Die vier Veteranen hätten Kelda so gerne weitergeholfen, als sie sich nach dem Mittagsansturm zu ihnen setzte und ihnen einen Krug Cidre ausgab. Sie waren Jerôme begegnet, konnten den schmucken Filou beschreiben, die modischen Anzüge, die er zu tragen pflegte, die Goldzähne, die bei seinem herzlichen Lächeln aufblitzten. Den Pariser Akzent, den er nie abgelegt hatte, machten sie nach, aber über seine Einstellung zur Résistance oder den Kollaborateuren wussten sie nichts zu sagen. Sie waren in den ersten Kriegsjahren von der Generalmobilmachung betroffen gewesen und zur Marine eingezogen worden. Ihre Heimat war von den Deutschen besetzt worden, sie selbst taten auf den Kriegsschiffen Dienst. Überrascht hörte Kelda, dass Tomaz Kapitän zur See war, Loïc Schiffsingenieur und die beiden anderen Unteroffiziere gewesen waren. Sie hatte geglaubt, die vier seien einfach Matelots gewesen, aber ganz offensichtlich hatte sie sie deutlich unterschätzt. Tomaz bemerkte ihre Verlegenheit und zwinkerte ihr verschmitzt zu.
»Machen Sie sich nichts draus, Mädchen. Wir sind jetzt vier alte Kauze, die ihre Knochen in der Sonne wärmen und den jungen Frauen nachschauen. Unsere wilden Zeiten sind vorbei.«
»Außer wenn aufsässige Surfer ihre Rechnung nicht bezahlen wollen. Dann erinnern Sie sich an alte Schlachten«, gab sie lächelnd zurück.
»Ja, ja, für ein hübsches Mädchen lohnt es noch immer zu kämpfen«, krächzte Loïc.
»Die sind jetzt aus der Düne weg auf den Campingplatz hinter dem Leuchtturm gezogen«, fügte Dider hinzu.
»Gut, dass ich es weiß. Die Gegend werde ich meiden.«
»Gibt andere ansehnliche Jungs hier. Sie haben die Wahl, was, Tomaz?«
»Mein Gott, die fällt mir aber schwer, wenn ich Sie so betrachte. Liegt es daran, dass ich einen Stein auf den Men Marz geworfen habe, dass ich so begehrt bin?«
»Haben Sie das? Und er ist liegen geblieben?«
»Ja, ist er. Aber Xavier hat mir gesagt, ich würde einem Mann begegnen, nicht vieren.«
»Dann wird er wohl recht haben.«
Kelda flirtete noch ein bisschen mit den Veteranen, dann rief sie Marie-Claude zu, die mit der jungen Frau, die mittags in der Crêperie mithalf, in der Küche aufräumte, dass sie sich zu einem Spaziergang zum Hafen von Brignogan aufmachen wollte, um wenigstens ein bisschen von dem viel zu guten Essen der vergangenen Tage abzuarbeiten.
Eine frische Brise ließ die Wolkenbäuschchen über den Himmel fliegen, die Gischt wehte ihr dort, wo die Brandung gegen die Felsen donnerte, mit weißen Schaumflocken entgegen. Allerlei Seevögel trieben ihre Kapriolen in der Luft, als sie den Zöllnerpfad entlangwanderte.
Ob Simon sich wohl noch mal melden würde? Seit drei Tagen hatte sie nichts mehr von ihm gehört.
Der Traum ging ihr noch immer nicht aus dem Sinn. Gut, das unerwartete Wiedersehen, die Suche nach seinem Großvater, der dem Schiffbruch entronnen war, das alles waren natürlich wiedererkennbare Zutaten. Aber da war noch etwas mehr. Ein neues Gefühl. Noch war sie sich nicht ganz sicher, welcher Art es war.
Vor Jahren, als er um sie herumgeschlichen war wie ein treuer Hund, hatte sie ihn so gut wie gar nicht wahrgenommen. Er war eben da, wenn sie jemanden brauchte, der mit ihr ins Kino ging oder der mitkam, wenn kein anderer da war, der sie zu einem Ausflug begleiten wollte. Ein praktischer Nachbar, der dankbar nach jedem Knochen schnappte, den sie ihm zuwarf.
Er hatte sich verändert. Er war erwachsen geworden, natürlich. Oder nicht natürlich. Matt war nicht erwachsen geworden. Simon hingegen hatte wirklich an Format gewonnen und war jetzt irgendwie – interessant. Auf gar keinen Fall aber war er der sie stumm anhimmelnde Nachbar mehr. Kelda gestand sich ein, dass seine Zurückhaltung sie irgendwie reizte. Betraf sie nur sie, oder hatte er seit seiner offensichtlich missglückten Ehe den Frauen im Allgemeinen abgeschworen?
