Kelda bemerkte den roten Doppeldeckerbus natürlich sofort und parkte am Rand des Feldwegs, wo auch Simons Offroader stand. Das Gelände des Freiluft-Flohmarktes war etwa fußballplatzgroß. Eine Wiese, auf der sich unter Zeltplanen, Sonnensegeln und Schirmen, aber auch ganz einfach im Freien auf Tischen oder auf dem Boden eine geradezu unüberschaubare Menge Zeug befand. Dazwischen wanderten schon einige Besucher umher, die immer mal wieder etwas hochhoben, begutachteten, wieder wegstellten oder zu dem Stand mit der Kasse brachten, hinter der Yves stand, der gerade gestenreich mit zwei Touristen verhandelte.
Sie sah sich um und fragte sich, ob es eine Ordnung in diesem Chaos gab. Langsam schlenderte sie an einem Tisch vorbei und stellte fest – ja, es gab eine Ordnung. Sie befand sich in der Spielzeugabteilung. Eine ramponierte Puppenstube, räudige Plüschteddys, Puppen, die des dringenden Besuchs des Puppendoktors harrten, bunte Bauklötze, ein paar wunderschöne alte Bilderbücher, Barbie in dürftigem Strandlook, ein hübscher alter Puppenwagen aus Weidengeflecht – wirklich alles und jedes, von Müll bis zu wahren Schätzchen war hier zusammengewürfelt. Kelda war fasziniert und nahm sich die nächste Reihe vor. Nautisches bot sich hier. Ein Kompass, der den Norden verlassen hatte, ein Fernrohr, mit dem wohl schon Nelson den Horizont abgesucht hatte, viel stumpfes Messing, eine schimmernde Mahagonikiste mit Sextant – ein Fundstück ohnegleichen. Etliche Schiffsglocken hingen verführerisch vom Gestänge des Zeltes. Sie unterdrückte den Drang, eine davon zu läuten. Wer wusste schon, welche Geister man damit rief. Vermutlich viele, und alle wollten eine Lokalrunde von ihr.
Mit technischem Gerät ging es in der nächsten Reihe weiter. Bügeleisen, mit Kohle zu befeuern, rostige Toaster, ein alter Volksempfänger – lebende Geschichte auch hier. Eine uralte Typenhebel-Schreibmaschine, auf der vermutlich Sartre schon seine Finger gewetzt hatte, begeisterte sie, ein Staubsauger der ersten Generation, mehrere Haartrockner, denen sie ihre Frisur nicht anvertrauen würde, zur Ergänzung ein Set elektrischer Lockenwickler – Kuriositäten samt und sonders. Kelda hätte Stunden in Aladins Schatzhöhle verbringen können, aber sie hatte ja einen Auftrag. Also machte sie sich auf die Suche nach der Haushaltswarenabteilung. Ein Teil davon war auf langen Tischen unter freiem Himmel ausgebreitet. Es blinkten Schliffgläser, Karaffen, Kristallvasen, Aschenbecher und Salzfässchen. Die Gläser notierte sie sich im Geiste. Es gab recht viele, die zusammenpassten. Dann aber kam sie zum Geschirr, und hier wollte sie ihren Augen nicht trauen. Marie-Claude hatte einfache Steingutteller verwendet, blaue und weiße. So etwas Ähnliches wollte sie auch wieder erstehen, aber erstens gab es davon nicht viele, und zweitens überwältigte sie, was sie hier vorfand. Sehr vorsichtig hob Kelda eine mit zarten Veilchen bemalte Untertasse. Ihr vager Verdacht bestätigte sich: Limoges. Ein komplettes Limoges-Service für zwölf, wenn nicht mehr Personen stand hier einfach so unter freiem Himmel. Ein Vermögen musste das mal gekostet haben. Sie ging wie im Traum weiter. Zwischen Abscheulichkeiten aus den sechziger Jahren und gnadenlosem Kitsch fand sie immer wieder neue Kostbarkeiten. Wedgewood, Meißen, Sèvres …
Während Kelda schwelgte, traf ein Lieferwagen ein, staubig wie alles hier, und zu ihrer Überraschung stiegen Simon und ein Gnom aus. Der Gnom mochte demselben Jahrgang angehören wie die vier Veteranen, eine verwitterte, o-beinige Gestalt in ausgebeulten Hosen und der obligatorischen Kappe auf dem Kopf. Sie entluden weitere Kisten. Kelda näherte sich neugierig. Noch mehr Schätze?
