Obdach im Blauen Meer

Die beiden Männer hatten sich verabschiedet, und Kelda wurde sogleich das Frühstück in der geräumigen Küche serviert – duftende Croissants, Paulettes selbstgemachte Aprikosenmarmelade, Baguette, ein reifer Brie, gesalzene Butter, Erdbeeren, Butterkekse, Milchkaffee in ganzen Strömen.

Sie fand, die Sünde hatte sie sich verdient, und langte hungrig zu.

»Unter dem Dach ist ein kleines Gästezimmer, Kelda. Wenn du magst, kannst du einziehen. Ich würde mich freuen, dich hier zu haben«, sagte Marie-Claude, die sich mit einer weiteren Tasse Kaffee zu ihr an den Tisch setzte.

Unterstützt wurde diese freundliche Einladung durch eine schlanke, rote Katze mit weißen Pfötchen, die sich geschmeidig um Keldas Beine wickelte und schnurrte.

»Soquette, du bettelst!«, mahnte Marie-Claude sie und zog sie sanft am Schwanz.

»Mirr!«, antwortete die Katze und schaute Kelda mit einem seelenvollen Blick aus ihren grünen Augen an. Wie von einer fremden Macht gelenkt reichte sie ihr ein Stückchen Käse.

»Puh, sie kriegt jeden rum«, grummelte Marie-Claude. »Sie müsste fett wie ein Walross sein, bei den Mengen, die sie futtert.«

»Vielleicht hat sie Würmer?«

»Hat sie nicht!«, kam es empört. »Sie mag zwar mal eine Streunerkatze gewesen sein, aber als sie hier letztes Jahr eingezogen ist, habe ich sie gleich zum Veterinär gebracht. Aber ich glaube, sie hat lange Hunger gelitten, was, Soquette?« Sie streichelte die Hübsche, die daraufhin ihren Kopf an Marie-Claudes Beinen rieb.

»Macht es dir wirklich nichts aus, wenn ich ein paar Tage bleibe?«, fragte Kelda.

»Ich habe dich schon mehr als ein Dutzendmal eingeladen. Also, hoch mit dir, damit du dich oben einrichten kannst. Ein kleines Bad ist auch da.«

»Sehr klein«, stellte Kelda fest, als sie die Schranktür öffnete, hinter der sich eine Toilette, ein winziges Waschbecken und eine Bodenwanne befanden, letztere nur unwesentlich breiter als der Duschkopf darüber.

»Du bist ja schlank«, kommentierte Marie-Claude.

»Noch zweimal so ein Frühstück wie heute, und ich passe da nicht mehr rein.«

Das Zimmerchen war hübsch, ein bisschen kitschig mit seiner Blümchenrüschenpastell-Dekoration, aber der Boden wirkte beruhigend solide. Sie packte aus, nahm eine Dusche und ergötzte sich an den köstlichen Gerüchen, die von der Küche unten hochschwebten.

Eine Woche vielleicht. Ja, eine Woche könnte sie bleiben. Und so wie sie bemerken würde, dass sie ihrer Gastgeberin auf den Geist ging, würde sie abreisen.

Auf jeden Fall sollte sie die Gelegenheit nutzen, sich noch mal mit Simon zu treffen.

Wie das Schicksal so spielte – der Nachbarsjunge aus Jugendtagen war inzwischen ein Architekt. Und beinahe hätte sie ihn nicht erkannt. Denn als sie ihn das letzte Mal gesehen hatte, trug er mit Recht den Spitznamen Spargeltarzan.

Von Spargel war keine Spur mehr, und die Bleistifte, die er laut Yves stemmte, mussten gut fünfzig Kilo wiegen.

Interessant, was so aus den Leuten wurde.

 