Sie wanderte vorwärts, doch ihre Gedanken wanderten zurück. Erinnerungen an lange, tiefgründige Gespräche tauchten auf, Gespräche über Gott und die Welt, wie man sie nur in jenen jungen Jahren wirklich ernsthaft führen konnte. Simon, wenn er denn seine Schüchternheit ablegte, konnte gut zuhören und ebenso gut diskutieren und auch erzählen. An einen Besuch einer Burg erinnerte sie sich. Das alte Gemäuer hatte sie wenig interessiert, aber ihre Clique hatte unbedingt eine Ausstellung dort besichtigen wollen. Angeödet war sie mitgetrottet, aber irgendwann hatte Simon angefangen, ihr das alte Gemäuer zu erklären, hatte es mit Gestalten gefüllt, die darin gelebt, geliebt, gesoffen und gekämpft hatten.
Eine lebhafte Fantasie hatte er entwickelt – Visionen vielleicht sogar, wie diese Burgruine einst ausgesehen, was sie für die Menschen bedeutet hatte. Und weil er die Geschichte in den Steinen las, war er vermutlich ein so guter Architekt geworden. Marie-Claudes Haus hatte er zu einem Schmuckstück umgebaut, und bestimmt würde die Villa, die er gerade renovierte, bald ein prächtiges, aber auch komfortables Heim werden.
Eine verwehte, leise Flötenmelodie mischte sich zwischen das Rauschen der Wellen und das Möwengeschrei. Eine seltsame, sehnsüchtige Musik, nicht ganz irdisch, doch der wilden Küste mit ihren Felsen, dem Sand, dem harten Dünengras angemessen.
Kelda blieb stehen und lauschte ihr entzückt, versuchte, herauszufinden, woher sie stammte. Doch der Wind ließ sie zerflattern wie die Wolken am Himmel. Langsam ging sie weiter, erreichte die kleine Landzunge mit dem einsamen Haus darauf. Hier endete der Küstenweg, das umzäunte Grundstück verhinderte, dass sie am Ufer weitergehen konnte. Sie nahm einen schmalen Pfad entlang den Feldern. Anis duftete, wenn sie mit der Hand über die grünen Dolden streifte, blutrot leuchteten Heckenrosen an der Feldsteinmauer, Brombeerranken hakelten nach ihren Hosenbeinen. Dann kam wieder das Meer in Sicht, die Bucht und die kleine Mole, die sich an dem Hafenbecken entlangzog, in dem einige Segelboote lagen. Und in das Klirren und Klingeln der Masten mischten sich wieder die Flötentöne. Diesmal war es leichter, ihren Ursprung zu erkennen. Eine junge Frau, schmal, fast ein Kind noch, saß auf einem rundgewaschenen Felsen. Ihr blaues weites Shirt bauschte sich in der Brise, ihre langen braunen Haare flatterten im Wind. Selbstvergessen spielte sie auf ihrem Instrument, komplizierte Läufe, sich wiederholend, sich wandelnd, luftig, leicht, doch voller Weh und Hoffnung.
Kelda traute sich kaum aufzutreten, so leise wie möglich näherte sie sich, um das feenhafte Geschöpf nicht zu stören. Doch sie schien zu versunken in ihre Kunst, bemerkte sie nicht. Langsam ging sie an der Flötenspielerin vorbei auf die Mole, setzte sich dort nieder und ließ die Beine baumeln und gab sich dem Zauber des Augenblicks hin.
Der Zauber wurde auch nicht unterbrochen, als sich ihr ein Arm um die Schultern legte und sie an einen warmen Körper gezogen wurde.
»Simon?«, flüsterte sie.
Der Arm fiel herunter.
»Du hast einen neuen Freund?«
Erschrocken fuhr Kelda herum. »Matt. Du schon wieder!«
»Ja, ich. Hallo, Kelda.«
Sie kam etwas mühsam auf die Füße und wollte an ihm vorbei. Doch auf der schmalen Mole verstellte er ihr den Weg. Sie besann sich. Vorbeidrängen konnte sie sich nicht an ihm, und sein letzter, schon fast gewalttätiger Auftritt im Supermarkt war ihr noch in übler Erinnerung. Es war besser, Entgegenkommen zu zeigen, bevor sie Gefahr lief, ins Wasser gestoßen zu werden.
»Hallo, Matt. Wollen wir ein Stück am Hafen lang gehen?«
»Wir können uns auch hier hinsetzen. Ich muss mit dir reden, Kelda.«
»Ich sitze schon lange genug hier, mir sind die Beine eingeschlafen. Lass uns bitte gehen.«
Endlich gab er den Weg frei. An der Hafenmauer lehnte sein Fahrrad. Woher wusste er, verdammt noch mal, immer, wo er sie alleine antreffen konnte?
Die Flötenspielerin war verschwunden, und Kelda schlug den Weg zur Straße ein, die zum Marée bleue führte. Der Weg war wesentlich kürzer als der Zöllnerpfad, der sich an der Küste entlangschlängelte. Sie hoffte, Matt spätestens an der Crêperie loszuwerden.
Er hob sein Rad auf und schob es neben ihr her.
»Kelda, ich … ich entschuldige mich, ja? Ich habe mich blöd benommen, weißt du.«
»Stimmt. Aber gut, vergessen wir das.«
»Ja, wirklich. Du, wir haben jetzt das Womo auf dem Campingplatz am Leuchtturm abgestellt. Willst du dir das nicht mal ansehen?«
»Nein, Matt.«
»Kelda!« Seine Stimme klang zutiefst unglücklich.