Als sie Simon fröhlich begrüßen wollte, bemerkte sie seine sauertöpfische Miene und bremste ihren Überschwang. Nüchtern wünschte sie ihm einen guten Tag.
Er stellte die letzte Kiste auf den Boden, nickte ihr zu und fragte, ebenso nüchtern: »Auf Schnäppchenjagd?«
»Ja, aber nicht für mich. Es gab wieder einmal Scherben bei Marie-Claude.«
»Soquette?«
»Aber nein. Die Süße war heute ganz ruhig. Die neuerliche Vernichtung von Geschirr und Gläsern im großen Umfang haben wir leider Matt und Co zu verdanken. Zu viel Rotwein in der Mittagshitze.«
Kelda spürte, dass ihr Ärger über den Vorfall sich wieder in ihr ausbreitete. Simons Miene hingegen hellte sich unerwarteterweise auf. Er schien sich sogar darüber zu amüsieren.
»Schlechte Kombination – Rotwein und Sonne. Das hier ist Xavier«, stellte er ihr den Gnom vor, der sich schwungvoll verbeugte.
»Wo bekommt ihr nur all dieses Zeug her?«
»Haushaltsauflösungen. Hast du was gefunden? Geschirr gibt es immer haufenweise. Hier sind auch wieder drei Kisten voll.«
»Limoges, Sèvres, Meißen … Ich brauche aber etwas, das für ein Bistro geeignet ist. Steingut, Fayencen oder so was.«
»Wieso kann man Crêpes nicht von Limoges essen?«
Ja, wieso eigentlich nicht?, fragte sich Kelda. Es würde dem Marée bleue eine ganz eigene Note geben.
»Yves verkauft es nach Stück. Du solltest mit ihm handeln, er schuldet dir noch was wegen des baufälligen Hauses.«
Die Versuchung war ungeheuerlich. Aber was würde Marie-Claude dazu sagen?
Das Veilchenmuster hatte es Kelda angetan. Und die Kornblumen von Sèvres sowie das Geschirr mit Rosen und Vergissmeinnicht. Von allem war reichlich vorhanden, wenn auch die Service nicht vollständig waren. Aber auf Saucieren und Zuckerdöschen konnte man vielleicht wirklich verzichten.
Sie begab sich also zu Yves, der sich mit Händen und Mimik einem englischen Ehepaar verständlich zu machen versuchte. Simon folgte ihr und stellte sich als Dolmetscher zur Verfügung. Die Herrschaften waren leicht zufriedengestellt. Ein schauriges Seestück – die Wellen schlugen hoch über dem Wrack zusammen – wechselte den Besitzer, und Yves strahlte Kelda an.
»Madame Kelda, haben Sie etwas Hübsches gefunden?«
»Einiges, Yves, und nun handeln wir!«
Er strahlte noch breiter. Eigentlich hatte sie keine Übung im Handeln, aber als die Situation festgefahren war, sprang Simon ein, der von ihrer schlimmen Nacht neben dem toten Jerôme mit düsterer Stimme sprach und die schrecklichen Alpträume heraufbeschwor, die sie seither verfolgten. Kelda spielte so gut sie konnte mit. Klagte über schlaflose Nächte und Panikattacken, Simon murmelte »Schadensersatz« und sie »Nachlass«.
Leider hatte Kelda ständig Mühe, ihre Erheiterung zu verbergen, und als sie sich schließlich auf einen moderaten Preis für die vierzig Teller geeinigt hatten, rief Yves den Gnom namens Xavier herbei und beauftragte ihn, das Porzellan in die Kisten zu verpacken.
