Simon hatte eine unruhige Nacht verbracht. Dass er Kelda die Geschichte seines Großvaters erzählt hatte, mochte der Grund für seine wirren Träume gewesen sein. Vielleicht aber auch die Begegnung mit ihr. Gähnend stand er auf und trottete in die Dusche.
Eigentlich hätte er seine jugendliche Schwärmerei schon lange überwunden haben sollen, aber irgendwie schlich sie sich jetzt wieder auf hinterhältige Weise in seine Gedanken.
Als er sie kennengelernt hatte, war sie eines der Giggelhühner gewesen, vor denen er immer Angst gehabt hatte. Er war kein ansehnlicher Junge gewesen, viel zu groß, viel zu dürr, und Pickel hatte er auch gehabt. Sie lachten über ihn, dessen war er sich ganz sicher. Weshalb er schüchtern war und zum Erröten neigte. Und sich in seine Traumwelten zurückgezogen hatte. Er vermisste damals noch immer seinen Großvater, den einzigen Mann in seiner Familie, der ihn ernst genommen hatte. Seine Mutter hatte sich scheiden lassen, als er gerade zur Schule ging, und die darauf folgenden Kandidaten für eine Vollzeit-Vaterstelle fanden ihren Beifall langfristig nicht. Sie war okay, seine Mutter. Sie kamen gut miteinander aus, hielten freundschaftlichen Kontakt zueinander. Bernice jedoch hatte sie auseinandergebracht. Auch eine dieser vielen Kleinigkeiten, die ihm sein Leben vergällt hatten.
Aber darüber wollte er nicht mehr nachsinnen.
Kelda war eines Tages plötzlich kein Giggelhuhn mehr, sondern eine schöne junge Frau, hinter der die Hälfte seiner Klassenkameraden her hechelte. Er hechelte mit – ganz am Ende der Meute. Sie hielt Hof, vergab ihre Gunst hier und da, blieb unerreichbar für ihn. Dummerweise nicht für seinen besten Freund.
Simon stellte die Dusche auf kalt und versuchte mit dem Schaudern die Erinnerung daran zu löschen. Es gelang ihm, und als er sich anzog, hatte Luc le Gamache seine Gedanken wieder gefangen genommen. Mit einem Mal war dieser drängende Wunsch wieder da, Licht in seine Herkunft zu bringen. Vielleicht sogar herauszufinden, was damals bei jenem Schiffbruch geschehen war. Wer hatte seinen Urgroßvater umgebracht und warum?
Er hatte den Ordner mit den Unterlagen, die er einst zusammengetragen hatte, irgendwo in seinen Kisten aufgehoben. Es war an der Zeit, ihn wieder auszugraben und noch einmal von vorne anzufangen.
Gerade als er in den Tiefen seines Abstellraumes fündig geworden war, klingelte sein Handy.
»Hi, Simon, hast du Lust auf einen sonntäglichen Kirchenbesuch?«, fragte Kelda.
Irritiert zwinkerte er. Er brachte ein »Ähm« zustande, und Kelda kicherte.
»Keine Panik, du musst nicht in Anzug und Krawatte antreten. Ich wollte am Nachmittag in der Chapelle Pol nach Schiffbrüchigen suchen. Deine Geschichte hat mich ziemlich neugierig gemacht, weißt du.«
»Und du meinst, der Geist von Lucs Vater wird dir dort begegnen?«
»Vielleicht. Nein, es hat etwas mit dem Ambiente zu tun. Aber du musst nicht mitkommen, wenn du etwas anderes zu tun hast.«
»Habe ich nicht. Die Idee ist nicht schlecht. Ich habe gerade meine alten Aufzeichnungen wieder ausgegraben. Ambiente – mag sein, dass es hilft.«
Er sagte zu, und um drei stand er am Marée bleue, von wo aus sie zu Fuß aufbrachen, die kleine Kapelle zu besuchen. Kelda, in kurzen Hosen und sonnengelbem Top, zeigte braungebrannte Beine und Schultern, und mit einiger Genugtuung registrierte er, dass sie, bevor sie ihre Sonnenbrille auf die Nase setzte, ihn mit einem neugierigen Blick musterte. Er war nicht mehr der magere Junge von einst, das war ihm sehr wohl bewusst. Sein ärmelloses Shirt mochte ihr beweisen, dass er schwere körperliche Arbeit nicht scheute, und die hellen Strähnen in seinen braunen Haaren, dass er dabei auf jegliche Kopfbedeckung verzichtete.
