Rettung eines Schiffbrüchigen

Das Geschirr nebst Dekomaterial fand großen Beifall im Marée bleue. Und Soquette hatte sie eine Weile gründlich abgeschnuppert, sich dann allerdings irgendwie missmutig verzogen, wie es Kelda erschien. Hoffentlich war das kein schlechtes Zeichen.

Paulette betrachtete das Kornblumenmuster hingegen mit großem Vergnügen.

»Auf die Idee hättest du schon viel früher kommen können«, sagte sie zu ihrer Tochter. »Bei deinem Verschleiß an Porzellan.«

»Ich wollte es eben in rustikalem Stil halten. Aber eigentlich hat das auch seinen Charme.«

»Dann werde ich Yves bitten, wann immer er etwas Ähnliches findet, es für dich zurückzulegen. Falls Soquette mal wieder ihren Manischen hat«, erklärte Kelda.

»Besser wäre, sie würde sich das Herumgetobe abgewöhnen. Oder wenigstens nur im Garten veranstalten.«

»Tja, wenn man mal in Katzenköpfe schauen könnte.« Kelda beugte sich zu der Rotgoldenen unter dem Tisch und hob sie auf ihren Schoß. Erst machte sie sich ein bisschen steif, dann aber rollte sie sich schnurrend zusammen. Sie mochte dieses zutrauliche Kätzchen, das sich gewöhnlich sanft und liebevoll zeigte. Nur in der Dämmerung wurde es zum Tier.

Aber noch schien die Sonne, und allmählich versammelten sich die ersten Abendgäste auf der Terrasse der Crêperie. Kelda band sich wieder das Schürzchen um und half beim Bedienen. Ihr bereitete es Vergnügen, mit den Gästen zu plaudern, und wenn sich deutsche Urlauber darunter befanden, waren sie oft dankbar für ihr Dolmetschen. Gegen elf waren die letzen Teller geleert, und die drei Frauen setzten sich, nachdem das Geschirr sicher und ohne Verluste verstaut war, zu einem Glas Wein zusammen, um die Sonne untergehen zu sehen. Soquette umstrich misstrauisch ihr Schälchen Sahne, doch diesen Abend schien sie in friedlicher Stimmung zu sein. Sie schlappte es aus und ging ihrer Wege. Vermutlich musste im Revier nach dem Rechten gesehen werden.

»Wusstet ihr eigentlich, dass Simon hier nach seinen Vorfahren sucht?«, begann Kelda ihre nachmittags geplante Inquisition.

»Nein, tut er das? Hat er welche?«, fragte Paulette.

Kelda gab einen kurzen Abriss zu Luc le Gamache, der ihre beiden Zuhörerinnen entzückte.

»Ja, so eine Gestalt könnte von hier stammen«, meinte Paulette. »Ist dir eigentlich klar, dass Pontes Valles vielleicht eine Verballhornung von Pontusval sein könnte?«

»Oh, natürlich, sicher. Oder vielleicht auch Port Val oder so ähnlich. Gibt es einen solchen Ort hier?«

Marie-Claude lachte leise auf. »Du bist eine schlechte Touristin, Kelda. Eine unserer Sehenswürdigkeiten ist der Leuchtturm von Pontusval. Da – sein Licht streift schon über die Küste.«

Natürlich hatte sie den hübschen, weißverputzten Leuchtturm schon oft bemerkt. Er stand malerisch zwischen großen Granitbrocken und war weithin sichtbar. Nach seinem Namen hatte sie sich jedoch nicht erkundigt, und Simon offensichtlich auch nicht, sonst wäre ihm die Ähnlichkeit vermutlich auch aufgefallen. Was Kelda zu der nächsten Frage brachte.

»Wann ist Simon eigentlich hierher gezogen?«

»Vor ungefähr drei Jahren, nicht wahr, Maman?«

Paulette nickte. »Er kam mit Yves vor drei Jahren hier an. Kurz nachdem mein Mann gestorben war und wir die Bar hier aufgegeben hatten.«

»Er hat dieses Haus dann renoviert, Kelda. Und danach waren einige Leute so angetan von ihm, dass sie ihn weiterempfohlen haben. Seither bekommt er hier einen Auftrag nach dem anderen.«

»Er kommt gut mit den hiesigen Handwerkern aus. Das will was heißen. Erst hat er bei Yves gewohnt, dann hat er sich eine kleine Wohnung in Plounévez genommen, um näher an seinen Baustellen zu sein.«

»Vorher hat er Schlösschen an der Loire restauriert«, murmelte Kelda von sich hin. »Wenn er doch das Erbe seines Großvaters gesucht hat, frage ich mich …«

»Manchmal muss man wohl Umwege im Leben gehen«, meinte Paulette und lächelte. »Sein Umweg hieß Bernice.«

»Ach so.«

»Yves hat ihn damals in Portugal aufgeklaubt, Kelda. In einem ziemlich mistigen Zustand. Er wird nicht gerne darüber sprechen, aber ich denke, es ist besser, du weißt es. Er hat diese Bernice bei seinem ersten Projekt gleich nach seinem Studium kennengelernt. Sie war die Tochter des Schlossbesitzers und, wenn alles stimmt, was ich dazu hörte, ein arrogantes Biest. Trotzdem hat er sie geheiratet, aber nach wenigen Jahren hat sie ihn schnöde aus dem Haus geworfen. Sie hat was Besseres gefunden. Er hat darunter ziemlich gelitten, hat den Job geschmissen und ist durch die Lande gezogen.«

