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Der Morgen war grau, das Haus war grau, und der Name war ebenfalls grau! In Zeeland wollen Menschen ein Zuhause haben, deshalb haben Häuser in Zeeland Namen. Das Haus, in dem Piet die erste Etage und das Dachgeschoss bewohnte, hieß De grise dolfijn, und es lag, oder besser es stand, am Turfkaai. Die Straße, an der das Stadtzentrum von Middelburg an den Binnenhaven grenzte, war in die verschiedensten kaaien unterteilt: Turfkaai, Houtkaai, Londensekaai und so weiter. Der Turfkaai lag zwischen Vismarkt und Herenstraat. Wenn sich ein Haus in Middelburg einen Bauplatz hätte auswählen können, hätte es wahrscheinlich den Turfkaai gewählt. Das Haus war tatsächlich grau, aber das bezog sich nur auf die Farbe der Fassade. Piet hätte sich eine solche Wohnung niemals leisten können, aber die alte Dame, der es gehörte, hatte den bärbeißigen Polizisten ins Herz geschlossen. Juliana Joosses hatte ihre Namenspatronin, die Königinmutter, überlebt, aber sie war auch sieben Jahre später geboren worden, am 30. April 1916. Juliana Louise Emma Marie Wilhelmina, Prinzessin von Oranien-Nassau, Herzogin zu Mecklenburg, war von 1948 bis 1980 Königin der Niederlande gewesen, und sie war am 20. März 2004 in Soestdijk gestorben.
Juliana Joosses war jetzt jugendliche neunzig Jahre alt, und Piet van Houvenkamp war ihr Beschützer. Das glaubte er.
Vor fünfzig Jahren wäre er wahrscheinlich ihr Liebhaber gewesen, das glaubte sie! Und er war … ihr Vorleser, ihr Einkäufer, ihre Kur gegen die Demenz. Er zahlte genau siebenhundert Euro Miete für einhundertvierzehn Quadratmeter auf zwei Etagen. Das war nicht nur in Middelburg untypisch, das war europaweit ein Schnäppchen, und das mit einem unbeschreiblichen Blick auf den Binnenhaven und nicht einmal drei Minuten Fußweg zum Markt, zum Rathausturm und zu den tollsten Kneipen, die man sich nur vorstellen konnte.
In der Mitte von Piets Wohnzimmer stand ein großes Bett, sein Lieblingsort. In diesem Bett lag er gerade und wippte mit dem rechten Bein, weil sein Traum ihn zwang, schnellen Schrittes irgendwelche Verbrecher zu verfolgen. Wahrscheinlich hatte er im Traum wieder seine Laufschuhe angezogen, und nun hastete er über das Deck der Karnak, um herauszufinden, wer da einen Revolver in den Nil geworfen hatte. Er blickte gerade über die Reling, als ihn ein Klingeln aufschreckte. Das konnte nicht sein. 1937 gab es noch kein Handy …
Es dauerte drei Klingeltöne, bis Piet in die Wirklichkeit zurückgefunden hatte, und noch einmal zwei, bis er das Handy unter dem Bett herausgefischt hatte. »Hallo …?« Er lauschte dem Freizeichen. Es klingelte wieder. Er warf das Handy in den Sessel, stolperte verschlafen zur Tür, nahm den Hörer aus dem weißen Monstrum von Gegensprechanlage und sagte noch einmal: »Hallo?« Annemiekes Gesicht tauchte auf dem Schwarz-Weiß-Monitor auf.