»Nein, Matt. Du musst es endlich einsehen – es ist vorbei.«
»Aber warum denn nur? Nur wegen dieser dummen Sache mit dem Segelboot? Mann, Kelda, früher hast du so was einfach sportlich genommen.«
»Es ist nicht nur das Kentern, Matt. Das war lediglich der letzte Auslöser. Schau, ich habe es dir schon mehrmals erklärt – ich komme mit deiner Art zu leben nicht mehr klar. Ich möchte ein anderes Leben führen.«
»Du möchtest – aber was ich möchte, das interessiert dich nicht.«
»Matt, was möchtest du denn?«
»Ich möchte dich zurück, Kelda. Du fehlst mir. Du fehlst mir jede Nacht.«
Er hatte ein Schluchzen in der Stimme, und Kelda fühlte sich elend. Sie schwieg.
»Kelda, wenn ich dir verspreche, mich nach den Ferien nur noch meinem Studium zu widmen. Ich mache noch nächstes Jahr meinen Abschluss, echt.«
Er hatte es schon so oft versprochen.
»Ich jobbe auch zwischendurch und zahle meinen Anteil an der Miete.«
Die Straße machte eine Kehre, und der Leuchtturm schimmerte weiß im Sonnenlicht.
Kelda schwieg.
Matt legte das Fahrrad an den Straßenrand und nahm sie bei den Schultern.
»Kelda, ich liebe dich doch.«
»Matt, ich liebe dich nicht mehr. Verstehst du denn nicht – manches kann man nicht zurückholen.«
»Aber warum nicht? Ich brauche dich doch.«
»Eben. Du brauchst mich, darum willst du unbedingt, dass ich bei dir bleibe. Aber was ist mit den Mädchen, die jetzt dein einsames Bett wärmen?«
»Ach die. Komm, sei nicht eifersüchtig. Die bedeuten doch nichts.«
»Dir vielleicht nicht, aber für mich, Matt, sind sie nur ein Zeichen mehr, dass deine Art zu leben nicht der meinen entspricht. Und nun lass mich los.«
Das aber tat er nicht, sondern zog sie mit festem Griff an sich, um sie stürmisch zu küssen. Sie wehrte sich, und das Ganze artete zu einem unwürdigen Gerangel am Straßenrand aus.
Ein Wagen hielt, kurzfristig lockerte Matt seinen Griff, und Kelda gelang es, sich zu befreien.
Offroader, staubig.
Simon stieg aus.
»Probleme, Kelda?«
»Uh, ja, ein paar.«
»Ist der das?«, giftete Matt plötzlich. Und mit geballten Fäusten ging er auf Simon los. Kelda keuchte erschrocken auf, als er zuschlug. Doch Simon wich erstaunlich geschmeidig aus, Matts Knöchel knallten herzhaft auf den Fensterholm des Offroaders.
»Mein Wagen ist staubig und ein bisschen zerkratzt, aber Beulen sollte er eigentlich nicht bekommen«, meinte Simon ruhig. Und als Matt erneut auf ihn losging, hakte er irgendwie seinen Fuß um dessen Standbein, und Matt setzte sich unsanft auf den Hintern.
Kelda erwachte aus ihrer Starre und schlüpfte auf den Beifahrersitz. Simon stieg ein, schlug die Tür zu und gab unwirsch Gas. Eine Sandwolke hüllte Matt ein.
»Ständig taucht er auf. Und jedes Mal macht er mir eine Szene«, murmelte sie.
»Tja, wir Männer sind schon eine Last.«
Keldas Wut verrauchte, und sie merkte, dass ihr das Blut zu Kopfe stieg. Auch Simon war ihr früher manchmal eine Last gewesen, die sie bedenkenlos abgewimmelt hatte.
»Nicht alle Männer«, murmelte sie betreten. »Es gibt auch solche, die im richtigen Augenblick auftauchen.«
»Wann war je der richtige Augenblick, Kelda?«
Er parkte vor dem Marée bleue ein und sah sie an.
»Nun – oh, zum Beispiel, als ich neben Jerôme im Keller gefangen war.«
Sie sah ihm in die Augen. Blaue Augen. Um die sich eben jetzt winzige Lachfältchen bildeten.
»Der Retter in der Not. Immer gerne zu Diensten. Ob lästige Ex oder goldzahnige Filous.«
Er nahm es leicht, machte sich wieder lustig. Verwirrt stieg Kelda aus. Simon folgte ihr.
»Ich muss mit Marie-Claude und Paulette sprechen. Und du wirst sicher auch hören wollen, was ich zu deinem Freund Jerôme und meinen Urgroßeltern herausgefunden habe.«
»Hast du etwas gefunden?«
»O ja!«
Sie schaute auf die Uhr. »Wir öffnen gleich. Aber so gegen elf, wenn die Gäste gegangen sind, sitzen wir meist noch eine Weile zusammen auf der Terrasse. Komm doch dazu.«
»In Ordnung. Dann bis später!«