Skandalöses Frühstück

Simon rechtfertigte seinen morgendlichen Besuch bei Marie-Claude damit, dass er sich verpflichtet fühlte, sich nach dem Befinden seiner früheren Nachbarin zu erkundigen. Er hatte am Vortag die Begegnung noch mit einem beiläufigen Schulterzucken abtun wollen, aber ein hartnäckiger kleiner Stachel hatte ihn die ganze Nacht gepiekt. Vor langer Zeit einmal war Kelda der Schwarm seiner jugendlichen Träume gewesen, doch sie hatte nie mehr als nur halbwegs freundliches Interesse für ihn bekundet. Gut, das war Vergangenheit, heute waren sie beide erwachsen, und derartig hormonellen Befindlichkeiten war er entwachsen. Sie war hier gestrandet, unter nicht eben glücklichen Umständen, und verdiente zumindest die Aufmerksamkeit eines ehemaligen Nachbarn.

Also machte er sich nach dem ersten, frühen Besuch auf der Baustelle auf, im Marée bleue ein ordentliches Frühstück zu sich zu nehmen. Das alleine war schon Grund genug, dort anzuklopfen.

Die normalen Gäste wurden erst um die Mittagszeit beköstigt, aber zu Marie-Claude und ihrem Mann Brendan hatte er eine besondere Beziehung. Vor zweieinhalb Jahren war das Marée bleue sein erster eigenständiger Auftrag gewesen. Damals war das Haus an der Düne noch eine etwas patinierte Bar Tabac gewesen, in der sich die Einheimischen auf ein Bier und Pferdewetten trafen. Dann starb der Besitzer, und Marie-Claude, eine engagierte Köchin, hatte die Bar geerbt. Er hatte gerade eine finstere Zeit hinter sich, die er als seine persönliche Naufrage betrachtete. Ein Schiffbruch, den er durch Selbstversenkung verursacht hatte. Yves hatte das Wrack geborgen, das er damals war, ausgenüchtert und abgeschleppt. Was immer den seltsamen Knorzen dazu bewogen haben mochte, heute war er ihm dankbar dafür. In den ersten Monaten hatte er Simon schuften lassen – bei Entrümpelungen aller Art, mit denen er sich seinen Lebensunterhalt verdiente. Als sie von Marie-Claude beauftragt wurden, das Marée bleue leer zu räumen, hatte er das erste Mal seit langer Zeit wieder das Bedürfnis verspürt, einem heruntergekommenen Gebäude zu seiner alten Form zu verhelfen. Er sah, was die Besitzerin nicht sehen konnte: ein malerisches Haus, das einladend den Besuchern seine Türen öffnete. Bei einem langen, abendlichen Gespräch hatte er ihrem Mann von seiner Vision erzählt, und der wiederum hatte sie begeistert aufgegriffen. Marie-Claude war eine hervorragende Köchin, die einfachen Gerichte, die ihr Vater den Barbesuchern angeboten hatte, waren weit unter ihrem Niveau. Es hatte nur wenige Wochen gedauert, da hatte sie sich entschieden, eine Crêperie aufzumachen. Ein lohnenswertes Projekt, weil in der Nachbarschaft auch gerade die verlassene Ansiedlung Meneham ihre Auferstehung als Museumsdorf feierte und zu einem Besuchermagnet wurde.

Heute schmiegte sich das Feldsteinhaus zwischen Felsen und Düne, die Läden waren dem Namen gemäß meerblau gestrichen, Stockrosen in allen Schattierungen von Rot und Gelb leuchteten von der grauen Steinmauer, das Strohdach war eine Herausforderung gewesen, die Installationsarbeiten ebenso. Aber es war ihm gelungen, mit den örtlichen Handwerkern seine Vorstellungen durchzusetzen, und Marie-Claude hatte sich mit viel Sinn für Praktisches und mit gutem Geschmack um die Inneneinrichtung gekümmert. Über den Arbeiten, die ein halbes Jahr gedauert hatten, waren sie gute Freunde geworden. Und als das Marée bleue wieder seine Pforten öffnete, hatte er sich einen guten Ruf als Architekt für Sanierungsaufgaben erworben. Danach war es stetig aufwärtsgegangen.

Die Tür das Hauses stand, wie meistens, offen. Marie-Claude werkelte schon in der Küche.

