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Das Tollste am politiebureau in Middelburg war sicherlich die Lage. Es war nur eine Straßenecke weit von den Kloveniersdoelen entfernt, dem berühmten Schützenhof aus dem siebzehnten Jahrhundert, dem ehemaligen Sitz der Ostindien-Kompanie, deren Schiffe von Middelburg aus den weiten Weg nach Ostasien angetreten hatten. Diese Schiffe hatten großen Reichtum in die Stadt gebracht. In der heutigen Zeit lebten die Middelburger eher von den deutschen Touristen. Leider waren es auch Deutsche gewesen, die Anfang Mai 1940 große Teile der Stadt zerstört hatten.
Das Motto der Stadt Middelburg lautet Lucto et emergo: Ich strauchele und erhebe mich wieder. Es hatte die Wikinger gegeben, Sturmfluten, Brandkatastrophen, das Flüsschen Arne war versandet, und der Hafen hatte seine Bedeutung verloren. Zuerst hatten die Deutschen die Stadt bombardiert, dann waren es die Engländer gewesen. Middelburg war immer wieder aufgestanden.
An derselben Straße wie die Kloveniersdoelen, Achter de Houttuinen, lag auch das politiebureau, beileibe kein so herrliches Haus wie der berühmte Renaissancebau in der Nachbarschaft. Wenn man etwas Freundliches über den Architekten sagen wollte, dann konnte man das Gebäude als »zweckmäßig« bezeichnen, mehr aber auch nicht. Wenn man von außen auf das Gebäude schaute, dann fiel der Blick auf eine Siebzigerjahre-Tristesse, aber wenn man von innen aus dem Gebäude hinaussah, dann war es eine Pracht. Piet saß in Annemiekes Büro auf ihrem Schreibtisch und genoss den Blick auf den inneren Grachtenring, der sich an den Binnenhaven mit den kaaien anschloss. Dieser Blick hielt in Piet dieses besondere Gefühl von Heimat wach. Sein Elternhaus lag nur fünf Minuten zu Fuß von hier entfernt. Wenn er verreist war und nur für ein paar Wochen nicht auf dieses Wasser sehen konnte, dann fehlte ihm wirklich etwas. Ja, Piet verreiste ungern.
Der Blick durch das Fenster auf die Gracht und auf den dahinter gelegenen Molenberg war der eine große Vorteil von Annemiekes Büro. Der andere war die Kaffeemaschine. Wenn man die Qualität des aromatisch duftenden Getränks aus Annemiekes Maschine mit der lauwarmen dunkelbraunen Brühe aus dem riesigen Automaten im Erdgeschoss verglich, dann fehlten einem schon mal die passenden Vokabeln. Ein Unterschied wie Tag und Nacht, wie Himmel und Hölle, das war alles noch untertrieben. Piet ließ den Duft langsam in die Nasenhöhlen steigen.
Annemieke blätterte in ihren Unterlagen, ihr Blick blieb bei den Fotos, die Isabelle ihnen gegeben hatte. Letzten Herbst, London, was für ein schöner Mann, was für ein glückliches Paar, dachte Annemieke.
»Sag mal, kannst du eigentlich segeln?«, fragte Piet unvermittelt.
»Mein Vater ist reich, und ich bin Niederländerin. Also was soll die Frage? Natürlich kann ich segeln!«
Piet holte seine Jacke vom Garderobenhaken und nahm das Stück Festmacherleine aus der Seitentasche. »Mach mal einen Palstek.«
Annemieke nahm das Seil. »Du musst erst einen Brunnen legen, dann kommt die Schlange aus dem Brunnen, um den Baum herum und wieder in den Brunnen zurück. Fertig!«
Piet schaute sich den Seglerknoten an, zog an der Schlinge und steckte das Seil wieder zurück in die Seitentasche seiner Jacke.
Annemieke blickte ihn forschend an. »Du bist also sicher, dass Eifersucht das Motiv ist? Du meinst, ein Kantinenwirt hat nicht viel Geld, deswegen können keine wirtschaftlichen Interessen im Vordergrund stehen.«
»Richtig«, antwortete Piet.
»Aber wir haben immer noch die Geschichte mit diesem Bram van Buyten«, wandte sie ein.
»Komm mir nicht schon wieder damit! Da geht es doch um Kleingeld!«, nörgelte Piet.
»Ja, da geht es um relativ wenig Geld. Man kann eigentlich nicht von wirtschaftlichen Interessen reden, aber wenn Coen wirklich Wind von diesem Betrug bekommen hatte, dann hätte er es seinem Schwager Wim vielleicht gesteckt. Van Buyten wäre wohl nicht nur seinen Job für Camping de Grevelinge los gewesen. Ich habe das mal recherchiert. Er zählt sieben Campingplätze zu seinen Klienten. So können aus achtzehn Euro vierzig plötzlich doch handfeste wirtschaftliche Interessen werden.«
Piet überlegte. »Und wieso sollte ausgerechnet Coen Wind von der Sache kriegen?«
»Na ja, Bram van Buyten steht auch mit auf Anouks Liste, das ist die Serviererin in der Kantine. Und Anouk sagt, er wär ein netter Kerl, aber wenn er voll ist, dann pisst er einen verdammt breiten Strahl!«
»Das hat Anouk gesagt?«, fragte Piet und zog die Augenbrauen hoch.
