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Der Anblick verfolgt mich noch immer. Das wird er wohl für den Rest meines Lebens.

In dem Raum befanden sich vier Mädchen. Ihre Haare waren wirr und schmutzig. Eine trug nur ein langes, verdrecktes T-Shirt. Die anderen waren auch nicht eben gekleidet wie Pastorenfrauen.

Jede hatte um ein Fußgelenk eine Handschelle, die an einem Rohr längs vor einer Wand befestigt war. Eine saß mit erhobenen Armen da, die Handgelenke mit Kabelbinder an ein Rohr über ihrem Kopf gefesselt. Der Kopf hing zwischen hochgezogenen Schultern, verklebte Haare verdeckten das Gesicht.

Drei leere Handschellen hingen an dem unteren Rohr. Ein weggeworfener Kabelbinder lag darunter.

Die Mädchen starrten mich mit Augen an, wie ich sie aus Onlinebildern kannte. Leer, ohne jede Hoffnung. Vielleicht vollgepumpt mit Heroin.

Ein halbes Dutzend schmutzige Decken lagen über den Boden verstreut. In einer Ecke quoll ein Eimer über vor Urin und Fäkalien.

»Alles in Ordnung«, flüsterte ich. »Ich tue euch nichts.«

Das Mädchen mit dem Kabelbinder hob den Kopf. Die anderen rührten sich nicht und sagten auch nichts.

Was sollte ich tun? Ich konnte nicht weggehen, um die Polizei zu rufen. Es bestand die Gefahr, dass die Mädchen in meiner Abwesenheit fortgeschafft wurden. Das konnte ich nicht riskieren.

Blöd! Blöd! Wie hatte ich nur mein Handy vergessen können?

Während ich so unentschlossen dastand, flüsterte ein Mädchen einem anderen etwas zu. Ich konnte die Worte nicht verstehen, aber der Tonfall kam mir bekannt vor.

Ich wollte eben etwas sagen, als ein Motorengeräusch meine Lippen verschloss. Ich rannte den Gang entlang, stellte mich auf die Zehenspitzen und spähte über ein Fensterbrett.

Das Glas war matt und schmutzverklebt. Ich konnte nur zwei parallele Lichtkegel sehen, die die Dunkelheit unter mir durchschnitten.

Der Motor wurde abgestellt. Die Scheinwerfer. Eine Tür knallte zu. Stiefel klapperten die verrostete Treppe zur Laderampe hoch.

Scheiße! Scheiße! Scheiße!

Ich rannte den Gang wieder hoch, schlüpfte ins Zimmer und gab den Mädchen mit dem Zeigefinger vor dem Mund zu verstehen, dass sie still sein sollten.

Sie starrten mich nur an. Verstanden sie mich nicht? Waren sie zu betäubt, um zu reagieren?

Mit dem Herzschlag in der Stratosphäre, drückte ich den Rücken an die Wand und hielt die Waffe mit der Mündung nach oben und so ruhig, wie ich nur konnte. Meine Gedanken rasten. Ich hatte eine Kugel abgefeuert. Hatte Rockett auch geschossen? Wie viele Patronen hatte ich noch im Magazin?

Stiefel patschten und knirschten über den Lagerhausboden. Blieben abrupt stehen.

»Was zum Teufel? Ray?«

Einen Augenblick später kamen die Stiefel heraufgerannt.

Die Schritte näherten sich der Tür, hielten inne und, was mich schockierte, wichen dann zurück. Ich hielt den Atem an. Ging er wieder nach unten?

Stille legte sich über das Lagerhaus.

Auch im Rückblick habe ich noch kein Gefühl dafür, wie lange ich wartete.

Tauben gurrten.

Mein Herz hämmerte.

Der Motor sprang nicht wieder an.

War er verschwunden? Schaute er nach Majerick? Nach den Mädchen? Rief er Verstärkung?

Ich musste etwas tun.

Ich stellte mir die Ziele auf dem Schießstand in Bagram vor. Rief mir das Dreieck des Todes vor Augen.

Die Waffe mit beiden Händen fest umklammert, spähte ich um den Türrahmen.

Der Schlag warf mich zur Seite. Mein Kopf knallte auf Ziegel. Meine Sicht verschwamm, als mein Hintern auf dem Boden landete.

Ein Stiefel trat mir auf die Hand. Schmerz schoss mir den Arm hoch, mein Handgelenk war gefährlich überdehnt. Irgendetwas riss. Die Waffe schnellte mir aus den Fingern.

