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»Angenommen, diese Mädchen werden illegal ins Land gebracht und in die Prostitution verkauft.«
Slidells Miene machte seine Zweifel mehr als deutlich.
»Menschenhandel. Denken Sie darüber nach.«
Wir standen vor dem Bereitschaftssaal des Morddezernats. Durch die Tür sah man ein Labyrinth von Trennwänden, Aktenschränken und Schreibtischen. Einige waren besetzt.
»Creach sagt, der Bronco Club bringt jeden Monat spezielle Tänzerinnen. Sehr junge Mädchen. Glauben Sie, die sind alle per Anhalter aus Iowa und Nebraska gekommen?«
»Das sind Stripperinnen. Die machen ein paar Dollar und ziehen dann weiter.«
»Und machen an der Yale ihren Doktor«, blaffte ich.
»Das habe ich nicht gemeint.«
»Überlegen Sie mal. Wer wäre in einer guten Position, um den Bedarf für einen ständigen Nachschub an jungen Frauen zu decken?«
Slidell schaute mich skeptisch an.
»Dom Rockett«, sagte ich.
»Nur weil der Kerl schmuggelt, muss das nicht heißen, dass er auch lebende Menschen schmuggelt.«
Ich zählte die Punkte auf, die meine Assoziationskette ergaben. Candy. Passion Fruit. Spanisch. Häufige Einkaufsreisen nach Südamerika.
»Und Rockett hatte Geld flüssig, um in S&S Enterprises zu investieren. Woher hatte er es?«
»Sie wollen damit sagen, er stopft sich die Taschen voll, indem er mit Kindersexsklavinnen handelt?«
Langsam, Brennan.
»Ich will damit sagen, wir sollten die Möglichkeit in Betracht ziehen, dass die Mädchen illegal hierhergebracht und dann gezwungen werden, im Sexgewerbe zu arbeiten.«
»Und dass Rockett der Täter ist.«
»Eine ganze Reihe von Fakten deuten auf ihn.«
»Tote Hunde schmuggeln ist eine Sache. Mädchenhandel ist eine ganz andere Kategorie.«
»Das ist mir bewusst.«
Slidell sah auf die Akte in seiner Hand. Trat von einem Fuß auf den anderen.
»Majerick kann ich mir ja vorstellen, aber eine Operation dieser Art geht über seine Fachkompetenzen. Rockett, mh?« Er verzog das Gesicht und schüttelte den Kopf.
Ich musste ihm zustimmen. Mein Eindruck von Dom Rockett war widersprüchlich. Ein verunstalteter Kriegsheld. Ein Mann, der kein Interesse hatte, bei der Identifizierung eines Fahrerfluchtopfers zu helfen. Ich hatte Mitleid. Und war angewidert.
»Rockett hat die Fachkompetenzen, wie Sie es nennen. Und die Infrastruktur. Die Lastwagen, die Nachschubrouten«, sagte ich. »Besitzt er die kaltherzige Skrupellosigkeit, mit hilflosen Kindern zu handeln? Ich weiß es nicht.«
Und darüber hinaus die Kaltschnäuzigkeit, sie zu töten, falls sie sich wehrten? Dieser Gedanke war zu schrecklich, um ihn auszusprechen.
Zwei weitere Neuronen meldeten sich.
Ein Plastikröhrchen. Ein antiker Stoßzahn.
»O Mann, Slidell. Mir ist eben noch was anderes eingefallen. Larabee hat in Candys Schädelschwarte einen Elfenbeinsplitter gefunden.«
»Was tut Elfenbein in den Haaren einer Nutte?«
»Lassen Sie mich ausreden.«
Slidell schaute auf seine Uhr.
»Als wir in Rocketts Haus waren, habe ich in seinem Wohnzimmer einen geschnitzten Stoßzahn gesehen. Das Ding sah alt aus.«
»Und?«
»Was soll das heißen, und?« Scharf. »Das weltweite Verbot des Handels mit Elfenbein besteht seit über zwanzig Jahren. Wer hat das Zeug einfach so herumliegen?«
»Ich habe eine Elfenbeinkugel, die mein Großvater mir geschenkt hat.«
»Hören Sie mir überhaupt zu?«
»Beruhigen Sie sich, Doc.«
»Ich bin ruhig. Wussten Sie, dass, neben Drogen und Waffen, Menschen die häufigste Schmuggelware auf der ganzen Welt sind?«
Slidell rieb sich das Kinn.
