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Dieses Vorzelt war grün-grau-weiß. Das war – wie schon bei den Schreiners - etwas Besonderes. Fast alle anderen hatten Blau als Grundfarbe. Aber es war nicht die einzige Besonderheit. Hier wohnten Gerd und Uschi Balkenhol aus Duisburg. Wenn man so hieß, konnte man durchaus auch in Middelburg wohnen, aber das wäre sicher nicht das gewesen, was Piet im Gedächtnis geblieben wäre. Nein, es war etwas anderes: Gerd Balkenhol war Arzt. Das war doch bekloppt! Warum machte jemand, der so einen Job hatte, Campingurlaub in Holland? Warum lag der nicht gerade auf der Sonnenterrasse vom Robinson Club auf Fuerteventura?

Das war die erste Frage, die Piet stellte, als er und Annemieke in den Sesseln in Gerds Vorzelt Platz genommen hatten.

Uschi hatte Kaffee gemacht. Sie hatte sich vorher erkundigt, welche Geschmacksrichtung denn genehm sein würde: Vienna, Rio de Janeiro oder Sevilla? Piet hatte sich für Vienna entschieden, denn Wien war die einzige Stadt, die er mit einem Kaffee verband: Er hatte mal im Café Hawelka einen unglaublich guten Kaffee getrunken. Der Kaffee, den Uschi ihnen in lustigen, mit der Flagge Zeelands verzierten Tassen servierte, hatte mit der beim Hawelka kredenzten Melange aber auch mal gar nichts zu tun, aber schlecht war er nicht. Mit irgendwas parfümiert, aber nicht schlecht.

Das Vorzelt von Uschi und Gerd Balkenhol war mit einer Rattansitzgruppe bestuhlt, ein Weichholz-Sideboard bot Platz für den Fernseher und zwei ziemlich alt aussehende Kerzenleuchter. Auf dem Fußboden lag ein grün eingefasster Sisalteppich, und auf dem Tisch dampfte Kaffee, der aus einem unerfindlichen Grund Vienna hieß. Diese Camper fanden ihren eigenen Luxus. Sie suchten ihn vielleicht nicht, aber sie fanden ihn. Der Patio eines durchschnittlichen Ferienhauses in Spanien hätte auch nicht gemütlicher sein können.

Piet begann seinen Monolog. »Herr Balkenhol, Sie haben die Leiche gefunden: eine Frau, nur mit einem Slip bekleidet, den Kopf in der Gracht. Ist Ihnen sonst noch irgendwas aufgefallen, das uns weiterhelfen könnte?«

Er wusste genau, welche Antwort nun folgen würde. Die Antwort würde lauten: »Nein, nichts.« Aber Gerd Balkenhols Antwort überraschte ihn noch mehr als das Interieur des Vorzelts. »Na ja«, erklärte der Arzt, »sie hatte wohl einen starken Schlag auf den Hinterkopf bekommen und ist erst hinterher in die Position gebracht worden, in der sie ertrank und in der wir sie dann gefunden haben.« Er stand auf und holte ein Etui aus der Schublade im Sideboard. Dem Etui wiederum entnahm er eine Pfeife. Der Tabak lag auch in der Schublade. Er setzte sich wieder, begann sich die Pfeife zu stopfen und fragte dann: »Stört es Sie, wenn ich rauche?«

Piet schüttelte den Kopf. »Nein, ganz und gar nicht.«

»Der Pathologe wird Ihnen das schon erzählt haben«, sagte Gerd Balkenhol.