Ihre Stimme eilte den Bewegungen ihrer Lippen auf dem Monitor ein wenig voraus. »Ein schöner Tag, die Vöglein singen, und wir sollten jetzt auch ein paar Vöglein zum Singen bringen. Bist du fertig?«
»Ich habe gerade geduscht. Jetzt werde ich mich rasieren und in Ruhe anziehen. Dann treffen wir uns im St. John auf einen Milchkaffee.«
Das St. John lag gegenüber dem Vismarkt in der Sint Janstraat. Annemieke blieb einen Moment vor dem Haus stehen. Eigentlich waren es sogar zwei Häuser, in denen das Café untergebracht war. Das eine hieß De Wildeman, und das andere trug den verheißungsvollen Namen t’oude Bierhuys. Zusammen bildeten sie Piets Lieblingscafé. Annemieke schaute durch das Fenster in das Lokal. Neun Uhr morgens, und es war schon allerhand los für diese Uhrzeit. Sie musste lächeln, als sie unten rechts im Fenster einen Aufkleber sah, auf dem ein durchgestrichenes Cannabisblatt abgebildet war. Ja, in Middelburg musste man vorsichtig sein, wenn man einen Coffie-Shop betrieb.
Annemieke betrat das Café mit einer gemütlichen alten Einrichtung aus viel dunklem Holz. Die Wandfarbe war in den letzten Jahrzehnten fleckig geworden von den vielen dunklen Zigaretten, die hier geraucht worden waren. Sie setzte sich an den einzigen freien Tisch und schaute in die Karte, obwohl sie sowieso einen Milchkaffee nehmen würde.
Es dauerte nur ein paar Minuten, bis Piet im Türrahmen erschien.
»Na, da bist du ja endlich.« Annemieke musterte ihren Chef und versuchte, jede Missbilligung zu unterdrücken. Sein Haar war noch feucht. Er trug dieselben Sachen wie am Tag zuvor, dieselbe alte Jeans, dieselbe Cordjacke, nur das T-Shirt war heute dunkelgrün. Piet setzte sich und schaute beinahe schuldbewusst an sich herunter. Annemieke rührte ungerührt in ihrem Kaffee. »Punkt eins«, sagte sie. »Wir müssen zu Arie. Ich wüsste nicht, wie wir ohne ihn weiterkommen sollten. Punkt zwei: Wenn ich mich so sorgfältig rasieren würde wie du, würde ich nie mehr einen Bikini anziehen!«
Piet fand mit dem linken Daumen die Stellen an seinem Kinn, wo sich noch einige Bartstoppeln munter emporreckten. Jetzt hatten die Dinger schon fünf Klingen, und sie rasierten immer noch nicht ordentlich. »Ja«, sagte er nur. »Da gibt es wohl ein paar Fragen, die Arie uns beantworten kann. Zumindest wird er uns sagen können, wann der Tod eingetreten ist. Vielleicht kann er uns auch erklären, wieso Coen kopfüber am Haken hing.«
»Na, damit er in dem Becken ertrinken musste …« Sie zögerte. »Ach so, du meinst, wie kriegt man so einen kräftigen Mann in diese Position?«
»Mir ist gestern aufgefallen, dass der Kopf eigentümlich schräg lag. Vielleicht war sein Genick gebrochen. Es kann doch sein, dass er schon tot war, als er für das Publikum so unnachahmlich drapiert wurde.«
»Das müsste Arie uns erklären können. Wollen wir gleich los, oder trinkst du noch einen Kaffee?«, fragte Annemieke.
»Erst den Kaffee.«
»Warum frage ich überhaupt?«
Piet bestellte einen Zeeuwse Koffie, einen Bauernkaffee mit Kandiszucker und einem Bolus, einem Hefeteilchen mit Nussfüllung, auf den Butter gestrichen wurde, und gleich noch eine Tasse Kaffee extra.
»Der Bolus gehört zum Kaffee dazu, der kostet nichts extra«, erklärte er. »Zwei Kaffee, und du brauchst dir um das Frühstück keine Gedanken mehr zu machen. Und weißt du, warum ich diesen Coffie-Shop morgens so liebe?«
»Du wirst es mir bestimmt gleich sagen.« Annemieke seufzte.
»Da steht zwar ein Klavier in der Ecke, aber es gibt keine Musik!«
Vom Vismarkt, an dem das St. John lag, waren es nur fünf Minuten Fußweg bis zur Vlissingsestraat, wo die Pathologie in einem unansehnlichen Gebäude untergebracht war, das so gar nicht zu den amerikanischen Serien passen wollte, in denen junge, bildhübsche Medizinerinnen anhand einer einzigen Gewebezelle des völlig verkohlten Leichnams bestimmten, welches Eau de Toilette das Opfer am Todestag benutzt hatte.