»Simon, komm rein. Nimm dir einen Kaffee!«, wurde er freundlich begrüßt. Soquette kam ebenfalls angestromert und sprang sogleich auf seinen Schoß, schnurrte ihn an und nahm zierlich das Stückchen Schinken aus seiner Hand.

»Wie geht es deiner Freundin Kelda?«

»Ich habe sie überredet, in das Gästezimmer oben zu ziehen. Ich hoffe, sie wird wirklich ein paar Tage bleiben. Aber diese Erlebnisse in den vergangenen zwei Tagen haben sie ziemlich aus der Bahn geworfen.«

»Mir schien, dass sie recht gelassen damit umging.«

»Nur weil sie keinen hysterischen Anfall beim Anblick eines alten Skeletts bekommen hat, heißt das noch lange nicht, dass sie ungerührt von den beiden Unfällen geblieben ist, Simon. Kommt dazu, dass sie noch einen furchtbaren Streit mit ihrem Freund hatte, weil der Idiot … Ach, lassen wir das! Sie soll sich einfach eine Weile hier ausruhen.«

Das Leben bot Wiederholungen, stellte Simon fest. Die einzige Zeit, in der er Kelda ein klein wenig nähergekommen war, war einst die Phase, in der sie von einem herzzerreißenden Liebeskummer gequält worden war. Sie war sechzehn, er neunzehn, und ein paar Wochen lang hatte er schüchtern versucht, sie zu trösten.

Na ja, es war ein Versuch gewesen.

»Wir haben den Toten übrigens identifiziert«, wechselte er das Thema.

»Ach, tatsächlich?«

»Ja, und das wird hier ganz schön für Aufregung sorgen. Die Lokalpresse gräbt schon alte Geschichten aus.«

»Erzähl!«

Simon wollte eben anfangen, als Kelda gähnend in der Tür erschien.

»Kaffee?«, fragte sie heiser.

»Setz dich. Gut geschlafen?«

»Wie ein Stein. Bis ich angefangen habe, vom Schiffbruch zu träumen.«

»Wurdest du gerettet?«

»Ja, zum Glück. Und darum habe ich jetzt Hunger. Hallo, Simon.«

»Guten Morgen, Kelda«, begrüßte er sie. Sie sah noch ein wenig schlafzerknittert aus, und ihre Haare waren zu einem nachlässigen Zopf geflochten. Mit strenger Disziplin unterdrückte er das aufkeimende Gefühl, sie in den Arm nehmen zu wollen. »Marie-Claude sagte mir, dass du deinen Urlaub doch nicht abbrechen wirst.«

»Man hat mich überredet – das Essen ist hier einfach zu gut.«

»Simon hat Neuigkeiten«, warf Marie-Claude ein. »Du hast ganz schön viel Staub aufgewirbelt mit deiner Entdeckung.«

»Welche Art Staub?« Kelda goss sich einen Becher Kaffee ein.

»Geschichtlichen Staub. Skandalösen vermutlich.«

Zwanglos setzte sie sich an den Küchentisch.

»Dann will ich Skandale zum Frühstück hören.«

Simon berichtete: »Der Tote war aktenkundig. Die beiden Goldzähne haben ihn verraten. Wir haben ihn gestern Vormittag geborgen und zur Gendarmerie gebracht. Unser Verdacht war richtig, er muss in den letzten Kriegsjahren umgebracht worden sein, ein Kopfschuss bedeutete sein Ende. Ein Blick in die Einwohner-Kartei der Jahre 1943 bis 1945 erwies sich als hilfreich. 1940 verschwand ein Jerôme Bellard von einem Tag auf den anderen – ›abgereist‹ war vermerkt.«

»Nun, im weitesten Sinne stimmt das wohl. Und wer war jener Jerôme? Résistance oder Kollaborateur?«

»Keine Ahnung, aber wahrscheinlich wird es sich schnell herumsprechen, was du da gefunden hast. Ich fahre gleich noch mal zum Haus, um zu sehen, ob meine Leute den Keller gesichert haben. Willst du mitkommen?«

Kelda sah Marie-Claude fragend an, aber die lächelte nur. »Du hast Urlaub, Kelda!«

»Okay, dann komme ich mit.«

»Ihr könntet mir auf dem Rückweg zwanzig Weingläser mitbringen – solche hier.« Marie-Claude wies auf die rustikalen Gläser, in denen sie die Getränke servierte. »Es hat heute Morgen einen kleinen Unfall gegeben.«

»Hat die Spülmaschine sie geschreddert?«

»Nein, Soquette hatte wieder ihre manische Phase.«

Soquette sprang von Simons Schoß und sah sie alle empört an. Mit arrogant erhobenem Schwanz stolzierte sie aus der Küche.

