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Der grundlegende Unterschied zwischen einem Campingurlaub und einem Hotelaufenthalt liegt im Frühstücksraum. Im Hotel wird dieser von einer netten Dame mit Namensschild am dunkelgrauen Nadelstreifenkostüm bewacht. Diese fragt den Ankömmling zunächst nach seiner Zimmernummer, um den zahlenden Hotelgast vom schnöden Schnorrer zu trennen. Wenn sie einen dann eintreten lässt, fällt der erste Blick aufs Frühstücksbüffet, das Schlaraffenland, wo einem Nürnberger Rostbratwürstchen und Schalen voller Bircher Müsli in den Mund fliegen.

Ein solches Frühstücksbüffet gibt es im Wohnwagen nicht. Da macht man sich das Frühstück selber. Man springt kurz zum Bäcker, holt frische Brötchen und eine Zeitung, dann füllt man Kaffee in den Kaffeefilter, füllt Wasser in die Maschine, und während das Aroma von frischem Kaffee das Vorzelt erfüllt, deckt man gemütlich den Tisch. Schon kurze Zeit später genießt man mit der ganzen Familie ein herrliches Camperfrühstück.

 

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Zum Bäcker springen, Brötchen holen, Zeitung kaufen, Kaffee aufsetzen, Tisch decken – das sind allerhand Aufgaben, und diese Aufgaben wollen vom Familienvorstand ordnungsgemäß delegiert werden. Dabei ist darauf zu achten, dass die Aufgabenverteilung wie zufällig erscheint. Noch eleganter ist es, wenn die einzelnen Familienmitglieder die Arbeiten übernehmen, bevor diese an sie delegiert werden müssen. Das setzt allerdings eine gewisse Freiwilligkeit voraus, die im Fall pubertierender Familienmitglieder nicht vorausgesetzt werden kann. Eigentlich hat man nur eine Chance: Man baut auf das Phänomen »Hunger«.

Ich lag gegen halb neun in meinem Bett und lauschte in die Untiefen unseres Caravans hinein, um festzustellen, wessen unregelmäßige Atmung auf ein baldiges Erwachen hindeutete. Ich stellte fest: In unserem Caravan erwacht um halb neun außer mir niemand. Also drehte ich mich lieber noch mal um, denn wer zuerst aufsteht, den bestraft der Johnny. Wer zuerst wach ist, muss nämlich Brötchen holen.

Gegen Viertel nach neun war ich endgültig wach. Und ich war nicht der Einzige: Tristan konnte mich nicht täuschen. Ich hörte genau, dass auch er nur so tat, als ob er noch schliefe. Also begann ich, unrhythmisch zu schnarchen, erstens um klarzumachen, dass auch ich tatsächlich noch schlief, und zweitens, um die anderen subtil zu wecken …

Gegen zehn hatte ich endgültig verloren, denn ich musste aufs Klo. Ich putzte mir ungefähr eine Viertelstunde lang die Zähne. Vielleicht erbarmte sich in dieser Zeit jemand anderer und holte Brötchen.

Fehlanzeige!

Also noch mal kurz in den Wohnwagen gebrüllt: »Ihr könnt ja schon mal Kaffee aufsetzen!«, das Schild Gone to the beach ins Fenster gehängt und rauf aufs Fahrrad!

Dieser Morgen nach unserer denkwürdigen Ankunft auf de Grevelinge war wie jeder andere auch. Alles schlief noch, nur ich dackelte mit geputzten Zähnen und ungewaschenem Haar, in der alten grauen Jogginghose und meinem dunkelroten Lieblingssweatshirt zu Johnnys Supermarkt. In Holland gibt es weiche Brötchen, die ihr armes Leben in einer Plastiktüte fristen, und weil sie gleich zu mehreren in die Tüte und gleich zu mehreren Tüten ins Regal gesteckt werden, nehmen diese weichen Labberbrötchen erstaunliche Formen an. Die Überraschung ist: Ich liebe sie! Ich liebe diese weichen Labberbrötchen, obwohl das einzig Knusprige im Zusammenhang mit ihnen die Kassiererin in Johnnys Supermarkt ist.

Und auf diesen Brötchen isst Anne mit Vorliebe Hagelslag, Schokoladenstreusel, die man in Deutschland bestenfalls dazu verwendet, um Kuchen zu verzieren. In Holland isst Anne die Streusel auf den weichen Pappbrötchen und hält das Ganze für eine Delikatesse.