Ich schrie und trat mit einem Fuß aus. Traf etwas. Hörte die Waffe auf dem Boden scheppern, dann schlittern. Ein hallendes Klacken bedeutete einen Aufprall auf dem Boden im Erdgeschoss.

Auf allen vieren kroch ich zum Treppenabsatz. Mein Gegner war entweder bewaffnet oder nicht. Ich hatte keine andere Wahl. Tief gebückt rannte ich nach unten, immer zwei Stufen auf einmal nehmend.

Mein Verfolger polterte hinter mir her.

Ich rannte an Majerick vorbei, zur Tür hinaus und die Treppe der Laderampe hinunter. Neben dem Chevy-Pick-up stand jetzt ein Porsche 911.

Ich lief links an den Fahrzeugen vorbei und schoss auf die Lücke im Zaun zu, mein Verfolger dicht hinter mir.

Beinahe hätte ich es geschafft.

Zwei Meter von dem Bauschild entfernt packte eine Hand meine Schulter. Ich drehte mich und fuhr mit den Nägeln über deren Haut. Sah, dass parallele Striemen das Wort Ripper verdunkelten.

Der Griff erschlaffte einen Sekundenbruchteil. Ich riss mich los, sprang nach vorne und duckte mich hinter das Schild.

Der Mann schüttelte die verletzte Hand, in der anderen hatte er eine Waffe.

Ich kauerte dicht am Boden, der Puls pochte mir in den Schläfen, der Kehle, der Brust. Warum drückte er nicht ab?

Dann hörte ich ein Klicken.

Keine Kugel klirrte auf Metall. Oder zerriss mein Fleisch.

Noch ein Klicken. Wieder nichts.

Fluchend steckte der Mann die Waffe ein und kam auf mich zu.

Ich rannte auf den Zaun zu. Mit atemberaubender Geschwindigkeit war er über mir.

Wir gingen zu Boden und rollten. Metallschrott und Steine stachen mir in Bauch und Rücken. Öliges Wasser spritzte mir ins Gesicht und durchtränkte meine Kleidung. Unser heftiges Atmen verdrängte alle anderen Geräusche.

Da ich von Nahkampf keine Ahnung hatte, schlug ich nur wild um mich, randvoll mit Adrenalin und angetrieben von Panik.

Ein Wunder. Ich konnte mich losreißen und kroch auf die Öffnung zu.

Eine Hand packte meinen Fuß. Während mein Körper rückwärts über die Erde gezogen wurde, schlossen sich meine Finger um einen verrosteten Metallgegenstand. Das Ding war lang und zylindrisch, ich vermutete, ein Rohrstück.

Mit einem Fauchen tief aus den Eingeweiden drehte ich den Oberkörper und holte mit dem Metallding schräg nach oben aus.

Und traf.

Die Wucht des Aufpralls ließ meinen Angreifer auf die Knie sinken. Er riss die Hände an den Kopf.

Ich rappelte mich hoch und hielt das Rohr so fest umklammert, dass Rostpartikel meine Unterarme sprenkelten.

Das Gesicht meines Feindes leuchtete fahl im Mondlicht. Es überraschte mich nicht.

»Es ist vorbei, Lieutenant.«

Gross hob den Kopf, die Augen ohne Fokus, die Miene zwischen Wut und Schmerz.

Aber ich war in der Zwickmühle. Wenn ich durch den Zaun flüchtete, würde er verschwinden, sich aber vielleicht erst noch der Mädchen entledigen. Konnte ich ihn in Schach halten? Ich musste es. Ich musste Zeit schinden. Den Mistkerl hier festhalten, bis Slidell eintraf. Ihn noch einmal schlagen? Nein, das könnte auf Mord rauslaufen!

»Sie haben mich ausgetrickst.« Zwischen keuchenden Atemzügen.

Gross schwankte auf den Knien, sagte aber nichts.

»Wie läuft das?«, fragte ich. »Kaufen Sie die Mädchen und fliegen sie anschließend mit falschen Papieren in die Staaten? Oder überspringen Sie die Nettigkeiten und verschiffen sie wie Fracht?«

Noch immer keine Antwort.

»Semper fi, was, John-Henry?«

Gross hob überrascht den Kopf. Er nahm die Hände von den Schläfen und ließ sie langsam sinken.