»Sie ist ein süßes Tier, aber manchmal treibt sie mich zum Wahnsinn. Morgens und abends tobt sie wie eine Verrückte durch das ganze Haus. Diesmal war es ein Tablett mit Gläsern, die dabei zu Bruch gingen.«

»Wir bringen dir Ersatz mit.«

Kelda verschwand, um sich herzurichten, und als sie in den staubigen Offroader einstieg, wehte Simon ein Hauch Frühlingsblütenduft an. Die Knitterfalten in Keldas Gesicht waren verschwunden, die Haare, ordentlich geflochten, und hingen hinten aus der roten Kappe heraus über ihren Rücken.

»Ich habe das Grundstück um Yves Haus absperren lassen, damit nicht noch einer in die Grube fällt. Solche Unfälle sprechen sich hier in Windeseile herum, und Neugierige finden sich immer gleich ein.«

»Vor allem, wenn es Tote gab.«

»O ja. Yves rechnet sich schon rege Umsatzsteigerungen auf seinem Flohmarkt aus und ist jetzt auch der Meinung, dass das Haus von Grund auf renoviert werden muss.«

»Auf die Idee hätte er früher kommen können. Es liegt hübsch, als Ferienhaus hätte es immer Mieter gefunden.«

»Das hat ihm nie viel bedeutet. Aber jetzt hat es eine Geschichte. Und die wird die Leute anziehen.«

»Ah. Jerôme Bellard wird darin umgehen und nachts die Dielen knarren lassen.«

»Oder so ähnlich. Xavier hat schon immer gesagt, dass mit dem Haus etwas nicht stimmt.«

»Wer ist Xavier?«

»Ein Urgestein, Yves’ Freund, der auf den Truc et Puces aufpasst, wenn er unterwegs ist. Du solltest ihn kennenlernen.«

Simon stellte den Motor ab, und sie stiegen vor dem Haus aus. Schwarz-gelbes Flatterband versperrte den Eingang, das er jedoch einfach anhob, um Kelda durchgehen zu lassen. Seine Leute hatten das Wohnzimmer geräumt, mehrere Holzplanken waren über das Loch gelegt. Eine Leiter ragte von unten herauf.

»Willst du nach unten mitkommen?«

Kelda musterte das Loch mit unbehaglicher Miene. »So bei Tageslicht betrachtet, hält sich die Faszination, das Grab des armen Jerôme zu besichtigen, deutlich in Grenzen. Hat man noch irgendwelche anderen Spuren gefunden?«

»Reste von Kleidung, Schuhen, einen Ehering. Ich habe versucht zu rekonstruieren, wie der Mann in den Keller gekommen ist. Wie es aussieht, gab es damals einen Eingang von außen. Seeseitig, dort, nahe dem Felsen. Er ist mit dem gleichen Beton verschlossen worden wie das Grab. Wie Yves sagt, war das früher ein Fischerhaus.«

»Und man hat im Keller gleich den Fang gelagert, was?«

Simon grinste.

»Sozusagen.«

»Vielleicht war jener traurige Jerôme ja auch ein Flüchtling? Oder ein Schmuggler?«

Er zuckte mit den Schultern.

»Auf jeden Fall hat er sich Feinde gemacht. Und dieses Lothringer Kreuz …«

»Kelda! Kelda, da bist du ja!«

Ein junger Mann in schwarz-gelber Radlerkleidung vollführte eine rasante Schleuderbremsung mit seinem Fahrrad, die den Sand auf dem Weg aufwirbelte.

»Ja, hier bin ich.«

»Ich hab gehört, dass das Haus zusammengestürzt ist – darum bin ich gleich gekommen.«

Er legte das Rad auf den Boden und trabte auf sie zu.

»Wie fürsorglich von dir.«

Kelda klang sarkastisch, stellte Simon fest und verzog sich in den Hintergrund. Das war also ihr derzeitiger Freund.

»Na, hör mal, ich hab mir echt Sorgen gemacht.«

Das klang vorwurfsvoll. Sie zuckte mit den Schultern.