In Holland lieben wir auch Zeekraal und Lamsoren. Das sind Gemüsesorten, die es in Deutschland wahrscheinlich gar nicht gibt. Einmal hatte ich die deutschen Bezeichnungen dafür recherchiert. Zeekraal heißt »Queller«, und Lamsoren sagt man zu »Strandaster«. Also, mir hatte das nicht weitergeholfen. Ich hatte die Verkäuferin gefragt, wie man die Lamsoren zubereitet, und sie hatte geantwortet: »Wie Spinat, mit Zucker!«

Ich sage es ja immer wieder: Wer Spinat mit Zucker zubereitet, der wird niemals Fußball-Weltmeister. Wir bereiteten die Lamsoren wie Spinat zu, also ohne Zucker, und ich kann nur sagen: wunderbar!

Bei Johnny kaufte ich eine Tüte weiche Brötchen, dazu vier frische, Halbfettbutter, Schokostreusel, gekochten Schinken, Gouda, Leberwurst im Golddarm, Erdbeermarmelade, Milch, Kakao, also die gesamte Erstausstattung – mit einer Ausnahme: Bild und Express waren ausverkauft. Kein Wunder, es war schon halb elf.

An der Kasse traf ich Adi, Ganzjahrescamper und Tandemachsenbesitzer wie ich. Wir wohnen zuhause gerade mal zwanzig Kilometer voneinander entfernt, aber man sieht sich so gut wie nie. In Noordkapelle läuft man sich dauernd über den Weg. An diesem Morgen meckerte er, dass in seinem Wohnwagen nie jemand auf die Idee kam, selber Brötchen zu holen! Immer nur er – immer er! Ich erklärte ihm, dass sich Tristan und Edda darum reißen, aber so ein Frühstück, das ist ja auch Verantwortung, Nährstoffe und so. Und ich kaufe schließlich sehr gerne ein!

Adi hatte auch keine Zeitung mehr abbekommen. Das war heute nicht so schlimm. Die Nachrichten, die uns an diesem Morgen interessierten, hätte man in den deutschen Zeitungen, die immer gegen zehn ausverkauft sind, ohnehin nicht gefunden.

»Da steht man hier – wie immer – und holt seine Brötchen, und das Leben geht einfach so weiter.« Adi schüttelte den Kopf. »Die Geschichte mit Coen ist wirklich unglaublich! Also, das eine sage ich dir: Irgendeine zufällige Geschichte war das nicht! So was wie Raubmord oder beim Einbruch überrascht. Hast du gehört, was da passiert ist? Der Coen soll kopfüber im Entsorgungsbecken für die Chemieklos gehangen haben. Kopfüber, mit den Füßen an der Decke aufgehängt! Das geht nicht mal eben so schnell, schnell. Das hat jemand von langer Hand geplant. Also, für mich gibt’s da nur zwei Möglichkeiten: Frauen oder Geld!«

Wir schoben unsere Fahrräder nach Hause. Ich hatte die Einkäufe im Fahrradkorb, Adi hatte seine links und rechts an den Lenker gehängt. So schlenderten wir über den Platz.

Ein Grünspechtpärchen vollführte Tiefflugkunststücke über dem Weg, bis einer von beiden am Stamm einer Ulme landete und in der typischen Spechthaltung loshämmerte. Der zweite Grünspecht setzte sich auf einen Ast und schaute dem anderen gebannt zu, wahrscheinlich war es das Weibchen. Das ist auch bei Grünspechten so, gute Handwerker sind begehrt.

»Wie hat Babette eigentlich reagiert, als sie gehört hat, dass der Tote Coen ist?«, fragte ich beiläufig.

»Wie sie reagiert hat?«, fragte Adi irritiert. »Na, sie war traurig, das bin ich ja auch! Und sie hat sich an Pfingsten noch so gut mit ihm unterhalten.«

Wir gingen noch eine Weile nebeneinanderher. An Adis Stellplatz verabschiedeten wir uns. Er hat einen Eckplatz, der durch eine grüne Ligusterhecke und einen beige-weißen Windschutz von der Straße abgeschottet ist. Der Windschutz ist aus dem gleichen Stoff wie sein Vorzelt. Ja, Geschmack hat sie, die Babette.

