Veteranenfront

Um die Mittagszeit half Kelda Marie-Claude wieder in der Crêperie, und als sich die Terrasse leerte, setzte sie sich mit ihrem Essen unter einen Sonnenschirm. Nur noch vier alte Männer waren sitzen geblieben, die es sich mit ihrem Pichet Rotwein im Schatten gemütlich gemacht hatten. Paulette brachte ihr zum Nachtisch noch eine Crêpe mit Erdbeeren und Sahne vorbei, der sie nicht widerstehen konnte, und setzte sich auf einen Kaffee zu ihr. Die vier verwitterten Alten grüßten sie launig.

»Wann gehen wir zum Tanzen, Paulette?«

»Wenn dir wieder schwarze Locken wachsen, Loïc.«

Die drei andern kicherten. Loïcs Kopf unter der Fischermütze war eine glänzende, völlig kahle Kugel.

»War ein süßes Mädchen, unsere Paulette«, erklärte mir einer der Veteranen.

»Ist sie noch, Dider. Und sie ist zu haben.«

»Wenn ihr zwanzig Jahre jünger wärt, könnte ich versucht sein«, beschied Paulette sie. »Aber eigentlich steh ich nicht so auf Hundertjährige.«

»Bis dahin hab ich noch gut zehn Jahre«, krächzte ein anderer und kicherte. »Noch bin ich im besten Mannesalter.«

»Klar, Tomaz, was sind schon die paar Zipperlein, die dich an den Stock gebracht haben«, knurrte ein anderer.

»Du hast da nicht mitzureden, mit deinem Holzbein.«

»Das braucht wenigstens keine Rheumasalbe.«

Sie plänkelten eine Weile gutmütig herum, die offensichtlich lange Tradition hatte. Dann aber unterbrach einer der alten Herren den Flirt mit Paulette und fragte: »He, du hast doch damals die alte Veuve Bellard gepflegt.«

»Als ich noch ein junges Ding war, ja.«

»Zänkische Hexe, die«, knurrte ein anderer. »Aber dass nun rauskommt, dass der Jerôme gar nicht nach Paris ab ist …«

»Sie hat immer geglaubt, er habe sie wegen einer Jüngeren verlassen. Das macht die Weiber missmutig.«

»Na, dass man ihn wie einen Hund erschossen hat. Mon Dieu – das hätte ihr auch nicht gefallen.«

Keldas Neugier war geweckt.

»Sie kannten die Frau des Toten?«, fragte sie Marie-Claudes Mutter überrascht.

Paulette nickte. »Ja, als ich gerade mit der Schule fertig war, bin ich bei ihr in Stellung gegangen. Fünf Jahre habe ich diese zänkische Madame betreut, vierundsechzig ist sie dann gestorben. Ihren Mann hat sie in der ganzen Zeit nie erwähnt.«

»Der war ein Filou«, warf Dider ein. »Leicht hat sie es mit ihm bestimmt nicht gehabt.«

»Rauf und runter ist es mit ihm gegangen, wisst Ihr noch? Als ich gerade zehn war, hat meine Mutter im großen Haus als Köchin angefangen. Das war so anno neunundzwanzig. Da hat sie mich ein paarmal mitgenommen. Ich war vor Ehrfurcht ganz klein. All diese Teppiche und Lüster und glänzenden Möbel. Und Madame in ihren Pariser Roben.«

»Tja, aber erwischt hat es sie auch.« Loïc nickte bedächtig. »Da kam die große Krise, und Schluss war es mit Champagner und Seidenkleidern. Er hat alles verloren, und sie mussten in ein kleineres Haus ziehen.« Er sah mich mit seinen uralten Augen an, die vor lauter Vergnügen am Skandal blitzten. »Aber lange hat’s nicht gedauert, da ist er wieder zu Geld gekommen. Fragt besser nicht, wodurch. Jedenfalls sind sie zurück in die Villa, als die Deutschen kamen und die Pariser, die die Villa gekauft hatten, bei Nacht und Nebel verschwunden sind.«