»Was ist, Kelda? Du bist doch nicht mehr sauer, oder? Du kommst doch jetzt wieder zurück, ja?«

»Nein. Ich glaube, das hatte ich vorgestern deutlich gesagt.«

»Ach, da warst du doch nur stinkig, weil wir gekentert sind.«

»Ich bin noch immer stinkig, Matt. Deswegen komme ich nicht zurück. Du hast dein Wohnmobil ganz für dich alleine.«

»Ja, aber du willst doch nicht etwa hier drin übermachten?«

»Nein.«

Keldas einsilbige Antwort irritierte Matt offensichtlich, und jetzt bemerkte er auch Simon, der sich schweigend im Hintergrund gehalten hatte.

»Wer ist der da?«

»Ein Architekt, der Altbausanierungen durchführt. Simon Johannsen. Er hat mich gestern Morgen gerettet. Simon, das ist Matt.«

O ja, sie konnte sehr unterkühlt und unhöflich sein.

»Hi. Also, kommst du jetzt mit?«

»Nein.«

»Hast du was mit dem?«

»Nein.«

»Mann, dann komm doch wieder mit, Kelda.«

Der Junge hatte ein dickes Fell, stellte Simon fest. Und streitsüchtig war er offenbar auch. Ein unangenehmer Wichtigtuer, war Simons Urteil. Was fanden Frauen nur an solchen Gestalten? Damit der Szene ein Ende bereitet wurde, meinte er ruhig zu dem aufgebrachten Matt: »Sie scheinen das Wort ›Nein‹ irgendwie nicht zu verstehen.«

»Mischen Sie sich da nicht ein!«

Kelda sah von einem zum anderen und drehte sich dann zu Simon um. »Wir sollten uns auf den Weg machen, um Marie-Claudes Weingläser zu kaufen. Sie braucht sie für das Mittagessen. Oder hast du hier noch etwas zu tun?«

»Nein, es ist alles in Ordnung.«

Er ging zum Wagen, und sie schüttelte Matts Hand auf ihrem Arm ab. »Es ist vorbei, Matt. Es hat keinen Sinn mehr.« Ein eisiger Hauch lag in ihrer Stimme.

»Aber Kelda …«

»Ich habe es dir vorgestern erklärt, warum es mit uns beiden nicht mehr weitergehen kann, Matt. Ich muss mich nicht wiederholen.«

Damit ließ sie ihn stehen.

Sauber abserviert, urteilte Simon.

Aber als sie sich neben ihm auf dem Beifahrersitz anschnallte, bemerkte er ihre Wut.

»Sechs Jahre – die ersten davon wirklich atemberaubend, die beiden letzten … schwierig. Die vergangenen zwei Monate unerfreulich. Der Mörtel, der unsere Beziehung zusammengehalten hat, ist zerbröselt, und das Gebäude ist mit ein bisschen Kitt und Farbe nicht mehr zu sanieren. Ich hätte mich auf diese Reise nicht mehr einlassen dürfen, aber, großer Gott, man hofft ja doch immer noch auf eine unerwartete Wendung«, sagte sie und starrte dabei aus dem Seitenfenster.

Simon schwieg. Es gab darauf wenig zu sagen. Außer, dass er sie verstand. Aber das hätte zu Erklärungen geführt, die er nicht bereit war zu machen.

Sie kauften die Weingläser, fuhren die Küstenstraße zurück, und schließlich sagte er: »Die Wohnmobile und Zelte stehen in einem Naturschutzgebiet. Ein Anruf, und er wird weiterziehen und wahrscheinlich sogar ein deftiges Bußgeld zahlen müssen.«

»Du magst die Surfer nicht?«

»Sie sind mir gleichgültig, wenn sie sich auf den Campingplätzen vergnügen. Aber einige fallen hier ein wie die Heuschrecken, spielen sich auf, hinterlassen Müll und aufgewühlten Sandboden. Sie behandeln die Küste, als ob sie ihnen gehört.«

Kelda sah aus, als ob ein schlechtes Gewissen in ihr nagte. »Ja, ich weiß. Genauso haben wir uns oft verhalten. Allerdings an sehr viel einsameren Gestaden als hier. Trotzdem – ich schäme mich inzwischen dafür.«

»Wie lange bleibst du?«, fragte Simon, als sie das Marée bleue erreicht hatten.

»Eine Woche, denke ich.«

»Schön. Man sieht sich!«