Ich stellte mein Fahrrad in den Fahrradständer vor dem Wohnwagen. Mir fiel auf, dass bei Lothar anscheinend noch alle schliefen. In Wahrheit lagen natürlich alle in ihren Betten und warteten darauf, dass ein anderer Brötchen holen ging.

Noch bevor ich das Vorzelt öffnete, drang Kaffeeduft in meine Nase. Dieser, gepaart mit dem Odeur, der meiner Brötchentüte entströmte, wehte mir die trübsinnigen Gedanken von Mordlust und Motivsuche aus dem Hirn und hinterließ einfach ein bisschen blauen Himmel. Urlaub!

Die Kinder hatten den Tisch gedeckt, und Anne, die gähnend aus dem Wohnwagen kam, sah total süß aus. Natürlich gab es eine mittelschwere Schlägerei, wer die Schokostreusel als Erster streuseln durfte. Das war ein Streit, den ich beinahe genoss. Als harmoniebedürftiges Kerlchen kann ich Streit überhaupt nicht gebrauchen, aber ich bin auch nicht weltfremd. Wenn sie also unbedingt streiten müssen, dann am besten wegen der Schokostreusel, denn die mag ich nicht. Da konnte ich mich also heraushalten.

Eddas Handy klingelte. Ihre Freundin Kim hatte schon mitbekommen, dass wir angekommen waren, und sie hatte mit Sabrina besprochen, dass sie sich sofort und äußerst dringend mit Mel und Edda treffen musste. Weg war sie. Tristan stand auch auf, nahm sich ein Brötchen vom Tisch, griff sich eine Angel und verließ uns mit den Worten: »Der frühe Wurm fängt den Vogel.« Komiker!

Anne kaute auf ihrem mit Schokostreuseln bestreuselten Pappbrötchen herum und starrte dabei Löcher in das Plastikfenster unseres Vorzelts. Sie hielt sich offenbar in völlig anderen Sphären auf, denn sie zuckte regelrecht zusammen, als ich fragte: »Was war hier eigentlich Pfingsten los?«

»Pfingsten?«, fragte sie. »Was soll hier an Pfingsten los gewesen sein? Sonst wart ihr Männer mit den Kindern hier, diesmal waren die Strickweiber unterwegs.«

»Das war ja auch ’ne prima Idee! Aber …« Ich wurde von Edda unterbrochen, die mit drei Mädchen im Schlepptau ins Vorzelt trat.

»Mama, weißt du, wo mein Bikini ist? Wir wollen ins neue Schwimmbad.«

»Nein, so auf Anhieb weiß ich das nicht. Komm, wir gehen zum Auto und suchen ihn.«

Die Badebekleidung einer Zwölfjährigen ist kein Papa-Thema. Sie entzieht sich dem väterlichen Kompetenzbereich, das sah ich vollkommen ein. Ich war sogar ein wenig froh darüber, denn so ein Badeanzug ist etwas ganz Besonderes. Mädchen mit zwölf wollen schön sein, aber nicht zu sehr auffallen, bloß nicht sexy aussehen, aber auch nicht langweilig wirken. Ein Ding der Unmöglichkeit in meinen Augen. Genauso gut könnte man versuchen, einen Badeanzug zu kreieren, der bunt ist, aber auch schwarz, mit tiefem Dekolleté und Rollkragen.

Eine Minute später saß ich allein im Vorzelt und fragte mich immer noch, was Pfingsten los gewesen war. Sonst waren an diesem Wochenende immer die Männer mit den Kindern auf den Campingplatz gefahren. Sechs Männer, dreizehn Kinder. Dieses Jahr hatten wir es anders gemacht. Sechs Frauen und dreizehn Kinder waren auf den Campingplatz gefahren. Die Männer waren allein zu Hause geblieben.

An das letzte Jahr konnte ich mich noch gut erinnern, wir waren mit den Kindern segeln gewesen, hatten Fußball gespielt wie die Bekloppten, und abends … da hatten wir noch ein paar Gläschen Trappistenbier geleert, und dann noch ein paar Gläschen …

Wenn ich mich nun fragte, was danach passiert war, dann konnte ich das nicht mehr beantworten. Wenn ich Anne fragte, dann wollte sie das nicht beantworten. Das war der grundlegende Unterschied!