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Das einzige Fahrzeug auf dem Parkplatz des Yum-Tum war der klapprige Ford Escort vom Abend zuvor. Wahrscheinlich gehörte er Shannon King.

Ich schnappte mir eine Handvoll Flugblätter vom Beifahrersitz, stieg aus und ging zur Tür. Hinter mir ratterte ein Auto. Unter meinen Sohlen knirschte Kies.

Im Tageslicht konnte ich einige der Geschäfte in der Nachbarschaft identifizieren. Einen Werkzeugmacher, einen Laden, dessen Rasen voller Gussbeton stand, einen Siebdrucker, einen bröckelnden Gebäudekomplex, der aussah wie ein altes Motel 6, das man zu Apartments umgebaut hatte.

Kein Telefon, kein Pool, keine Haustiere …

Danke, Mr. Miller.

Das vordere Fenster des Yum-Tum war mit Zetteln vollgepflastert, einige neu, die meisten vergilbt und mit abstehenden Ecken. Ich blieb stehen, um ein paar durch das schmuddelige Glas zu lesen.

Verschwundene Katzen und Hunde, ein Papagei. Viel Glück damit. Eine Werbung für einen Wet-T-Shirt-Wettbewerb in einer Bar, die es vermutlich längst nicht mehr gab. Eine Schriftstellerin, die ihr selbst publiziertes Buch verkaufen wollte, Gewicht und Wille. Im Ernst? In dieser Fettzellenzentrale?

King stand hinter der Theke und blätterte in einer Ausgabe von OK!. Die verklebten Wimpern hoben sich, als ich in den Laden klimperte.

»Hi, Shannon.«

»Hey.« Unverbindlich.

»Ob ich vielleicht ein paar von denen da aufhängen kann?« Ich gab ihr ein Flugblatt.

Sie betrachtete das Foto und las das wenige, was ich dazugeschrieben hatte, Details über den Unfall und das Opfer, meine und Slidells Kontaktdaten.

»Okay.« Sie deutete mit dem Daumen auf das Motel 6. »Vielleicht haben ja die Mutanten aus den Apartments was gesehen.«

Sie griff unter die Theke und holte eine mit Haaren verklebte Tesa-Rolle hervor.

»Hängen Sie’s ins Fenster.«

»Darf ich auch eins in die Tür kleben?«

Die dunklen Brauen zogen sich zusammen.

»Sie haben meine Karte. Wenn der Besitzer was dagegen hat, soll er mich anrufen«, sagte ich.

»Was soll’s. Ich sag ihm, der Coroner hat drauf bestanden.« Sie legte ein Exemplar seitlich auf die Theke, sodass es von der Kundenseite aus zu sehen war. »Ich behalte eins hier, Sie wissen schon, um zu sehen, wie die Leute reagieren. Falls sie, also irgendwie schuldbewusst aussehen oder so.«

Klasse. Ich hatte ein Mädchen im Kühlraum und meine Tochter im Kriegsgebiet. Ich brauchte keine Amateur-Ermittlerin.

»Das ist okay, Shannon. Aber bitte nur beobachten. Verwickeln Sie niemanden in ein Gespräch.«

»Halten Sie mich für eine Idiotin?«

»Natürlich nicht.«

Ich spürte die Gothic-Augen im Rücken, als ich die Flugzettel anklebte und den Laden verließ.

Der Tag wurde wärmer, die Wolkendecke löste sich auf.

Nachdem ich meine Jacke ausgezogen hatte, fuhr ich zum Motel 6.

Der Komplex, The Pines genannt, war eine lange, rechteckige Schachtel, die wenig Motivation zum Aufrechtstehen zu haben schien. Ein Anstrich, der früher einmal die Waschbetonwände bedeckt hatte, wirkte jetzt wie unregelmäßiger, blutroter Ausschlag. Jedes der zehn Apartments hatte ein einzelnes Fenster mit Vorhang und eine verwitterte, blaue Tür.

Zimmer für fünfzig Cents…

Ich nahm an, dass die Mieter in The Pines eher kurzfristig hier wohnten, entweder auf dem Weg nach oben oder nach unten im Sozialgefüge.

Ein paar klapperige Autos standen auf dem betonierten Streifen vor dem Rechteck, wie alte Schindmähren, die vor einem Saloon angebunden waren. Ich stellte meins dazu und stieg aus.

Bei den ersten sechs Türen antwortete niemand. Ich schob allen einen Flyer unter der Tür durch und ging weiter.