Lebendige Geschichte, dachte Kelda. Die Ereignisse wurden hier noch so diskutiert, als seien sie erst gestern geschehen. Eine Fremde, die den Toten entdeckt hatte und für die diese Geschichten neu waren, entzückte die alten Skandalnudeln. Und wenn man schon eine ganze Nacht mit einem Mann zusammen verbracht hatte, durfte man ja wohl auch mal neugierig sein, wie denn so sein Lebenswandel war. Sie hörte aufmerksam zu und stellte zwischendurch Fragen, die die vier Alterchen befeuerten, aus der Vergangenheit zu plaudern.

So erfuhr sie eine Menge über ihn, allerdings musste Paulette ihr hin und wieder die doch sehr eigenwillige Sprache der alten Männer übersetzen.

Filou war tatsächlich die richtige Bezeichnung für den Herrn mit den zwei attraktiven Goldzähnen.

»War ’ne gute Zeit für Brignogan«, meinte Tomaz und schlürfte seinen Cidre. »Damals, vor der Krise. Da kamen die Sommerfrischler. Mein Vater war Bahnhofsvorsteher. Stolz war er auf seine Uniform, und oft hat er von den Reisenden erzählt, die eintrafen. Reiche Städter, die mit ihren Dienerschaften hier Unterkunft gemietet haben. Und viele, die sich hier Grundstücke gekauft haben und dann ihre Sommerhäuser drauf bauten.«

»Villen, keine schäbigen Strandhäuser.«

»Und ihre Boote und Yachten brachten sie her.«

»Seit wann gibt es denn hier einen Bahnhof?«, fragte Kelda neugierig.

»Schon vor meiner Geburt. Der war schon da, als ich noch am Gängelband ging.«

Und das war neunzig Jahre her. Kelda rechnete und kam zu dem Ergebnis, dass die Entwicklung des Örtchens so in den ersten Jahren von 1900 eingesetzt hatte. Eine Boom-Zeit. Die Industrialisierung veränderte die Gesellschaft in Windeseile. Der Adel verlor, die Fabrikanten gewannen. Die technische Entwicklung brachte weitere Umwälzungen. Vielleicht nicht hier am Ende der Welt, aber die Auswirkungen bekam man auch hier zu spüren und den großen Börsenkrach demzufolge auch. 1929/30 waren Schicksalsjahre für die ganze Welt. Unzählige Vermögen wurden vernichtet, zogen Menschen mit ins Unglück.

»Womit hat denn Monsieur Bellard sein Vermögen gemacht, dass er sich eine solch große Villa leisten konnte?«, fragte sie. »War das auch nur eine Sommerresidenz, oder wohnte er die ganze Zeit hier?«

»Der war aus Paris. Der hat hier Geschäfte gemacht. Grundstücke gekauft. Ganz billig. Hat meinen Großvater übers Ohr gehauen mit einem riesigen Acker. Und den dann in kleine Parzellen aufgeteilt und an seine Kunden für teuer Geld weiterverkauft.«

»War dein Großvater selbst dran schuld, Armand. Hätt’ ja selbst an die Parisiennes verkaufen können.«

»Und außerdem hat deine Mutter später gute Geschäfte mit denen gemacht.«

Der ganze Ort hatte von dem touristischen Aufschwung profitiert, hörte Kelda aus diesen Bemerkungen heraus. Die Pariser, die die Villen bezogen, brauchten Dienstpersonal, wollten essen gehen, fanden es kurios, sich mit den örtlichen Produkten einzudecken. Aber vermutlich nicht nur die Villenbesitzer, sondern auch andere Sommerfrischler zog es aus den Städten ans Meer. Die Eisenbahn machte es möglich, auch nur mal für wenige Tage herzukommen. Für die geschäftstüchtigen Einwohner sicher ein reiches Betätigungsfeld.