»Ihre Limoges-Teller in die eine, das Sèvres in die andere. Von jedem vierzig.« Dann grinste er. »Mengenrabatt! Außerdem wird Simon Sie jetzt ins Café einladen.«
»Ach ja?«
»Einen kleinen Schaden soll er ja auch haben.«
»Die Idee ist nicht schlecht. Ich helfe dir, das Zeug einzuladen, dann fahren wir nach Brignogan«, meinte Simon.
Warum nicht?, dachte Kelda. Sie hatte sich sowieso mit ihm unterhalten wollen – um alter Zeiten willen. Sie stieg also ein und schloss hinter seinem Wagen auf. Während der kurzen Fahrt erinnerte sie sich an ihre Bekanntschaft, die vor achtzehn Jahren begonnen und ziemlich genau vor zehn Jahren geendet hatte. Keldas Eltern waren umgezogen, als sie vierzehn war. In der neuen Nachbarschaft wohnte Simon, damals siebzehn, mit seiner Mutter. Sie besuchten dieselbe Schule, weshalb sie sich täglich auf dem Weg dorthin begegneten. Doch er bereitete sich schon auf das Abitur vor und war mit ganz anderen Leuten unterwegs als sie. Erst zwei Jahre später fiel ihr auf, dass er irgendwie immer wieder ihre Wege kreuzte. Sie hatte dem wenig Beachtung geschenkt, sie war mit ihrer ersten großen Liebe beschäftigt. Simons Anhimmelei jedoch half ihr und ihrem Stolz ein halbes Jahr später, als sie in dem zu der heftigen Liebesaffäre passenden herzzerreißenden ersten großen Liebeskummer schwelgte. In diesen Wochen war sie ein paarmal mit Simon ausgegangen, aber mehr als ein freundschaftliches Gute-Nacht-Küsschen an der Haustür war nicht daraus geworden. Der Liebeskummer klang ab, andere Aufgaben und Interessen nahmen seinen Platz ein. Sie beide studierten, trafen sich zwar auch hin und wieder auf eine Pizza oder so, aber mehr wurde nicht daraus, weil Kelda den mageren, schüchternen Simon zwar mochte, aber keinerlei Funken zwischen ihnen übersprangen. Dann verbrachte sie ein Jahr in Nantes, und als sie zurückkam, war Simon ebenfalls nach Frankreich gegangen, wie sie von seiner Mutter erfuhr.
Sie beendete ihr Studium, bekam ihre erste Stelle, zog um, traf auf Matt … kurzum, Simon war aus ihrem Leben verschwunden. Kaum mehr als zwei, drei Mal hatte sie während der vergangenen Jahre an ihn gedacht.
Eigentlich spannend, ihn jetzt wiederzutreffen, stellte sie fest. Dass er Architektur studiert hatte, hatte sie gewusst. Was ihn dauerhaft nach Frankreich verschlagen hatte, würde sie gleich erfragen.
Simon hielt an dem langen Parkstreifen am Kai, sie stellte sich daneben und sah zu dem dreistöckigen Haus auf, das sich mit dem einfallsreichen Namen »Café du Port« schmückte.
»Dann wollen wir sehen, wie das Hafenwasser hier mundet«, sagte sie, als sie zu Simon ging, der auf sie wartete.
»Setzen wir uns da vorne in den Schatten?«
Sie fanden einen Platz mit Ausblick auf die halbrunde, leider sehr algenverseuchte Bucht, in der kleine, bunte Fischerboote dümpelten. Von dem mondänen Seebad des frühen zwanzigsten Jahrhunderts war hier nicht mehr viel zu erkennen.
»Was hat dich hierhin verschlagen?«, fragte Kelda, nachdem sie ihren Eiskaffee bestellt hatte. »Lebst du dauerhaft hier oder nur für einen Auftrag?«
Simon räusperte sich, streckte seine langen Beine aus und antwortete, wie ihr schien, etwas zögernd.
