, und dann sind wir gegangen.«
»Wir wissen beide, dass noch irgendwas passiert ist, also sag mir nicht, das alles nur großartig war.«
»An diesem Abend, als wir getanzt haben …« Sie zögerte.
»Welcher Abend war das?«
»Das war am Sonntag. Wir gingen nach Hause, und Coen hat uns alle an der Kantinentür mit Handkuss verabschiedet. Wir waren albern, es war ein Spiel. Aber am Montag …«
»Was war am Montagabend?«
»Der Montagabend verlief ganz ruhig«, erzählte sie. »Wir waren wieder bei Coen. Die Jungs haben Billard gespielt.«
»Ja klar, aber was ist da passiert?« Ich musste es wissen.
»Nichts, eigentlich nichts, wir wollten immer wieder dieses Lied von Maria Mena hören. Das war in Holland ein Hit, in Deutschland kannte es noch keine Sau. Die Kinder waren müde, und wir wollten aufbrechen. Da war es noch nicht mal eins.«
Ich spürte, dass Anne noch nicht alles gesagt hatte. Irgendetwas fehlte noch. »Und das war euer letzter Abend?«
»Fast. Wir wollten die Rechnung, Coen kam mit dem Deckel an den Tisch, kassierte bei uns ab. Und dann sagte er ganz lässig in die Runde: Ich hoffe, ihr hattet alle schöne Tage in Holland. Eine von euch hatte jedenfalls eine wunderbare Nacht mit mir! Welterusten! Tot ziens! Genau das hat er gesagt.«
»Du hast nicht mit ihm geschlafen?«
»Nein, glaub mir!« Tränen standen in ihren Augen. »Ich brauche so was nicht. Ich hab doch dich!«
Ich glaubte gar nichts mehr. Ich sah meine Frau vor mir. Sie war völlig aufgelöst.
»Andrea hat sicher nichts mit ihm gehabt«, sagte Anne. »Sie hatte mir noch am Nachmittag erzählt, dass sie jetzt einen ganz tollen Mann gefunden hat und dass sie sich mit seiner Tochter so gut versteht. Und du kennst doch Gaby, die feiert gerne, die tanzt auch mal auf dem Tisch, aber wenn es drauf ankommt, dann vertelefoniert sie Monatslöhne mit Lothar. Uschi ist zehn Jahre älter, und von Babette und Jutta kann ich mir das beim besten Willen nicht vorstellen.«
Ich wollte jetzt nichts sagen, nichts fragen. So viele andere Möglichkeiten gab es jetzt nicht mehr.
Anne packte ihre Stricksachen in den dafür vorgesehenen Korb. »Ich gehe jetzt schlafen.« Sie stand auf, löschte die drei Teelichter auf dem Vorzelttisch und ging in den Wohnwagen.
Ich betrat unser Luxusbadezimmer, putzte mir die Zähne zwei Minuten zu lange und folgte ihr. Es war schon ganz still im Wohnwagen. Tristan und Edda träumten gerade irgendetwas Schönes. Ich krabbelte in unser französisches Bett, das für mich ein Hauptargument gewesen war, diesen Wohnwagen zu kaufen. Ich schaltete das Leselicht an, nahm meinen Birbaek und begann zu lesen.
»So können wir jetzt nicht einschlafen.« Anne drehte sich zu mir. »Wir haben uns versprochen, dass wir uns vertrauen und dass wir keine Geheimnisse voreinander haben.« Anne legte ihren Kopf an meine Brust. »Ich habe jetzt kein Geheimnis mehr vor dir.«
Ich streichelte mit dem Daumen über ihre Wange und fühlte Tränen. »Und ich vertraue dir.« Ja, ich vertraute ihr. Wenn sie jetzt gesagt hätte, dass sie mit ihm geschlafen hätte, aber es wäre halt Pfingsten und sie ganz besonders gut drauf gewesen, dann hätte ich ihr das vielleicht verziehen … Nein, hätte ich nicht!
Aber sie hatte mir gerade gesagt, dass Pfingsten war und sie war ganz besonders gut drauf und dass sie nicht mit ihm geschlafen hatte. Ich empfand Dankbarkeit und Stolz. Beide Gefühle waren absolut unangebracht. Ich nahm sie in den Arm, und ich schämte mich wegen meiner Verdächtigungen. Ich war ein bisschen froh, dass sie nicht mit dem Daumen über meine Wangen strich. Sie hätte auch Tränen gespürt.