Im Bereitschaftssaal hinter uns klingelte ein Telefon.
»Ich beantrage einen Durchsuchungsbeschluss. Das heißt nicht, dass ich einen kriege, aber wir haben Creachs Geständnis, dass das Passion Fruit kein medizinischer Massagesalon ist. Das werde ich vorbringen. Wenn wir erst mal drin sind, werden wir sehen, was wir finden.«
Während Slidell versuchte, einen Richter zu einem Durchsuchungsbeschluss zu überreden, fuhr ich zurück ins MCME, um ein wenig zu recherchieren. Ich erfuhr Folgendes.
Eine Studie der Vereinten Nationen schätzte den jährlichen Profit aus dem Menschenhandel auf 31,6 Milliarden Dollar. Und diese Zahl war bereits einige Jahre alt. Bei der steilen Wachstumskurve der Industrie rückten manche die wahrscheinliche Gesamtsumme näher an die 40 Milliarden.
Als Folge des Menschenhandels befinden sich weltweit 2,5 Millionen Menschen in Zwangsarbeit, und das dauernd. 161 Länder sind betroffen, 127 als Exporteure, 137 als Importeure. Asiatische und pazifische Länder sind die häufigsten Quellen, gefolgt von Ländern in Afrika, dem Mittleren Osten und dem ehemaligen Ostblock.
Die Mehrheit der Opfer ist zwischen achtzehn und vierundzwanzig Jahre alt, aber jährlich sind auch etwa 1,2 Millionen Kinder betroffen.
Geschmuggelte Personen landen in abhängiger oder Zwangsarbeit oder in sexueller Knechtschaft. Abhängige Arbeiter arbeiten, um einen Kredit oder eine Dienstleistung abzubezahlen, oft jahrelang. Zwangsarbeiter schuften gegen ihren Willen, normalerweise im Haushalt, in der Landwirtschaft oder in illegalen Produktionsbetrieben.
Dreiundvierzig Prozent der Menschenhandelsopfer landen gegen ihren Willen in kommerzieller sexueller Ausbeutung. Achtundneunzig Prozent davon sind Frauen und Mädchen.
Als ich mich nach einer Stunde zurücklehnte, war mir schlecht.
Ausreißer, die auf ein besseres Leben als Kindermädchen oder Model hoffen. Teenager, die eine aufregende Bekanntschaft machen, einen exotischen Fremden, einen älteren Mann kennenlernen. Kinder, die spielen oder in die Schule gehen, werden gepackt und in einen Transporter geworfen. Mädchen mit gefesselten Händen, die Gesichter ohne jede Hoffnung. Knaben auf Matratzen in dreckigen Kellern.
Ich taumelte am Rand eines tiefen Grabens hilfloser Wut.
Eine E-Mail holte mich zurück.
Ich sah den Absender. Las die Betreffzeile.
Spürte eisige Nadeln auf meiner Haut.
Du bist die Nächste, Schlampe.
Dann versuch’s doch, du Scheißkerl.
Ich öffnete das üble Ding.
Ein einziges Bild füllte den Monitor, eine als Anhang übermittelte .jpg-Datei.
Das Foto zeigte eine auf dem Rücken liegende junge Frau, auf dem Asphalt unter ihrem Kopf eine dunkle Pfütze. Die Augen der Frau waren offen und starrten ins Nichts. Das Gesicht war geschwollen, verfärbt und blutverschmiert.
Mir blieb die Luft weg.
Der Mund der Frau stand weit offen. Zu weit.
»O Gott. O nein.«
Trotz des Bluts konnte ich sehen, das der Mund der Frau leer war.
Schockiert und angewidert starrte ich hin. Und wusste Bescheid. Die Zunge der Frau war herausgeschnitten, verpackt und mir auf die Schwelle gelegt worden. Kannte ich sie?
Das Gesicht der Frau war zu entstellt, um ein Wiedererkennen zu ermöglichen. Auch wenn ich sie kennen würde.
Ich ließ den Blick über den liegenden Körper wandern. Die Kleidung war unauffällig, eine Jacke, dunkle Hose, praktische Schuhe.