»Ich habe vor zwei Jahren eine Firma in Saint Pol gegründet – Altbausanierungen.«
»Und davor? Ich meine, du bist doch schon vor Jahren nach Frankreich gegangen, hat mir damals deine Mutter erzählt.«
Er hob die Schultern. »Vorher habe ich bei einer Denkmalschutz-Gesellschaft gearbeitet. Schlösschen an der Loire waren ihre Spezialität.«
Offensichtlich war mehr dazu nicht aus ihm herauszubekommen. Kelda erinnerte sich, dass er ebenfalls ziemlich wortkarg sein konnte, aber jetzt wollte sie das Gespräch nicht versickern lassen.
»Inzwischen ziehst du die rustikaleren Bauten in der Bretagne vor?«
Er zuckte noch einmal mit den Schultern. »Sie haben ihren Reiz.«
Er wollte wohl nicht mehr ins Detail gehen, also wechselte sie das Thema und erzählte ihm, was sie von dem goldzahnigen Filou Jerôme in Erfahrung gebracht hatte, und schloss ihren Bericht mit der Feststellung: »Diese Alterchen, die sich mittags bei Marie-Claude einfinden, sind richtige Schwatzbasen. Sie schwelgen in dem Klatsch und Tratsch über frühere Skandale. Aber das ist vermutlich verzeihlich, denn die Zeit von der Jahrhundertwende bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs war für diese beschauliche Region ziemlich aufregend.«
Simon lächelte endlich. »Ich weiß nicht, Kelda. Beschaulich ist es in der Bretagne eigentlich nie gewesen. Es ist ein rechter Rebellenhaufen, der hier lebt.«
»O ja!« Sie grinste. »Streitsüchtig, dickköpfig, kampflustig. Du hättest die vier Veteranen erleben müssen, als sie heute Mittag Matt und seine Surferkumpels angemacht haben.«
»Und sie haben nur Angst davor, dass ihnen der Himmel auf den Kopf fällt.«
Jetzt grinste er auch. »Wusstest du, dass meine Familie von hier stammt?«
»Nein, das wusste ich nicht. Willst du damit sagen, dass Rebellenblut in deinen Adern fließt?«
Er hatte ein ansprechendes Grinsen, fand Kelda. Ein bisschen gefährlich. Das war ihr früher nie aufgefallen.
»Dann leg doch endlich die Karten auf den Tisch, Simon«, forderte sie ihn daher auf. »Ich habe dir schließlich auch von meinem Filou erzählt. Was für einer gehört zu deiner Familie?«
»Luc le Gamache.«
Sofort stand das Bild eines schwarzhaarig pomadisierten Herrn mit schmalem Moustache, weißem Anzug und Kreissäge, die Zigarette lässig im Mundwinkel, vor Keldas innerem Auge.
»Du nimmst mich auf den Arm.«
»Aber nein, Luc le Gamache war mein Großvater. Allerdings hat er seine, sagen wir nicht ganz legale Karriere aufgegeben, bürgerlich geheiratet und sich fürderhin Lukaz Tobant genannt.«
»Hast du deine Familie hier aufgesucht?«
»Ich habe sie gesucht, ja. Aber nicht gefunden. Das war übrigens der Grund, warum ich damals nach dem Studium nach Frankreich gegangen bin.«
»Und geblieben bist?«
»Auch.« Er winkte der Bedienung und bestellte ihnen noch einen Eiskaffee. Kelda hob eine Braue und schielte auf ihre Taille. Aber Simon hatte ihre Neugierde geweckt, und sie hatte schließlich Urlaub. Neugierig fragte sie: »Hast du herausgefunden, wie dein Großvater zu dem schönen Namen Luc le Gamache kam?«
»Oh, das wusste ich sogar schon vorher. Als kleiner Junge habe ich mit Begeisterung seinen Geschichten zugehört. Ich wollte dir davon schon damals erzählen, aber es ergab sich nie die Gelegenheit.«
»Wirkte ich so sittenstreng auf dich?«
»Unnahbar.«
Diese Bemerkung verblüffte Kelda. Sie hatte sich eigentlich für recht umgänglich gehalten.