»Ja natürlich, und zwar wörtlich, oder meinst du, das wäre mein Vokabular? Vielleicht hat Bram van Buyten Coen im besoffenen Kopf voller Stolz seinen schlauen Coup vorgerechnet. Und als er wieder nüchtern war, ist ihm aufgefallen, dass jetzt einer zu viel weiß.«
In Piets Blick lag amüsierte Skepsis. »Und das glaubst du wirklich?«
»Das glaube ich nicht«, sagte Annemieke mit fester Stimme, »aber ich halte es für möglich.«
»Dann sollten wir diese Möglichkeit mal eben ausschließen.«
»Und wie willst du das machen?«, fragte sie.
Piet grinste. »Das zeige ich dir. Auf geht’s. Wir machen Campingurlaub!«
»Jetzt noch?«, fragte seine Assistentin. »Es ist gleich neun!«
»Nach meinen bisherigen Erfahrungen ist das genau die Zeit, wo man auf de Grevelinge jeden zu Hause antrifft.
»Zu Hause – oder in der Kantine! Also los!« Annemieke ergriff ihre Tasche und ihre Jacke.
Sie verließen das Büro. Noch bevor sie das Treppenhaus erreicht hatten, stellte Piet fest, dass ihm etwas fehlte. »Moment, ich habe meine Pistole nicht dabei.«
»Wofür brauchst du eine Pistole?«
»Ich muss eine Möglichkeit ausschließen«, murmelte er, lief in sein Büro und holte die Walther P5 aus der Schublade.
Der Peugeot passierte die Schranke um kurz nach neun. Bram van Buyten stand mit Schürze und Grillzange vor seinem Vorzelt.
»Sieh an, der Herr Steuerberater bereitet das Abendessen«, sagte Piet spöttisch.
Annemieke lachte. »Ja, vor dem Grill sind alle gleich.«
»Goedenavond, Mijnheer van Buyten!«, grüßte Piet. »Wir müssen mit Ihnen reden. Können wir in den Wohnwagen gehen?«
»Aber warum …?«
»Das werden Sie gleich erfahren«, sagte der Inspecteur.
Annemieke vermied jeden fragenden Blick in seine Richtung, obwohl ihr sein Verhalten eine Menge Rätsel aufgab. Piet setzte sich ungefragt in einen der edlen Teakholzsessel und spielte den Gastgeber. »Nehmen Sie Platz, Mijnheer van Buyten!«
Der tat wie ihm geheißen. »Wie kann ich Ihnen helfen?«
»Indem Sie ein Geständnis ablegen.« Piet nahm seine Pistole aus dem Halfter und legte sie auf die blau-weiße Stofftischdecke. »Ich nehme Sie fest, weil Sie in dringendem Tatverdacht stehen, den Kantinenwirt Coen Rimmel getötet zu haben.«
Bram van Buytens Gesicht nahm eine rötliche Färbung an. Er schüttelte empört den Kopf. »Jetzt hören Sie aber auf! Warum hätte ich denn das bitte sehr tun sollen?«
»Brigadier Breukink, erläutern Sie Mijnheer van Buyten den Stand unserer Ermittlungen.«
Annemieke stand mit dem Rücken zum Fenster vor der Sitzgruppe und nahm ihr Notizbuch aus der Handtasche. Sie schlug es auf und deklamierte: »Sie sind der Steuerberater des Campingplatzes de Grevelinge. Aus unerfindlichen Gründen überweisen die Dauercamper ihre Platzmiete an Sie und nicht auf ein Konto des Campingplatzes. Die Platzmiete beträgt zweitausendeinhundertvierunddreißig Euro vierzig. Sie überweisen davon allerdings nur noch zweitausendeinhundertsechzehn Euro an den Inhaber des Campingplatzes.«
»Aha, und wegen einer Provision von achtzehn Euro vierzig bringe ich den Kantinenwirt um. Das glauben Sie doch wohl selber nicht!«
Annemieke fuhr ungerührt fort: »Bei diesem Fehlbetrag kann es sich nicht um eine Provision handeln, weil Sie Ihre Rechung für das Rechnungsjahr jeweils am ersten Februar des darauf folgenden Jahres stellen und diese auch grundsätzlich innerhalb von zehn Tagen beglichen wird. Multipliziert man den einbehaltenen Betrag von achtzehn Euro vierzig mit der Anzahl der Ganzjahresstellplätze von einhundertsechzehn, so erhält man eine Summe von wiederum zweitausendeinhundertvierunddreißig Euro und vierzig Cent, was genau einer Jahresplatzmiete entspricht.«
Bram van Buyten sprang auf. »Und was hat das mit Coen Rimmel zu tun?«
Annemieke blätterte das Blatt ihres Notizbuchs um. »Anouk Gerritsen, die Bedienung in Coens Gaststätte, hat uns erzählt, dass Sie zu den regelmäßigen Besuchern zählten. Wir gehen davon aus, dass Sie selbst ihm …«
»Nein, gottverdammt noch mal!« Van Buyten war puterrot angelaufen, er schlug mit der Faust auf den Tisch. »Ich habe das niemandem gesagt! Und ich habe keine Ahnung, woher Sie das wissen. Ich … ich bin doch nicht bescheuert!«
»Aber Sie sind ein Betrüger«, stellte Piet fest.