Das Haus war alt, und nachdem Piet und Annemieke die Pförtnerloge passiert hatten, vermischte sich der Geruch des alten Gebäudes mit dem von Lysol, Carbol und von Kaninchen, die schon ein paar Tage tot waren.
Arie Tromp war seit Menschengedenken der patholoog-anatoom, der Gerichtsmediziner in Middelburg. Er wurde immer dann hinzugezogen, wenn die Afdeling Bloed, Zweet en Tranen an der Arbeit war. Manchmal kürzte er diese auch ab als Zwacri für Zware Criminaliteit. Tromp war nicht nur ein Ass in der Schule gewesen, auch beim Medizinstudium in Amsterdam war er einer der Jahrgangsbesten. Ihm hatten damals auch andere Türen offen gestanden als die zu dem alten Haus in der Vlissingsestraat, aber er war mit Haut und Haaren der Haut und den Haaren von Toten verfallen. Diesen und all den anderen ehemals lebensnotwendigen Bestandteilen, die bei ihm auf dem Tisch landeten.
Wenn Arie in Amsterdam oder Den Haag vor Gericht als Sachverständiger zu den kompliziertesten Fällen aussagte, dann wurde er von den Staatsanwälten oder Verteidigern manchmal unterschätzt. Meistens unterlief den Advokaten dieser Fehler aber nur einmal. Nein, man sah Arie nicht an, dass er eine Koryphäe war. Er sah weder wie ein Chefarzt aus noch wie ein vergeistigter Wissenschaftler. Er wirkte eher wie ein Bäckermeister, der morgens immer so früh aufstehen muss, dass er nachmittags zu müde ist, um seine Haut noch der Sonnenbestrahlung auszusetzen. Sein Teint wirkte ein bisschen mehlig, und seine Augen waren zu gut. Jemand von Tromps Kaliber hätte eine Brille tragen müssen, aber er brauchte keine. Genau wie er sich nach dem Studium geweigert hatte, durch eine gut gehende Praxis oder einen Chefarztposten ein reicher Mann zu werden, so hatte er es auch immer abgelehnt, seinen Lebensmittelpunkt in eine der pulsierenden Metropolen zu verlegen. Arie blieb seinem alten Seziertisch als forensischer onderzoeker in Middelburg treu. Und Piet war sich über eines völlig im Klaren: Das war ein verdammter Glücksfall für ihn und für das ganze politiebureau.
Als sie eintraten, hatte Arie sein Tête-à-Tête mit dem Toten gerade beendet. Coens Leichnam lag noch auf dem Marmortisch. Kein anderer Gerichtsmediziner der Niederlande, wahrscheinlich nicht einmal in ganz Europa, arbeitete noch an einem alten Marmortisch. Man benutzte mittlerweile Edelstahltische. Arie hatte einigen Einsatz darauf verwenden müssen, den Tisch überhaupt behalten zu dürfen. Laut einem Gutachten, das in irgendeinem Aktenschrank bei der EU in Brüssel vor sich hinschimmelte, litt Arie unter einer rätselhaften Edelstahlallergie. Eines wusste Piet: Arie war nicht verheiratet, aber er hielt in Treue fest zu seinem Tisch.
Der Gerichtsmediziner pellte sich die Gummihandschuhe von den Händen und bedeckte Coens leblosen Körper mit einer schwarzen Kunststofffolie. Es hatte den Anschein, als hätte Arie die ganze Nacht gearbeitet. Sein ohnehin schon mehliger Teint war noch eine Spur heller geworden. Hätte er sich für ein kleines Nickerchen neben Coen gelegt, ein Unbeteiligter hätte schwerlich sagen können, wer von beiden die Leiche war. Arie wusch sich die Hände, trocknete sie und sein Gesicht, dessen Durchblutung jedoch dieser Massage widerstand.