»Ihr mittleres Namensinitial auf der Anklageschrift nach Article 32. Man musste kein Genie sein, um Sie mit Ihrem Onkel John-Henry Story in Verbindung zu bringen. Ihr beide solltet seine Schwester stolz machen. Sie ist Ihre Mutter, nicht? Marianna Story Gross?« Ich musste Pete für dieses Puzzlestück danken.

»Lassen Sie meine Mutter aus dem Spiel.«

Ich redete einfach weiter, während ich verzweifelt auf das Heulen von Sirenen wartete.

»Was ist das für ein Gefühl, das Corps zu entehren?« Bilder blitzten mir durchs Hirn. Tattoos. Aufnäher. »Und Ripper. Ich nehme an, Sie und Rockett haben sich bei Desert Storm zusammengetan. War der Plan seine Idee?«

»Der hatte nicht mal ’nen Plan, wie er von der Kloschüssel wieder runterkommt.« Verwaschen, aber inzwischen kräftiger.

»Wollte Rockett seinen alten Einheitskameraden verpfeifen? Musste er deswegen sterben?«

Gross’ Schultern zuckten. Im ersten Augenblick dachte ich, er würde lachen.

»Was war Candys Sünde? Hat sie versucht zu entkommen? Damit gedroht, zu reden? War sie einfach nur eine Nervensäge, wurde sie deshalb überfahren? War Majerick da auch Ihr Mann fürs Grobe?«

»Was für ein verdammtes Genie Sie doch sind. Haben immer alle Antworten.«

Ich redete weiter, hielt das Rohr fest umklammert, obwohl mein Handgelenk brannte wie Feuer.

»Haben Sie deshalb den Jungen in Sheyn Bagh getötet?«

»Kollateralschaden.«

»Aqsaee kam wirklich auf Sie zu. Aber nicht als Aufständischer. Er wollte Sie wegen Ara zur Rede stellen. Das hat er doch gerufen, oder? Ara, nicht Allah. Schätze, dass Eggers sich verhört hatte, hat Ihrer Geschichte sogar geholfen.«

»Eggers ist ein Trottel.«

»Aqsaee hat Sie als den Mann erkannt, der Ara gestohlen hatte. Er hätte die Dorfältesten informiert.«

Als ich an das Polaroid in meinem Rucksack dachte, brannte mein Abscheu noch heißer.

»Warum Ara? Warum nicht Khandan oder Mahtab oder Laila oder Taahira? Oder hatten Sie die auch schon im Fadenkreuz, Sie elender Dreckskerl?«

»Für die Mädchen da drüben läuft es doch nur scheiße.« Jetzt wieder kalt. Kontrolliert. Ich umklammerte die Stange fester.

»Und Sie hatten vor, Ihnen die Welt zu Füßen zu legen.«

Gross hob ein Knie und stellte den Fuß auf. Schwankte. Stabilisierte sich wieder.

Ich hob das Rohr. »Eine Bewegung, und ich schlage Ihnen den Schädel ein.«

Unsere Blicke trafen sich. Keine Spur mehr da von dem fälschlich beschuldigten Kriegshelden. Vor mir war ein berechnendes Raubtier.

Einige Augenblicke, dann reagierte Gross. Zu langsam, zu offensichtlich. Ich sah es und wich seinem Tritt aus. Gross verlor das Gleichgewicht, schwankte, wirbelte dann aber zu mir herum.

Ich hob das Rohr, bereit, fester zuzuschlagen als je in meinem Leben. Aber auch meine Aktion war nicht unbemerkt geblieben. Gross hob beide Unterarme, um den Schlag abzuwehren.

Ich brach den Schlag ab, ließ das Rohr sinken und riss es dann, so fest ich konnte, zwischen seinen Beinen hoch.

Gross krümmte sich zusammen.

Was mir Zeit gab.

Ich bearbeitete seine Schienbeine. Die Knie.

Gross ging zu Boden und rollte sich zusammen.

Ich trat an ihn heran und hob das Rohr über seinen Kopf.

Mein Herz pochte. Mein Atem kam in keuchenden Stößen.

Ein dünnes Jaulen durchstach das Pandämonium in meinen Ohren und meiner Brust.

Ich stand da, die Waffe erhoben, die Muskeln angespannt.

Das Jaulen trennte sich in einzelne Sirenen.

Die Vernunft besiegte die primitive Wut.

Vielleicht wusste ich auch nur, dass Hilfe nahte.

Ich konnte nicht zuschlagen.

Kurz darauf hielten Streifenwagen quietschend vor dem Zaun. Türen knallten. Lichter pulsierten rot und blau auf dem Horrorhaus in meinem Rücken.