»Vielleicht bin ich ein Betrüger, aber ich bin doch kein Mörder. Ich … ich war sauer, weil mein Platz in einem einzigen Jahr über hundertzwanzig Euro teurer geworden ist. Das sind fast acht Prozent, dass müssen Sie sich mal vorstellen!«
Annemieke blätterte mehrere Seiten zurück. »Es hat große Investitionen gegeben: ein Spieleparadies mit Kletterwand, ein Hallenbad, ein neues Café.«
Es war einen Augenblick lang still im Vorzelt des Wohnwagens von Bram van Buyten. Piet schaute kurz auf. »Und?«
Wieder verstrichen einige stille Sekunden, bis van Buyten sagte: »Ich habe keine Enkel, und ich kann nicht schwimmen.«
Piet sah ihn nur an. Es lag keine Aufforderung in seinem Blick. Van Buyten hätte jetzt auch einfach still sein können, aber er war noch nicht fertig. »Ich fand diese Preiserhöhung verdammt noch mal ungerecht. Ich habe mit Wim darüber gesprochen. Ich habe ihm gesagt: Das kannst du nicht machen!, aber er musste ja unbedingt den modernsten Platz auf ganz Walcheren haben. Ich war stinksauer, und dann habe ich mir halt meine Platzmiete zurückgeholt. Keinen Cent mehr und keinen Cent weniger. Ich wollte nicht, dass mir dieser Ärger meinen Urlaub kaputt macht. Verstehen Sie das? Ich bin seit über zwanzig Jahren auf diesem Platz. Von mir aus hätten sie ihn so lassen können.«
Piet steckte seine Pistole wieder in den Halfter, stand auf, ging zur Tür, drehte sich um und sagte: »Wir sind für kapitale Delikte zuständig. Ihre kleine Betrügerei ist zwar ein Delikt, aber sie ist nicht kapital. Ich habe auch keine Lust, Sie deswegen bei irgendwem anzuzeigen, das werden Sie wohl selbst tun müssen. Ich weiß im Moment noch nicht, wie Sie das Wim erklären wollen, aber das ist auch nicht mein Problem. Ich gebe Ihnen, sagen wir mal, vierundzwanzig Stunden, um die Sache mit Wim in Ordnung zu bringen. Wenn Sie es nicht tun, mache ich das. Haben wir uns verstanden?«
»Ich habe Coen nicht umgebracht, das müssen Sie mir glauben! Ich habe nie mit ihm darüber gesprochen!«
»Das habe ich auch nie gedacht. Klang das so? Na ja, manchmal gehen die Pferde mit mir durch«, sagte Piet.
»Ich werde das in Ordnung bringen«, versprach van Buyten. »Ich regele das, glauben Sie mir!« Er redete gegen die offene Vorzelttür, durch die Piet und Annemieke das gemütliche van Buyten’sche Wohnzimmer schon längst verlassen hatten.
Die beiden waren schon fast an ihrem Dienstwagen angelangt, als Annemieke nicht mehr an sich halten konnte: »Sag mal, bist du eigentlich wahnsinnig?«
»Wieso? Du wolltest doch, dass wir diese Spur verfolgen. Ich glaube, jetzt können wir sie ausschließen.«
Annemieke schüttelte den Kopf. »Aber du kannst doch nicht deine Knarre auf den Tisch legen und sagen: Sie sind festgenommen!«
»Van Buyten ist Steuerberater. Steuerberater! Wenn du den gefragt hättest, wieso er achtzehn Euro vierzig zu wenig überwiesen hat, der hätte sich in seinem Sessel zurückgelehnt wie Marlon Brando in ›Der Pate‹. Ein Steuerberater ist einem Polizisten in Finanzdingen so hilfreich wie Bernhard und Bianca der Katze. Der hätte dir das Blaue vom Himmel heruntergelogen. Darauf gebe ich dir Brief und Siegel.«
»Aber deswegen legt man doch nicht seine Knarre auf den Tisch! Du bist mit Kanonen auf Spatzen losgegangen«, sagte Annemieke.
»Du warst dir nicht sicher, ob er ein Spatz ist. Und wenn man eine Schießerei gewinnen will, dann kommt es manchmal auf die Munition an.«