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Endlich wieder auf Barrys Terrasse. Ich hatte vergessen, wie hier die Luft riecht. Sie riecht nach Salz und See und Sand. Unser Urlaub hatte begonnen. Endlich wieder Wohnwagen, endlich wieder Windmühlen, Grachten und den Hintern aufs Fahrrad! Vor ein paar Stunden hatte ich nicht geglaubt, dass wir es heute noch schaffen würden. Der erste Urlaubstag von Familie Lehnen läuft immer gleich ab.

Wir müssen früh aufbrechen, denn es dauert ein paar Stunden, bis wir es uns richtig gemütlich gemacht haben. Erst muss die Kaffeemaschine aufgebaut, Strom und Wasser müssen angeschlossen werden. Dann werden Nachbarn begrüßt, der Tisch wird nach draußen gestellt und Stühle drum rum. Und wenn das alles erledigt ist, fehlt noch etwas Entscheidendes: Wir müssen früh genug auf dem Campingplatz sein, damit wir noch im Hellen an den Strand können! Also nehmen wir uns stets vor, spätestens um zehn loszufahren.

Dann jedoch fehlte Tristans Angelausrüstung. Gegen elf musste Anne noch eben kurz überprüfen, ob Waschmaschine und Trockner aus waren, und als endlich alle im Auto saßen, hatte Edda die Adressen der Freundinnen nicht dabei. Die sind im Computer, aber der Drucker ist kaputt. »Papa, ich schreib die ganz schnell ab!« Gegen zwölf waren die Kaninchen noch nicht gefüttert. Und um halb eins kriegte ich Hunger.

Es war schon elf Minuten nach zwei, als wir dieses Mal endlich im Auto saßen. Anne lächelte mich von der Seite an und sagte: »Weißt du noch, vor sieben, acht Jahren, da hatten wir noch die Benjamin-Blümchen-Kassette in der Stereoanlage. Die haben wir in einem einzigen Urlaub hundertneununddreißig Mal gehört.«

Ich seufzte wehmütig. »Ja, vor sieben, acht Jahren, da hatten wir noch einen Kassettenspieler im Auto. Heute wissen Edda und Tristan nicht mal mehr, wie Kassetten aussehen.«

Tristan saß hinter mir, Edda hinter Anne. Beide konnten unser Gespräch nicht mithören, weil sie die kleinen weißen Ohrstecker ihrer MP3-Player in den Ohren hatten. Sie hören nicht mehr Benjamin Blümchen. Tristan hört am liebsten Rap: Eminem, Bushido oder Snoop Dogg. Edda steht auf Tokio Hotel.

Ich habe mir den Sänger der Band, diesen Bill, den mit den langen schwarzen Haaren und mit den schwarz geschminkten Augen, ganz genau angeschaut. Ich muss über ihn Bescheid wissen, weil es immerhin sein kann, dass er mein Schwiegersohn wird. Er weiß es noch nicht, aber Edda ist sich sehr sicher!

Ich habe mittlerweile Konzerte von Tokio Hotel, Bushido, und 50 Cent hinter mir. Falls Sie irgendwann auf die Idee kommen sollten, ein 50-Cent-Konzert besuchen zu wollen, kann ich Ihnen nur davon abraten. Der Mann steht fünfzig Minuten auf der Bühne, dann schmeißt er seine Schuhe ins Publikum und haut ab. Und er kommt nicht wieder, keine Zugabe, nix! Außerdem heißt er zwar 50 Cent, kostet aber 50 Euro. Bei Tokio Hotel ist schon mehr los. Ich weiß nicht, ob Sie wissen, dass ein startender Jumbo in hundert Metern Entfernung einen Krach von hundertdreißig Dezibel verursacht. Beim Tokio-Hotel-Konzert im Palladium in Köln wurden hundertsiebenunddreißig Dezibel gemessen, noch bevor die Jungs auf der Bühne waren, nur durch das Gekreische der viertausend aufgebretzelten Weihnachtsbäume im Publikum.

Jetzt denken Sie wahrscheinlich: Na, wenn die Kinder die Musik im Auto über Kopfhörer gehört haben, dann war es ja kein Problem. Es wäre auch keins gewesen, wenn sie nur zugehört hätten. Aber beide sangen mit!

Etwas anderes hatte sich ganz eindeutig zum Positiven gewendet: Auf dem Campingplatz de Grevelinge in Walcheren wartete unser Dethleffs 560 TK auf einem Stellplatz mit sanitair privé, einem kleinen Waschhaus ganz für uns alleine, mit Dusche, mit Waschbecken, mit Toilette, einem kleinen Nasszellenbereich, den Anne mit viel Liebe und mit vielen blauweißen Accessoires in einen maritimen Wellnessbereich auf zweieinhalb Quadratmetern verwandelt hatte. Deswegen waren wir heute ohne Wohnanhänger auf den belgischen und niederländischen Autobahnen unterwegs. So mussten wir uns nicht an die Höchstgeschwindigkeit von achtzig Stundenkilometern halten, die für Fahrzeuge mit Anhänger vorgesehen waren. Die allgemeine Höchstgeschwindigkeit von hundertzwanzig sollte man dennoch nicht überschreiten, wenn einem sein Urlaubsgeld lieb ist. Im Urlaub wird ja bekanntlich viel fotografiert, und die Autobahnpolizei fängt gerne damit an.