»Ja, das hat er. Es war exakt das gleiche Muster wie bei dem Mord an Coen Rimmel. Die Frau wurde durch einen Schlag mit einem stumpfen Gegenstand außer Gefecht gesetzt, aber nicht getötet. Todesursache war Ertrinken. Bei der Obduktion fand sich das Grachtwasser in der Luftröhre, in der Speiseröhre, in den Lungen.«

Balkenhol hatte seine Pfeife gestopft und entzündete sie jetzt mit einem Feuerzeug, das die Flamme seitlich ausstieß. »Warum hat es dem Mörder nicht gereicht, sie einfach zu erschlagen? Sie muss doch schon halb tot gewesen sein. Das frage ich mich.«

»Das fragen wir uns auch«, sagte Annemieke. »Vielleicht steckt eine Art Ritual dahinter. Der erste Tote ertrank in einer Kloake, und wenn wir mal ganz ehrlich sind, in der Gracht fließt auch nicht gerade Trinkwasser. Vielleicht ist es eine Art von Bestrafung.«

Balkenhol nickte bedächtig. »Ja, so sieht es zumindest aus.« Er nahm einen Zug aus der Pfeife und stieß den Rauch genüsslich aus.

Piet zählte die Schlingen des Sisalteppichs, doch dann sah er auf. »Sehen Sie einen Zusammenhang zwischen den beiden Toten? Wissen Sie von einer Affäre oder einer anderen Art von Beziehung?« Er schaute Uschi Balkenhol an.

»Wir haben ja unseren Mama-Urlaub gemacht, über Pfingsten. Da war sie dabei. Vielleicht hatte sie dem Coen schöne Augen gemacht. Aber wir hatten doch alle ein bisschen was getrunken. Also, ich glaube nicht, dass da was gewesen ist zwischen den beiden. Wir waren schließlich die meiste Zeit zusammen.«

Annemieke fragte nach: »Wer war zusammen?«

»Na, Anne, Babette, Gaby und ich. Andrea haben wir hier kennengelernt. Die war auch allein mit der Tochter ihres neuen Freundes.«

»Und abends waren Sie dann bei Coen Rimmel in der Kantine?«, fragte Piet.

»Ja, die Kinder haben gespielt, und wir haben ein bisschen was getrunken.«

»Und mit Coen geflirtet?«

»Ich nicht!«, protestierte Uschi Balkenhol heftig.

Annemieke blickte in ihre Notizen, dann sah sie Uschi direkt in die Augen und lächelte. »Aber die anderen.«

»Nicht alle.«

»Aber fast alle?«

»Fast alle.«

Piet wandte sich wieder an Gerd Balkenhol. »Sie sind Arzt.«

»Ja, ich bin Anästhesist. Aber zurzeit arbeite ich als Schmerztherapeut. Ich habe eine Praxis in Duisburg.« Er zog wieder an der Pfeife.

»Deshalb haben Sie die Verletzung am Hinterkopf bemerkt.«

»Nein.«

»Nein?«

»Nein.«

»Sie haben doch gerade gesagt …«

»Als die Frau abgenommen wurde, habe ich ein leichtes Brillenhämatom bemerkt«, erklärte Balkenhol. »Ein Brillenhämatom entsteht, wenn man einen schweren Schlag auf den Kopf bekommen hat.«

»Ah ja …«, sagte Piet und wiederholte: »Ein Brillenhämatom?«

»Ja, wenn Sie so wollen, ein doppeltes blaues Auge. Nicht sehr ausgeprägt, aber es war eindeutig vorhanden.«

»Und daraus haben Sie geschlossen, dass die Frau durch einen harten Schlag auf den Kopf außer Gefecht gesetzt worden war.«

»Ja. Und zwei, drei Stunden später ist sie dann ertränkt worden.«

»Bitte?« Balkenhol runzelte die Stirn.

Piet hakte nach: »Zwei, drei Stunden später?«

»Das Hämatom entsteht, weil sich das Blut im Augenbereich sammelt, aber das tut es natürlich nur, wenn es noch fließt. Wenn man tot ist, fließt kein Blut mehr.«

Piet starrte den Arzt an. Er gab sich ziemlich viel Mühe, nicht auszusehen wie ein kleiner Junge, der fasziniert einen Zauberer beobachtet, wie der ein Kaninchen nach dem anderen aus dem Zylinder zieht.

Balkenhol unterbrach seine Gedanken: »Ich habe da noch eine Frage.«

»Ich auch!«