Er verbarg seine Augen ebenfalls hinter einer Sonnenbrille und setzte sich neben ihr in Bewegung. Seine kurze Verlegenheit vom gestrigen Tag war vergessen, er erzählte ihr, während sie auf dem schmalen Küstenpfad Richtung Leuchtturm gingen, von der Villa in Keremma, die er am Vormittag besucht hatte, um mit dem Verwalter die gewünschten baulichen Veränderungen zu besprechen.
»Du musst dir diese Anwesen mal ansehen, Kelda. Man hat sich da allenthalben kleine Burgen gegönnt, verwinkelte Bauten mit Türmchen und Erkern, in grauem Granit gebaut. Sie liegen alle in großen, parkähnlichen Grundstücken mit uraltem Baumbestand. Einst Sommerhäuser für die Städter, heute kaum zu halten.«
»Außer von den Reichen und Schönen.«
»Von denen, die es sich leisten können, die maroden Leitungen zu sanieren und vernünftige Medienanschlüsse legen zu lassen. Es ist erstaunlich, mit wie wenig komfortabler Technik man hier so lange ausgekommen ist.«
»Mich schaudert es regelmäßig, wenn ich die Stromkabel und Telefonleitungen sehe, die sich in wirren Girlanden zwischen den Häusern ranken«, sagte Kelda.
»Mich auch, das kannst du mir glauben.«
Dann wurde der Weg so schmal, dass sie nur noch hintereinander gehen konnten. Es führten ausgetretene Pfade – von Wanderern, früher von der Küstenwache, die nach Schmugglern Ausschau hielten – die gesamte Küste entlang. Sie kamen durch grasbewachsene Dünen und an Artischocken-Feldern vorbei. Links von ihnen schäumte die Flut an die rundgewaschenen Felsen der Côte des Naufrages, Möwen landeten mit Kreischen und Flügelschlagen auf ihren Spitzen, auf dem schmalen Sandstreifen lagen einige Sonnenhungrige – weit genug auseinander, um sich nicht auf die Füße zu treten. Auf dem Campingplatz standen einige Wohnmobile in den säuberlich mit Hecken abgeteilten Parzellen. Der Duft von Gegrilltem wehte sie an. Und vor ihnen ragte der Leuchtturm auf.
Kelda, die vorangegangen war, hielt an und drehte sich zu Simon um.
»Ist dir eigentlich klar, dass das hier dein geheimnisvolles Ponte Valles sein könnte?«
»Ja, ich weiß, dass er Phare de Pontusval heißt«, meinte er. »Und das ist auch der Grund, warum ich vormals meine Suche auf diese Ecke hier konzentriert habe. Auch wenn der Name nur ähnlich klingt.«
Ein Wegweiser, wie üblich ein hölzerner Pfeil mit der Kennzeichnung des Wanderwegs, wies sie an, ein Stück landeinwärts zu gehen, um zur Chapelle Pol zu gelangen.
Die kleine Kapelle, ein Steinhäuschen nur mit einem Glockentürmchen, lag zwischen mächtigen Granitblöcken. Auch hier wieder wuchsen inmitten der grauen Steine allerlei blühende Sträucher und Blumen. Auf dem ordentlich geschnittenen grünen Rasen stand eine Tafel, die davon berichtete, dass man glaubte, diese großen Felsen seien von Saint Pol persönlich angeschleppt worden. Kelda bezweifelte es laut und deutlich. Simon war mit den bretonischen Geschichten durch Yves und vor allem Xavier vertraut und erklärte, dass Sankt Paul Aurelian, ein walisischer Mönch, mit dem Schiff im sechsten Jahrhundert hier gelandet sei und dann eifrig Klöster und Kirchen gegründet habe.