Auf der A 58 zwischen Bergen op Zoom und Vlissingen hieß die anvisierte Abfahrt 39 Middelburg, Domburg, Terneuzen. Es war wieder nicht zwölf Uhr mittags wie geplant, es war schon sechs Uhr nachmittags, als ich endlich den Blinker nach rechts setzte.

»Lasst uns gleich mit dem Wagen an den Strand fahren, sonst schaffen wir es heute gar nicht mehr«, schlug Anne vor. Edda und Tristan stimmten zu. Sie hatten tatsächlich die Kopfhörer aus den Ohren genommen, als wir über die Zugbrücke in Middelburg gefahren waren.

Der Strandparkplatz von Noordkapelle liegt fünfhundert Meter vom Deich entfernt. Ein Fußweg führt durch das Naturschutzgebiet in den Dünen bis zum Deich. Es gibt ein paar Bäume, denen man ansieht, dass hier der Wind oft von der See her weht. Die Eichen sind nicht größer als Büsche. Die Strandaster sorgt dafür, dass die Düne da bleibt, wo sie ist. Eine Fasanenfamilie hat sich anscheinend an Fußgänger gewöhnt.

Der Deich ist nicht hoch, aber er verwehrte mir trotzdem die Sicht auf die Nordsee. Ich konnte das Meer noch nicht sehen, aber ich konnte es riechen. Meine Schritte wurden langsamer, obwohl ich mir jetzt nichts sehnlicher wünschte, als das Meer zu sehen! Oben auf dem Deich blieb ich stehen und schaute auf die Wellen. Ich spürte einen Anflug von Demut. Wenn man das Meer sieht, dann merkt man endlich wieder, wie klein man selber ist, wie klein die kleinen Alltagssorgen sind. Wenn ich am Meer bin, kann die Seele baumeln.

Hier, an dieser Stelle, direkt hinter dem Deich, gehen die Deutschen noch genau sieben Meter, bis sie Sand unter ihren Füßen spüren. Dann lassen sie sich fallen. Einfach so. Deshalb sieht es hier direkt hinter dem Deich auch immer ein bisschen so aus wie in Rimini. Die Leute liegen da wie die Ölsardinen.

Wir gingen hundert Meter weiter, was der normale Deutsche ungern tut, und schon sank die Strandbevölkerungsdichte pro hundert Kubikmeter Sand um mehr als fünfzig Prozent, und noch mal hundert Meter weiter war niemand mehr da. Genau da ragt plötzlich einsam aus dem traumhaften Sandstrand ein Schild, das in etwa folgenden Inhalt transportiert: »Von diesem Schild an ostwärts darf man sich nackend ausziehen. Wenn man das nicht macht, ist es aber auch okay.« Der genaue Wortlaut ist natürlich anders. Direkt hinter diesem Schild lagen noch mal zweihundert Deutsche, diesmal nackt. Die waren halt nicht direkt hinter dem Deich umgefallen, sondern direkt hinter dem Schild, weil sie sich sonst nicht hätten nackend ausziehen dürfen, das wollten sie aber.

 

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Sollten sie ruhig tun. Wir setzten unseren Weg fort, den Strandweg aus Holzbohlen entlang, vorbei an den kleinen Strandbuden, die man kaufen oder mieten kann, um alles darin unterzubringen, was man nicht jeden Tag an den Strand schleppen will: Grill, Windschutz, Liegestuhl.

Wir gingen vielleicht einen halben Kilometer. Unser Ziel war der Strandpaviljoen von Barry, ein Bau auf hohen Pfählen. Ja, der kann einige Winterstürme überstehen, das schafft der. Der Pavillon, meine ich. Barry selbst ist im Winter in der Schweiz und bedient Skifahrer. Qualität setzt sich halt europaweit durch.

Wir setzten uns auf die Terrasse, die manchmal gelb, manchmal blau, manchmal gar nicht gestrichen ist, je nachdem, wann Barry wieder das Geld ausgegangen ist. Nach zehn Jahren Noordkapelle weiß ich immerhin eins: Es gibt viele tolle Plätze hier, aber der tollste, das ist der weiße Plastikstuhl hinter dieser Glasscheibe, die dafür sorgt, dass mir der Wind nicht allzu viele Tränen in die Augen treibt. Dieser weiße Plastikstuhl, die Schuhe ausziehen und unter den Tisch stellen – Herz, was willst du mehr? Anne stand an der Treppe aus stabilen Holzbohlen und schaute auf den Strand. Edda und Tristan waren ans Wasser gelaufen.

Vielleicht sah ich gerade ein bisschen zu gedankenverloren aufs Meer, als Barry kam. Er stellte mir ein Bier auf den Tisch und fragte: »Was hast du?«

Ich sagte: »Urlaub.«