Es ergab sich ganz von selbst, dass Kelda mithalf, den mittäglichen Ansturm zu bewältigen. Die ersten Touristen – jene, die nicht an die Schulferien ihrer Kinder gebunden waren, ließen sich die kreativen Crêpes und köstlichen Kleingerichte schmecken, die Marie-Claude und ihre Mutter Paulette in der Küche zubereiteten. Eine junge Frau aus Brignogan half servieren, Kelda sammelte Geschirr ein und bestückte die Spülmaschine. Eine bretonische Crêperie bot nicht nur die üblichen süßen Variationen der hauchdünnen Pfannkuchen an, sondern die Spezialität waren die Galettes, die aus dem blé noir, dem Buchweizenmehl, hergestellt wurden. Man verlockte die Speisenden mit dem Hinweis darauf, wie kalorienarm sie waren. Stimmte, der Teig bestand lediglich aus Mehl, Wasser und Ei. Allerdings ohne Füllung. Die hingegen konnte den zarten, hauchdünnen Teigfladen mühelos zur Kalorienbombe machen. Keldas Lieblingsvariante war die sogenannte Complète, bei der in die Mitte der Galette erst eine große Scheibe gekochter Schinken, dann eine passende Scheibe Käse und zum Schluss noch ein rohes Ei dekoriert wurde. Das alles wurde erhitzt und der Teig dann so dekorativ zusammengefaltet, dass nur das Eigelb herausschaute. Aber auch andere Variationen bot Marie-Claude an. Füllungen mit Meeresfrüchten, mit einer göttlichen Lauch-Sahne-Creme, mit Pilzen, mit Wurstscheiben und mit vielem anderen mehr. Mittags und abends erfreuten sich die meisten Besucher daran, nachmittags kamen jedoch auch viele auf eine süße Crêpe und Kaffee vorbei.

Um zwei war der größte Ansturm vorbei, und Marie-Claude jagte sie aus dem Haus, mit dem Auftrag, endlich Urlaub zu machen. Kelda wanderte zu dem alten Fischerdorf Meneham, das irgendwann in den siebziger Jahren verlassen worden war und verfiel. Vor einigen Jahren hatte sich eine Initiative gegründet, die es sich zur Aufgabe gemacht hatte, es als Museum wiederaufzubauen, so wie es vor über hundert Jahren ausgesehen hatte. Niedrige, strohgedeckte Feldsteinhäuser bargen Werkstätten von Kunsthandwerkern aller Art. In einem anderen, langgestreckten Ensemble konnte man Zimmer mieten. Man hatte sie hinreißend möbliert mit alten Kastenbetten samt Vorhängen und gestickter Leinenwäsche. Kelda war bezaubert. Die Bäder aber waren modern, und die Häuschen hatten eine gemeinsame, praktisch eingerichtete Küche und unter dem Dach einen gemütlichen Aufenthaltsraum mit Sesseln und Sofas, einem Internetanschluss, Bücherregalen und allerlei Spielen.

Welche Alternative zu einem Wohnmobil wäre das gewesen!, ging ihr durch den Kopf. Aber Matt hatte darauf bestanden, beweglich zu sein, dorthin zu fahren, wo die besten Windbedingungen waren.

Kelda kletterte die Holzstiege wieder nach unten und schlenderte über den großen sandigen Platz, an dessen Rand ein Podest, vermutlich eine Bühne, errichtet worden war. Begrenzt wurde das kleine Freilichtmuseum zum Meer hin von einigen rundgewaschenen Felsen. Sie erklomm die Steine und stellte fest, dass hier, direkt am Meer, ein weiteres Steinhaus an den Felsen klebte, das einst als Ausguck gedient hatte. Trotz der gefährlichen Klippen, die vor der Küste aus dem Meer ragten, lebten die früheren Einwohner hier vom Fischfang. Oder Schmuggel, wie sie vermutete. England war nicht weit, und dazwischen lagen die kleinen Kanalinseln, die, wie Kelda aus der Geschichte der Bretagne wusste, schon immer ein Umschlagplatz für allerlei Konterbande gewesen waren. Bilder von den schönsten Schiffsunglücken und ihre Schilderung erquickten die Besucher in diesem Häuschen. Kelda machten sie schaudern. Zu nahe war sie am Tag zuvor genau diesen gefährlichen Felsen gekommen. Also kletterte sie von dem Ausguck herunter und besuchte als Letztes das Museumshaus mit seinen Werkzeugen und Trachten. Hier zeigte man, wovon die Bewohner des Dörfchens gelebt hatten. Neben der Landwirtschaft und dem Fischfang inklusive Schmuggel verdiente man sich einiges auch mit dem Sammeln von Algen. Getrocknete Algen, so informierte ein Ausstellungsraum des Museums, dienten als Dünger oder in Notzeiten auch als Viehfutter, Algenasche hingegen galt als Rohstoff für allerlei pharmazeutische und kosmetische Produkte. Goëmoniers nannte man die Algensammler, und in langgestreckten, flach ausgehobenen Gruben in den Dünen wurden die Algen verbrannt. Diese Öfen traf man noch immer entlang der Küste an.

Gesättigt von lokaler Geschichte und hungrig nach einem Abendessen wanderte Kelda am späten Nachmittag zurück zur Crêperie, bot noch mal ihre Hilfe an, auf die man aber zum Glück verzichtete. Stattdessen wurde ihr ein weiteres köstliches Menü serviert.