»Unnahbar? Tatsächlich. Also, Simon, mag ja sein, dass ich dir gefühllos vorkomme, nur weil ich, ohne in hysterische Schreie auszubrechen, neben Jerômes Knochen die Nacht verbracht habe …«
Er schüttelte lächelnd den Kopf. »Nein, das hat mich beeindruckt. Wenn du ein bisschen Zeit hast, erzähle ich dir gerne von meinem Großvater.«
»Ich habe Urlaub. Und du kannst offensichtlich über deine Zeit verfügen, wie du möchtest.«
»Nicht immer, aber jetzt.«
Die Getränke wurden ihnen an den Tisch gebracht, und Kelda rührte mit dem Strohhalm in dem Kaffee herum.
»Na, dann los – L’histoire de Luc le Gamache!«
»Aus Großvaters Geschichten habe ich entnommen, dass sein Vater aus einer Küstengegend stammte. Wo genau sie lebten, habe ich nicht ausfindig machen können. Er selbst hat keine präzisen Angaben dazu gemacht. Aber seine Familie verdiente sich – wie hier üblich – ihr Geld mit Fischerei, Algensammeln und natürlich Schmuggel.«
»Klar, das hat ja Tradition.«
»Luc ging bei seinem Vater in die Lehre – in jeder dieser drei Disziplinen. Sowie er mit anpacken konnte, fuhr er mit ihm auf ihrem Logger nach Guernesey hinaus, um Tabak zu schmuggeln. Mit vierzehn ereilte ihn jedoch ein Unglück – sie erlitten Schiffbruch, sein Vater ertrank, Luc wurde nach einigen Stunden von einem anderen Schmuggler aus dem Meer gefischt.«
»Auch Schiffbruch hat hier Tradition – sind sie an den Felsen gescheitert?«
»Nein, dem Boot war ein Leck zugefügt worden.«
»Bitte?«
»Jemand hatte es so präpariert, dass es auf See volllaufen musste.«
»Mord? Wer hat ihn umbringen wollen?«
»Er wollte nie davon erzählen, es muss ein traumatisches Erlebnis gewesen sein. Er hat seinen Vater dabei verloren.«
»Das, Simon, kann ich mitfühlen.«
»Richtig, du hast ja auch Schiffbruch erlitten.« Simon spielte verlegen mit seinem Löffel. »Ich war vorgestern ziemlich unsensibel, nicht wahr? Dir Leichtsinn vorzuwerfen?«
»Schon gut. Wir sind lediglich gekentert. Die See war ruhig, ich hatte eine Schwimmweste an. Wahrscheinlich hätte ich es schon noch irgendwie geschafft, an einer flachen Stelle an Land zu kommen. Ich bin eine gute Schwimmerin. Aber die Strömung zog uns mächtig in Richtung Felsen.« Kelda biss sich auf die Lippen. »Ich hatte Todesangst.«
»Das glaube ich dir unbesehen.«
»Und besonders gerne werde ich mich zukünftig daran auch nicht erinnern.«
»Aber nicht dem Wassersport entsagen?«
»Für diesen Urlaub schon. Ich wollte mir ohnehin das Land genauer ansehen. Es ist so reizvoll und birgt einen ganz eigenen Zauber.«
»Das sagte mein Großvater auch immer. Aber dennoch ist er nie wieder hierher zurückgekehrt. Stattdessen schloss er sich den Männern an, die ihn gerettet hatten, Schmuggler, die von Guernesey aus mit England ihren Handel trieben. Ich vermute, es entsprach seinem Sinn für Abenteuer, und ganz offensichtlich hat er sich, so jung er auch war, beständig nach oben gearbeitet. Der Erste Weltkrieg bot natürlich ein reiches Betätigungsfeld für den Schwarzhandel, und 1920 hatte er sich den Namen Luc le Gamache redlich verdient, trug weiße Anzüge und rauchte türkische Zigaretten. Seine Vorliebe galt den Gamaschen, die von zärtlichen Frauenhänden bestickt waren.« Simon lächelte wieder. »Ich muss dir mal ein Foto von ihm zeigen.«
»Unbedingt.«
»Er war nicht nur auf sein Äußeres bedacht, er war auch geschäftstüchtig und hatte bald genügend Kapital beisammen, um sich in Plymouth als ehrbarer Spirituosenhändler anzusiedeln.«
»Ehrbar? An einem Küstenort?«