»Ich weiß, es ist noch sehr früh«, ergriff Annemieke das Wort, »aber können Sie uns zu diesem Zeitpunkt schon etwas Genaueres sagen?«
»Ich glaube, ich kann euch alles sagen, was es zu wissen gibt«, sagte Arie. »Der gute Herr Rimmel ist zwischen zwanzig Uhr dreißig und dreiundzwanzig Uhr dreißig verschieden. Genau genommen ist er ertrunken, allerdings nicht unbedingt in sauberem Wasser. Ich habe die Brühe aus der Entsorgungsstation in seiner Speiseröhre, in der Luftröhre, im Magen und in der Lunge gefunden.«
Piet runzelte die Stirn. »Arie, wie kriegt man einen Brocken wie Coen in eine solche Position?«
»Coen war zum Zeitpunkt seines Ablebens einen Meter sechsundachtzig groß und wog einundneunzig Kilo. Man hätte ihn also gar nicht in diese Situation bringen können, es sei denn, er hatte nichts dagegen. Dazu hätte man ihn allerdings vorher durch einen Schlag mit einem schweren Gegenstand auf den Hinterkopf außer Gefecht setzen müssen.«
»Und? Hat man?«
»Man hat, in der Tat. Der Schädel weist an der Hinterseite eine Fraktur auf, und es ist schon fast ein Wunder, dass dieser Schlag Coen nicht getötet hat.«
Annemieke schaltete sich ein. »Und das ist ausgeschlossen?«
»Ja, denn sonst hätte ich die Entsorgungsbrühe nicht in seiner Lunge gefunden. Nach dem Schlag war er bewusstlos, aber alle Vitalfunktionen waren noch intakt. Auch wenn ein Mensch bewusstlos ist, atmet er weiter. Und wenn ein Mensch atmet, kann er auch ertrinken.«
»Sonst noch was?«, fragte Piet.
»Reicht das nicht? Ihm hat’s gereicht.« Arie ging zum Marmortisch, löste die Arretierung an zwei Rädern und schob den Tisch aus dem Raum.
»Danke, Arie!«
Eilig verließen sie Aries heilige Hallen. Piet hatte ohnehin kein Verlangen verspürt, den Aufenthalt weiter auszudehnen.
»Wir sollten öfter mal bei Arie vorbeischauen«, sagte er, als sie nach draußen traten.
»Was?« In Annemiekes Augen stand eine Mischung aus Unverständnis und Entsetzen.
Piet atmete übertrieben durch die Nase ein und grinste. »Ja, man lernt die frische Seeluft wieder schätzen.«
Sie gingen den Beenhowers Singel entlang zum politiebureau. An der Anlegestelle des Ausflugsbootes versammelten sich die ersten Touristen.
»Warum schlägt man jemanden nieder, damit er bewusstlos ist, um ihn dann so aufzuhängen, dass er ertrinkt, und dann noch in Abwasser? Das ist doch sinnlos!«, sagte Piet und schüttelte ratlos den Kopf.
Annemieke zuckte mit den Schultern. »Weil man einem Ritual folgt, weil man uns bewusst in die Irre führen will oder weil man Coen so sehr gehasst hat, dass er Scheiße fressen sollte.«
»Und was wäre aus diesem Plan geworden, wenn der feste Gegenstand einen Tick zu heftig auf der Schädeldecke aufgeprallt wäre? Arie hat gesagt, es war fast ein Wunder, dass ihn nicht schon der Schlag getötet hat.«
»Wir werden es wohl nur erfahren, wenn wir den Mörder fragen. Aber den müssen wir erst finden.« Annemieke seufzte.
»Wir wissen mit einiger Wahrscheinlichkeit, dass der Mörder ein Mann ist. Es war bestimmt mit einigem Kraftaufwand verbunden, den bewusstlosen Coen so aufzuhängen. Wir suchen einen ziemlich kräftigen Mann mit einer großen Portion Fingerspitzengefühl im Schlagarm.« Piet grinste. »Wir fahren einfach nach de Grevelinge und spielen gegen alle männlichen Camper Tennis. Dann haben wir ihn.«