»Aber nach der Weltwirtschaftskrise hat sich Monsieur Bellard wieder saniert«, brachte Kelda das Gespräch wieder auf ihren goldzahnigen Freund.

»Hat nicht lange gedauert. Er hatte schon ein Gespür fürs Geschäft. War kurz vor Kriegsbeginn, da ist er wieder in die Villa gezogen. Und Madame trug wieder Pariser Couture und gab Feste für die feinen Leute.«

»Wie alt war Jerôme Bellard zu dieser Zeit? Ich meine, wenn er schon in den Zwanzigern große Geschäfte gemacht hat, müsste er wohl so um die vierzig bis fünfzig gewesen sein.«

»Madame Bellard ist 1964 zweiundachtzig gewesen, also war sie zu Kriegsbeginn siebenundfünfzig. Ich glaube nicht, dass ihr Gatte jünger war als sie«, korrigierte Paulette sie.

»Glaub ich auch nicht. Wird an die sechzig gewesen sein. Noch ein richtiger junger Springer!«, keckerte Loïc. Gut, mit neunzig sah man das wohl so.

»Ja, jung genug, dass er mit einem Flittchen nach Paris abgehauen ist.«

»Ist der nicht, du Schafskopp. Er wurde erschossen.«

»Ach so, ja. Tja, war er wohl doch nicht mehr so ein junger Hengst.«

»Madame hat es aber geglaubt.«

»Wird ihre Gründe dafür gehabt haben.«

»Na, ich weiß nichts davon. In den Jahren trug ich Marine-Uniform und tat meinen Dienst vor Norwegen. Da hatten wir alle an anderes zu denken.«

Tatsächlich, das war wohl so. Kelda bedankte sich für die ausführliche Geschichtsstunde und half Paulette, die Tische abzuräumen.

»Geh an den Strand, Kelda«, schlug Marie-Claude vor. »Es ist jetzt Ebbezeit.«

»Ich würde lieber einen Ausflug ins Land machen. Ich habe keine Lust, Matt und seiner Clique zu begegnen.«

Sie nickte. Kelda hatte ihr von seinem Auftritt am Vormittag erzählt.

»Nimm mein Auto, ich brauche es heute nicht.«

»Danke. Ich helfe dir heute Abend wieder.«

Sie schüttelte lächelnd den Kopf. »Du hast Ferien, Kelda.«

»Ich mag aber nicht grübeln.«

»Na gut. Fahr zum Men Marz, der wird dir gefallen!«

»Sollte ich den Herren kennen?«

»Er ist nicht zu übersehen, und ausgeschildert ist der Weg zu ihm auch.«

Was stimmte, Men Marz ragte mitten aus einer Wiese hoch auf, ein magischer Stein, wie sein Name sagte. Um ihn herum lagen weitere mächtige Steine, und man hatte blühende Büsche zwischen sie gepflanzt. Gekrönt wurde der Menhir von einem Kreuz. Einige Tafeln informierten die Besucher über seine Geschichte und über die Mühe, die es den Menschen vor fünftausend Jahren bereitet hatte, einen solchen Koloss aufzustellen. Später hatten Missionare versucht, den von den Bewohnern verehrten Stein zu christianisieren. Kelda fragte sich, ob das an seiner Magie etwas geändert hatte.

Magie strahlte er aus – zumindest für sie. Sie umkreiste ihn langsam, ging dann näher heran. Legte ihre Hand auf seine warme, raue Oberfläche und lehnte sich schließlich an ihn. Kleine Wolken zogen über den blauen Himmel, warfen Schattenbäusche über das Land. Die Zeit verlor ihre Bedeutung, während sie den Wind in ihren Haaren spielen ließ. Zeit wandelte, Zeit veränderte. Seit Tausenden von Jahren aber stand dieser Stein schon hier. Warum man ihn einst aufgestellt hatte – es gab viele Theorien darüber. Die meisten waren mehr als absonderlich. Keine der bekannten hatte sie bisher überzeugt. Sie nahm seine Existenz einfach als gegeben hin. Als ein Zeichen in der Landschaft, eine Markierung für etwas, das sich im Inneren wie im Äußeren abspielen konnte.