»Nach außen schon. Besonders vertrauenswürdige Kunden erhielten jedoch auch immer mal wieder ein Fässchen zollfreien französischen Cognac.«
»Gute Beziehungen haben sich schon immer ausgezahlt.«
»Ja, er trug einiges an Vermögen zusammen, und er hatte sogar das Glück, dass er sein Kapital retten konnte, als er 1930 etwas überstürzt nach London abreisen musste.«
»Manchen Freunden kann man einfach nicht trauen.«
»Seine Worte. Ich merke, du hast Verständnis für seinen Lebenswandel.«
»Ja, deshalb nehme ich an, er wird in London wieder auf die gamaschenumhüllten Füße gefallen sein.«
»Mit Wagemut und Geschäftssinn. Der Zweite Weltkrieg zog am Horizont herauf, und es gelang ihm – frag mich nicht wie –, sich als Spirituosenlieferant eines Offizierskasinos zu etablieren.«
»Ein krisenfester Job!«
»Wohl wahr. Er war so beliebt, dass er sogar die Besatzungstruppen nach Deutschland begleitete, und hier schlug dann die Liebe zu. So nannte er es zumindest immer. Er war schon siebenundvierzig, als er sie kennenlernte – die Tochter eines Schiffsausstatters in Bremen. Viel Zeit ließ er sich nicht, zwei Jahre, nachdem er deutschen Boden betreten hatte, kam sein Sohn Henry auf die Welt, drei Jahre später seine Tochter Jenny.«
»Meine Mutter.«
»Diese Ehe war das Ende seiner Karriere?«
»Das Ende von Luc le Gamache, ganz richtig. Er nahm den Namen Lukaz Tobant an – ob es sein wahrer Name war, haben wir nie herausgefunden. Es war in jenen Zeiten leicht, sich eine passende Identität zu verschaffen, und durch die Heirat erhielt er dann auch die deutsche Staatsbürgerschaft.«
»Warum ist er nur nie in seine Heimat zurückgekehrt?«
»Einmal, kurz vor seinem Tod, hat er gesagt, weil er Angst vor seiner Mutter hatte. Von ihr hat er auch nie gesprochen – etwas musste damals vorgefallen sein. Vielleicht hing es mit dem Schiffbruch zusammen. Vielleicht fühlte er sich schuldig am Tod seines Vaters – ich weiß es nicht. Aber er hat mir das Land immer voller Sehnsucht geschildert, er hat die Bretagne sehr geliebt.«
»Wann ist er gestorben? Ich meine, er war ja nicht mehr der Jüngste, als er seine Nachkommen zeugte.«
»Er ist zweiundneunzig Jahre alt geworden, sein erstaunlicher Lebenswandel hat ihm nicht geschadet. Ich war dreizehn damals, und als er gestorben ist, brach für mich eine Welt zusammen.«
»Du hast ihn geliebt.«
»Ja, verehrt und bewundert. Seine Geschichten über die Schmuggelfahrten waren besser als jeder Abenteuerroman, seine Histörchen aus dem Spirituosenhandel reizten mich immer wieder zum Lachen, die aus dem Offizierkasino brachten mir die Geschichte des Krieges näher, und seine Erlebnisse im Schiffsbedarfshandel weckten mein Fernweh.«
»Weshalb du hergekommen bist?«
»Ja, und der Auslöser war mein Onkel Henry – sein ältester Sohn. Er kam vor zehn Jahren bei einem Unfall ums Leben. Er war unverheiratet, und so erbten meine Mutter und ich das, was sein Vater ihm hinterlassen hatte. Neben einem nicht unbeträchtlichen Kapital auch ein Haus in der Bretagne. Onkel Henry hatte sich schon nach Großvaters Tod auf die Suche nach dem im Testament erwähnten Gebäude gemacht, hat es aber nicht gefunden.«
»Hat er denn keinen Ort erwähnt?«
»Doch, aber so, wie er ihn geschrieben hat, konnte er ihn hier nicht finden. Großvater sprach nämlich nicht Französisch.«
»Wie das?«
»Er war Bretone, Kelda.«
»Oh, klar.«
Bretonisch war eine alte keltische Sprache und ähnelte dem Französischen wie eine Kuh einer Möwe.