»Fleißig, der gute Heilige«, meinte Kelda. »Doch was diese kleine Kapelle besonders auszeichnet, so habe ich aus meinen Informanten herausbekommen, ist ihre Wunderwirksamkeit hinsichtlich des Auffindens Schiffbrüchiger.«
»Wer sind deine geheimnisvollen Informanten?«
»Die vier Veteranen, die sich mittags oft bei uns einfinden. Sie sind nicht nur Schwatzbasen, sondern auch unergründliche Quellen für allerlei Wissenswertes. Sie versicherten mir, dass die Leiche eines vermissten Seemanns auftauchen würde, wenn man für ihn dort drei Tage lang die Messe lesen lässt.«
»Eine Vorhersage, die eine gute Kenntnis der Strömung und der Tide voraussetzt.«
»Und weniger die Hand des heiligen Saint Pol.«
»Aber so entsteht eben Wunderglaube. Auch ich habe meinen Gewährsmann in bretonischer Geschichte befragt. Er versicherte mir, dass es in der Kapelle auch gespukt haben soll.«
»Wie romantisch!«
Simon schmunzelte. Xavier kannte zu jedem Gemäuer irgendeine Spukgeschichte. »Und ein Schiffbrüchiger spielt natürlich darin auch eine Rolle.«
»Erzähl!«
»Eigentlich passt sie nicht in den hellen Sonnenschein. Ich werde sie dir dort auf der Bank mit dumpfer Stimme erzählen.«
»O schön, mich schaudert es jetzt schon.«
Im Schatten der Felsen stand eine schmale Holzbank, auf der sie Platz nahmen, und Simon begann seine Mär.
»Ein heimkehrender Seemann war in ein furchtbares Gewitter geraten und mit knapper Not dem Untergang entgangen. Er rettete sich an Land und suchte Unterschlupf vor dem Unwetter in der Kapelle, um die Nacht dort zu verbringen. Kurz bevor er einschlief, hörte er die kleine Glocke zwölf Mal zur Mitternacht schlagen. Verblüfft sah er, dass die Kerzen auf dem Altar sich entzündeten und ein Priester erschien. Entsetzt verkroch sich der Seemann in eine Ecke. Der Priester bemerkte ihn nicht, sondern begann, die Messe zu zelebrieren. Er begann sie mit den Worten: ›Introibo ad altare Dei …‹, auf die normalerweise die Gemeinde antwortete. Doch der verschreckte Seemann hatte kaum Luft zum Atmen, also wiederholte der Priester diese Worte wieder und wieder, bis die Kerzen erloschen. Damit verschwand er.
Der Seemann zögerte lange, bis er den Mut fand, über diese Erscheinung zu sprechen, denn er vermutete, dass man ihn für verrückt hielt. Schließlich vertraute er sich dem Pfarrer von Plounéour-Trez an, der ihm den Rat gab, eine weitere Nacht in der Kapelle zu verbringen. Er sagte ihm auch die richtige Antwort auf die Worte, die der Priester gesprochen hatte.
Ein Jahr später, am Jahrestag seines Schiffbruchs, nahm der Seemann allen seinen Mut zusammen und kehrte nachts zur Kapelle zurück.
Wieder entzündeten sich nach dem zwölften Glockenschlag die Altarkerzen, und der Priester erschien.
Wie erwartet begann er die Messe mit den Worten: ›Introibo ad altare Dei …‹
Der Seeman nahm all seinen Mut zusammen und antwortete: ›Ad Deum qui laetificat juventutem meam.‹ Die Messe nahm ihren Lauf, und als sie beendet war, bedankte sich der Priester bei dem Seemann. Er erklärte ihm sogar, er sei eine Seele aus dem Fegefeuer, wegen seiner Sünden dazu verdammt, jedes Mal an seinem Todestag die Messe in der Chapelle Pol so lange zu lesen, bis ihm jemand antwortete.«
»Sehr schön, dann brauchen wir uns vor dem geheimnisvollen Priester ja jetzt nicht zu fürchten.«
»Er ist erlöst, was Xavier bedauert.«
»Warum?«
»Er hätte sich gerne mit dem Mann unterhalten.«
»Ist Xavier ein Geisterseher?«
Simon lächelte. »Ich weiß es nicht. Er spinnt ein bisschen, aber er ist harmlos. Er ist sehr erdverbunden, sein Haus hat keinen Stromanschluss, Telefone meidet er, er kann das Wetter mit einer Präzision vorhersagen, die jeden Meteorologen blass werden lässt, und er behauptet, dass es Häuser gibt, in denen Korrigane ihr Unwesen treiben.«
»Ich habe von Korriganen zwar auch schon gehört und natürlich diese kitschigen Postkarten bewundert – haben diese Geschöpfe Ähnlichkeit mit den Abbildungen? Was sagt er dazu?«
»Frag ihn am besten selbst, es wird ihm eine riesige Freude machen, wenn du dich ernsthaft dafür interessierst.«
»Und wie sieht es mit dir aus? Du bist doch oft in alten Häusern beschäftigt?«
Keldas Ton klang ein bisschen spöttisch, aber Simon antwortete ruhig: »Es mag dir verrückt vorkommen, Kelda, aber es gibt Gebäude, in denen etwas nicht so ist, wie es sein sollte. Manchmal spüre ich ein Schaudern, eine Kälte oder auch – Wärme und Lachen.«
»Dieses Land hat eine seltsame Ausstrahlung, das ist mir auch schon aufgefallen. Vielleicht wird man hier offener für solche Wahrnehmungen. Betrachten wir also mit gebührender Achtung diese hübsche kleine Kapelle.«
Es freute ihn, dass der Spott aus ihrer Stimme verschwunden war. Sie lehnten sich zurück und ließen eine Weile die Ruhe in der Kapelle auf sich wirken.