Die Ruhe, die Kelda empfand, während sie an ihn gelehnt den Flug der Wolken verfolgte, war Grund genug. Trauer flog vorbei, Trauer um eine Liebe, die gescheitert war. Sechs Jahre, Gewohnheiten, Vertrauen, Zärtlichkeit – gewandelt in Ungeduld, Verständnislosigkeit und leise Verachtung. Auseinanderleben. Trotz all dem tat es weh. Und wie die Zukunft aussah, würde ihr auch dieser alte Stein nicht verraten.

Schließlich stieß sie sich von ihm ab und umrundete ihn noch einmal. Auf dem Boden lagen etliche glattgeschliffene Kiesel, wie man sie am Strand finden konnte. Kelda hob einen auf – grau, von weißen Adern durchzogen. Angenehm lag er in ihrer Hand.

Jeanne, die Frau jenes Mannes, dessen Grab sie gefunden hatte – Witwe, dann angeblich von ihrem Mann verlassen, war verbittert und zänkisch geworden.

Das sollte ihr besser nicht passieren.

Oder war sie schon zänkisch geworden? Hatte sie Matt gegenüber zu wenig Nachsicht walten lassen? Gehörte zu einer Beziehung nicht auch, dass man die Fehler des anderen tolerierte?

Kelda sah zu dem Menhir hoch. Gut acht, neun Meter ragte er auf, und über ihr befand sich ein flacher Vorsprung im Stein, auf dem weitere Kiesel lagen. Spielerisch warf sie den ihren nach oben. Er landete mit einem leisen Klack und blieb liegen.

Menhir-Billard.

Die Wolken hatten sich zusammengeballt, und der Wind war heftiger geworden. Kelda schlenderte zurück zum Wagen und fuhr ziellos Richtung Küste. Ein kurzer, aber heftiger Regenschauer prasselte nieder, dann kam wieder die Sonne hervor. Das Wetter wechselte schnell in dieser Gegend.

Ihre Stimmung leider nicht, die blieb seltsam überschattet.

Darum war es ihr ganz recht, wieder in der Crêperie auszuhelfen. Arbeit verscheuchte trübe Gedanken. Als sie damals ihr Auslandsjahr in Nantes verbracht hatte, hatte sie auch hin und wieder gekellnert, um ihr Taschengeld aufzubessern. Dabei hatte sie Marie-Claude kennengelernt, die dort als Köchin arbeitete. Sie traute ihr an diesem Abend denn auch zu, die Gäste zu bedienen.

Als die späte Dämmerung hereinbrach, waren sie schließlich alleine. Marie-Claude füllte ein Schälchen mit Sahne und stellte es neben die Türschwelle.

»Soquette besteht darauf«, meinte sie lächelnd, und schon tauchte die Weißpfotige aus dem Garten auf. Gemeinsam räumten sie eben die letzten Tische ab, als der Wahnsinn begann. Mit gesträubtem Rückenfell und aufgeplustertem Schwanz begann die Katze zu fauchen. Und dann verwandelte sie sich in einen Wirbelwind. Über Tische und Stühle ging es, ein Sonnenschirm fiel um, ein Blumentopf wackelte bedenklich. Soquette stob durch das offene Küchenfenster. Es klirrte und krachte, und Marie-Claude begann laut zu schimpfen.

Ein Tablett mit schmutzigen Tellern lag als Scherbenhaufen auf dem Boden, als Kelda eintrat. Soquette saß daneben und putzte sich verlegen den Schwanz.

»Unmögliches Biest«, seufzte meine Freundin.

»Es tut ihr leid, siehst du das nicht?«

»Ich weiß, aber sie ist mein Ruin.«

Kelda streichelte das jämmerlich dreinblickende Tierchen.

»Maumauau!«