»Mit unserer Suche landeten wir immer in Italien, nicht in der Bretagne. Ein Ponte Valles gibt es hier nicht, genauso wenig wie den Namen Tobant. Onkel Henry hat allerdings auch nicht besonders ernsthaft nachgeforscht. Eine Fischerkate, wenn sie denn überhaupt noch stand, kümmerte ihn wenig.«
»Dich schon?«
»Mich schon. Nicht um sie zu besitzen, sondern weil sie eine Verbindung zu meinem Großvater wäre. Das war der – vielleicht sentimentale – Antrieb für mich, vor Ort meine Suche durchzuführen. Aber auch ich fand keine Spur, und darum nahm ich das Angebot der Firma an, die sich auf Sanierung denkmalgeschützter Gebäude spezialisiert hat.«
»Hast du hier nach ihm gesucht?«
»Zunächst ja. Auf Grund der Geschichten von Großvater glaube ich, dass diese Gegend in Frage kommt – kleiner Hafen, Goëmoniers, Guernesey-Schmuggel – das passt alles schon.«
»Einwohnerverzeichnisse? Kirchenbücher?«
»Stecknadel in Heuhaufen. Hier sind in den vergangenen hundert Jahren etliche Umstrukturierungen erfolgt, Gemeinden sind umgebildet, Verwaltungsbezirke neu geordnet worden. Ich müsste seine Geburtsurkunde finden oder einen Hinweis auf seine Eltern. Bislang bin ich da nicht fündig geworden. Und dann habe ich durch meinen Job einige Jahre im Süden verbracht und mich nicht weiter darum gekümmert.«
Die vier Veteranen fielen Kelda ein. Sie pflegten ein langes Gedächtnis. Die Geschichte von Jerôme Bellard hatten sie erzählt, als sei sie vorgestern passiert.
»Hast du mal mit den alten Leuten hier gesprochen, Simon? Vielleicht erinnern sie sich ja an diesen Schiffbruch. Ich habe den Eindruck, dass solche Ereignisse hier zur allgemeinen Unterhaltung jahrelang beitragen.«
»Mhm – nein, das habe ich noch nicht versucht. Aber du hast recht, Geschichten halten sich lange. Ich könnte Xavier mal befragen. Der ist zwar ein Kauz und schwafelt lieber über Korriganen und seltsame Meerwesen, mit denen er in Kontakt steht, aber möglicherweise erinnert er sich an den Schmuggler, der kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs zusammen mit seinem Sohn ertrunken ist.«
»Ich werde mal die vier Alterchen fragen, wenn sie sich wieder im Marée bleue einfinden.« Mit einem Schlürfen leerte Kelda die Reste ihres Eiskaffees und schaute zur Uhr. »Ich glaube aber, jetzt sollte ich meine Beute abliefern. Ich will noch farblich passende Platzsets und Servietten kaufen, um Marie-Claude von Limoges und Sèvres zu überzeugen.«
»Tja, und ich werde ein bisschen lästigen Papierkram erledigen müssen.«
»Ach Gott, habe ich dich davon abgehalten?«
Wieder grinste Simon. »Hat nicht wehgetan.«
Er zahlte, und als sie zu ihren Autos gingen, rutschte Kelda eine Frage heraus.
»Sag mal, Simon, du wusstest doch, dass ich damals in Nantes war. Warum bist du nicht mal vorbeigekommen?«
Wurde er rot? Wurde er doch tatsächlich rot?
»Weißt du – ich – mhm, ich wollte dir nicht lästig fallen.«
»Oh, na dann.«
Er winkte ihr noch mal zu, stieg in seinen Wagen und verschwand in der obligatorischen Staubwolke.
Ein bisschen verdattert schaute Kelda ihm nach. Irgendwas stimmte da nicht.
Sie nahm sich vor, Marie-Claude mal vorsichtig nach ihm auszufragen.