Irgendwann fragte Kelda ihn leise: »Und, spürst du hier die Geister der Schiffbrüchigen?«
»Nein, das wird man hier nicht können. Bedenke, man hat Messen für ihr Seelenheil gelesen.«
Kelda stand auf und ging zur Tür der Kapelle. Sie war abgeschlossen. Doch sie drehte sich um und sagte: »Simon, wenn hier wirklich Messen gelesen wurden, könnte es in der zugehörigen Pfarrei vielleicht Aufzeichnungen dazu geben. Vor allem zu einem Schiffbruch, bei dem Vater und Sohn umgekommen sind.«
»Wenn die so lange zurückreichen und nicht verkramt oder vernichtet wurden.«
Auch Simon erhob sich von der schattigen Bank, und sie traten wieder in den leuchtenden Sonnenschein, nachdenklich schweigend. Simon musste zugeben, dass Kelda einen guten Ansatz gefunden hatte, den er noch nicht berücksichtigt hatte. Sie erreichten wieder den Küstenpfad, als sie sagte: »Auch nach Gräbern könnte man suchen.«
»Du entwickelst ja richtig detektivischen Spürsinn, Kelda.«
»Ich hab ja sonst nichts zu tun.«
»Du könntest dich dort vergnügen.« Simon wies auf den weiten Strand. Über dem Meer tanzten die bunten Drachen der Kiteboarder fröhlich im Wind. Segel blinkten, nachmittägliches Strandleben breitete sich auf dem größer werdenden Sandstreifen aus. Auf dem Watt kratzten eifrig Menschen im Sand, um Muscheln zu sammeln – ein hiesiger Volkssport: Pêche à pied.
»Könnte ich. Aber Strandleben habe ich in meinen vorherigen Urlauben zur Genüge genossen. Diesmal habe ich keine Lust, Matt und seiner Clique über den Weg zu laufen. Hast du was dagegen, wenn ich mich ein bisschen um deinen Großvater kümmere, Simon?«
»Nein, überhaupt nicht. Ich habe die Nachforschungen in der letzten Zeit nur noch halbherzig durchgeführt. Deine Ideen sind weit kreativer als meine. Ich werde mich morgen mal mit dem hiesigen Pfarrer unterhalten, ob er etwas zu den Messen in der Kapelle weiß.«
»Und ich meine alten Freunde in der Crêperie nach den Gräbern der Schiffbrüchigen fragen. Die Jungs haben sicher keine Beerdigung ausgelassen.«
Sie hatten das Marée bleue beinahe erreicht, als Simons Handy klingelte. Verärgert nahm er den Anruf des Verwalters entgegen. Genau das hatte er befürchtet – es war ein Notfall in der Villa eingetreten, die er gerade zu renovieren begonnen hatte.
»Wasserschaden. Ich muss hin, Kelda.«
»Wenn du etwas zu dem Schiffbruch herausgefunden hast, sag mir Bescheid. Hast du meine Nummer?«
Schief lächelte er. »Klar.«
Als er die Tür seines staubigen Offroaders öffnete, stellte sich Kelda auf die Zehenspitzen und gab ihm ein schnelles Küsschen.
Er zuckte zurück.
»Nicht, Kelda.«
Fluchtartig schwang er sich in den Wagen, schlug die Tür zu und fuhr los.
Einen halben Kilometer weiter hielt er am Straßenrand und schlug mit den Fäusten auf das Lenkrad.
Gott, was war er für ein Idiot!