Mein Blick arbeitete sich wieder hoch.
Die Jacke war fleckig, von Blut, wie ich annahm.
Mein Blick fiel auf den Hals der Frau.
Ein Herzschlag. Zwei. Ein Dutzend.
Die eisigen Nadeln wurden glühend heiß.
Ich griff zu meiner Lupe. Bewegte sie auf und ab, bis das Bild scharf wurde.
Sah das herzförmige Mal in der Kuhle am Hals der Frau.
Meine Faust knallte auf den Schreibtisch.
Verdammt! Verdammt! Verdammt!
Tränen brannten mir unter den Lidern.
Ich stand auf. Ging auf und ab. Wütend. Trübselig.
Schuldig?
Als das Telefon klingelte, hätte ich es beinahe ignoriert.
»Was?« Eher ein Aufschrei als eine Frage.
»Alles okay, Doc?« Slidell.
»Ich … sind Sie in der Nähe eines Computers?«
»Kann ich sein.«
»Ich schicke Ihnen ein Foto an Ihr E-Mail-Konto.«
»Könnte eine Minute dauern.«
»Rufen Sie mich an, sobald Sie es haben.« Ich hoffte, meine Stimme verriet nicht, wie fertig ich war.
»Ich dachte, Sie wollen –«
»Tun Sie es einfach.«
Und wieder marschierte ich auf und ab.
Zwölf Minuten später klingelte das Telefon.
»Citizenjustice. Wer ist dieser Wichser?«
Ich hörte Slidells Atem, wusste, dass er das Foto anstarrte.
»Die Tote ist D’Ostillo«, sagte ich.
»Die Kellnerin aus dem Mixcoatl.«
»Ja.«
»Sind Sie sicher?«
»Sehen Sie das Muttermal an ihrer Kehle?«
Slidell knurrte.
»Es ist D’Ostillo. Sie hat mit uns geredet, und dann wurde sie umgebracht.«
»Denken Sie jetzt nur nicht, das wär Ihre Schuld.«
»Ach wirklich? Wessen dann? Wessen Schuld ist es dann? Wer hatte die Idee, in dieses Restaurant zu gehen?«
»Sie hatte doch Sie angerufen.«
»Und weil sie eine gute Samariterin war, schneidet man ihr die Zunge raus!«
Ich war den Tränen nahe. Und hasste es. Vor allem wenn ich mit Slidell redete.
Slidell schwieg so lange, dass ich schon dachte, er hätte aufgelegt. Bei meiner Unhöflichkeit hätte ich es ihm nicht verdenken können.
»Die Sache wird immer übler«, sagte er schließlich.
»Wer das getan hat, spielt um größere Einsätze als nur eine Teenagernutte.«
»Sie glauben, es gibt eine Verbindung zwischen Candy und D’Ostillo?«
»Sie nicht? Candy wurde in der Nähe der Taquería getötet. D’Ostillo hat uns gesagt, sie hätte Candy da drinnen gesehen, und gemeint, sie würde im Passion Fruit arbeiten. D’Ostillo ist tot, Candy ist tot.«
»Ist Rockett immer noch Ihr Favorit?«
»Ganz oben auf meiner Liste.«
»Ich schicke die E-Mail an unsere Computerabteilung, mal sehen, ob sie eine ISP finden. Techniker können das Bild analysieren. Es filtern oder vergrößern oder was sie eben tun. Vielleicht finden wir ja so den Tatort heraus.«
»Wie hoch ist die Chance, dass die Leiche noch dort ist?«
Slidell machte eins seiner Slidell-Geräusche. Dann sagte er: »Der Passion Fruit Club gehört einer Personengesellschaft namens SayDo LLP.«
»Was?«
Er fing an, den Namen zu wiederholen. Ich fiel ihm ins Wort.
»Wer sind die Besitzer?«
»Die sind nicht gerade gesprächig.«
»Ist da jemand dran?«
»In diesem Augenblick. Übrigens, ich habe den Durchsuchungsbeschluss.«
»Wann schlagen Sie zu?«
»Heute Nacht. Stelle gerade ein Team zusammen.«
»Ich will dabei sein.«
»Hab ich mir gedacht.«