»Du liebes bisschen, das hört sich so gar nicht nach Simon an. Warum ist er denn nicht wieder nach Hause zurückgekehrt?«

»Keine Ahnung. Er war jedenfalls einigermaßen heruntergekommen, trank zu viel, sah verwahrlost aus, hauste in heruntergekommenen Löchern – hat Yves erzählt.«

»Und wie ist ausgerechnet Yves auf ihn gestoßen. In Portugal?«

»In einer Kaschemme in der Rue de Porteval in einem winzigen Dorf in der Nähe von Lissabon. Am Rande eines Naturparks. Porteval. Okay, das verstehe ich jetzt sogar«, meinte Marie-Claude nachdenklich. »Er war wohl noch immer besessen davon, diesen Ort zu finden.«

»Vermutlich, aber was hat Yves in Portugal zu suchen?«

»Yves ist ein ewiger Wanderer. Er verbringt nur die Sommermonate hier mit seinem Flohmarkt. Damit verdient er sich genug zusammen, um ab Herbst wieder auf Reisen zu gehen.« Paulette lachte. »Yves war schon immer ein Ausbrecher. Sein Vater, musst du wissen, Kelda, war beim Militär. Ein pflichtbesessener Offizier, der seinen Sohn mit soldatischer Härte erzogen hatte und unbedingt wollte, dass Yves in seine Fußstapfen tritt.«

»Solche Wünsche gehen selten in Erfüllung.«

»Wohl wahr. Kaum dass er achtzehn war, packte Yves sein Bündel und verschwand lange Zeit. Er kam erst in den Neunzigern wieder zurück, als sein Vater im Ruhestand war und mit seiner Frau nach Südfrankreich gezogen ist. Er hat schon die ganze Welt gesehen, und wenn Simon in Vietnam, Kathmandu oder auf den Faröerinseln sein Ponte Valle gesucht hätte, wäre er ihm vielleicht auch dort begegnet. Möglicherweise war es Schicksal, dass die beiden sich gerade dort über den Weg gelaufen sind. Was im Einzelnen zwischen den beiden vorgefallen ist, weiß ich nicht, aber Yves hat deinen Simon wohl dazu gebracht, wieder aufs Trockene zu kommen, und hat ihn hergeschleift. Zunächst als seinen Helfer bei seinen Beschaffungsaktionen. Du musst wissen, wer immer hier im Umkreis einen Haushalt aufzulösen hat, wendet sich an Yves.«

»Und wer immer einen gründen will, offensichtlich auch«, stellte Kelda trocken fest.

»Sicher. Es ist praktisch. Und er hat einen guten Ruf. Jedenfalls hat er Simons Fähigkeiten bald entdeckt. Bei diesen Entrümpelungsaktionen kommt ja oft auch die Frage nach Umbau, Renovierung oder Sanierung auf, und flugs hatte er seine ersten kleinen Aufträge. Man muss es Simon lassen, er hat sich schnell wieder in den Griff bekommen. Aber dass er gerade dir diesen unrühmlichen Abrutscher nicht gleich auf die Nase binden wollte, musst du auch verstehen.«

»Klar, mit so etwas brüstet man sich nicht unbedingt.«

Aber von Bernice hätte er mir erzählen können, dachte Kelda plötzlich.

Oder?

Oder schämte er sich wegen dieser missglückten Ehe auch?

»Sprich ihn nicht drauf an, Kelda. Vielleicht erzählt er es dir irgendwann von sich aus.«

»Nein, natürlich spreche ich nicht mit ihm darüber. Meine Güte, wir haben uns zehn Jahre lang nicht gesehen, und vorher waren wir lediglich Nachbarn.«

»Er war für dich lediglich ein Nachbar. Ich habe irgendwie das Gefühl, dass du für ihn mehr warst.«

»Ja, meine Güte, vielleicht war er mal eine Zeitlang etwas in mich verschossen, aber das ist Jahre her.«

Die Dämmerung war der Nacht gewichen, einer warmen Sommernacht, deren dunkelblauer Himmel von mehr Sternen besetzt war, als Kelda je zuvor gesehen hatte. Hier am Ende der Welt gab es kaum Restlicht, das ihr Funkeln verblassen ließ, und zu ihrem Entzücken zog sich das breite Band der Milchstraße weit über das Firmament.

Paulette und Marie-Claude schwiegen, und Keldas Gedanken hüpften von einem Sternbild zum nächsten. Der Große Wagen glitzerte am Horizont, darunter das Haar der Berenike. Autsch – Bernice. Schöner war der mächtige Schwan, der seine Schwingen weit ausbreitete. Genau wie der Adler in seiner Nähe.

Sollte Simon etwa noch immer ein mehr als nur freundschaftliches Interesse an ihr haben?, fragte Kelda sich.

War er deswegen heute Nachmittag rot geworden?

»Wenn du auf der Suche nach Schiffbrüchigen bist, Kelda, solltest du die Chapelle Pol aufsuchen«, meinte Paulette leise. Und Marie-Claude fügte hinzu: »Und nimm Simon dazu mit.«

Mhm – warum nicht?