Nummer sieben und acht wurden von dunkelhäutigen Frauen geöffnet, beide behaupteten: No comprendo. Dasselbe, als ich meine Fragen auf Spanisch stellte. Mit Furcht in den Augen nahmen sie die Handzettel entgegen und zogen sich schnell zurück.

Bei Apartment neun öffnete ein Mann mit nacktem Oberkörper die Tür einen Spalt und schlug sie wieder zu, bevor ich etwas sagen konnte. Aus zehn bellte eine Stimme: »Verschwinde!«

Ich tat es.

Ich fuhr die Old Pineville und das kleine Netz der Straßen um die Rountree herum ab und tackerte das Foto des Mädchens an Bäume, Zäune, Strommasten und an eine Schranke am Asphaltende der Rountree, die den Zugang zu einem Waldstück versperrte. Ich hinterließ ihr Bild in jedem Laden, den Slidell besucht hatte. Die meisten akzeptierten meine Handarbeit mit skeptischem Blick. Ein paar stellten Fragen. Die meisten nicht.

Entmutigt arbeitete ich mich den South Boulevard entlang und fuhr dann noch zu den drei Stadtbahnstationen, die dem Fundort des Mädchens am nächsten lagen.

Ich sperrte eben meinen Mazda mit der Fernbedienung auf, als mein iPhone einen Anruf meldete.

»Temperance Brennan.« Ich setzte mich hinters Steuer und schnallte mich mit der freien Hand an.

»Luther Dew.«

»Wie kann ich Ihnen helfen, Agent Dew?«

»Ich hatte gehofft, Sie wären in Ihrem Büro.« Vorwurfsvoll?

»Ich bin gerade dorthin unterwegs.«

»Ich frage mich, ob ich vorbeikommen könnte, in einer halben Stunde vielleicht?«

»Ich habe meine Untersuchung der Mumienbündel noch nicht abgeschlossen.«

Eigentlich hatte ich noch gar nicht angefangen.

»Haben Sie die Radiografie schon gemacht?«

»Ja.« Ich hatte Joe Hawkins gebeten, die Dinger in jeder möglichen Stellung unters Röntgengerät zu legen.

»Ich frage mich, ob ich vielleicht die Filme haben könnte, sie würden mir bei der Zusammenstellung meines Berichts helfen.«

»Fotos können Sie sehr gerne haben, aber unser Institut muss die Originale behalten.«

»Das würde völlig ausreichen.«

»Sie wissen, wo das MCME-Institut ist?«

»Ja. Dann bis in einer halben Stunde.«

Leitung tot.

Und auch Ihnen einen schönen Tag, Agent Dew.

Als ich die Hand auf den Schalthebel legte, knurrte warnend mein Magen.

Ich schaute auf die Uhr. Fast zwei. Ich würde mir einen Bissen holen, wenn Dew wieder gegangen war. Vielleicht kurz raus für Burger und Fritten.

Wem machte ich da was vor? Die Chance auf ein Mittagessen war kleiner als die, Birdie heute Abend in einer Schürze am Herd anzutreffen.

Im Yum-Tum schnell was mitnehmen? So hungrig war ich auch wieder nicht. Würde ich niemals sein.

Ich legte eine CD von Scott Joplin ein, drehte die Lautstärke hoch und trommelte im Rhythmus von Maple Leaf Rag aufs Lenkrad.

Zwanzig Minuten und einen kurzen Abstecher in einen Circle-K-Lebensmittelladen später fuhr ich auf den Parkplatz des MCME. Mrs. Flowers ließ mich, lächelnd wie immer, durch die Sperre.

Ich wartete auf ihre gewohnten höflichen Kurzinformationen.

»Sie haben keine neuen Telefonnachrichten. Dr. Larabee ist nicht da. Ansonsten hat niemand nach Ihnen verlangt.« Alles in ihrem vertrauten Südstaaten-Singsang.

»Vielen Dank. In Kürze wird jemand vom Immigration and Customs Enforcement hier eintreffen. Special Agent Luther Dew.«

»Die mumifizierten Hunde?« Die nachgezogenen Brauen hoben sich einen Millimeter auf der bepuderten Stirn.

»Ist Joe mit den Röntgenaufnahmen fertig?«

»Er hat sie in den kleinen Autopsieraum gebracht.«

»Danke. Bitte sagen Sie mir Bescheid, bevor Sie Dew hochschicken.«

»Natürlich.«

Auf dem Weg zu meinem Büro ließ ich meinen Blick kurz über die Anschlagtafel wandern. Nichts Neues für mich.

Ich schaute eben meinen Eingangskorb durch, als das Telefon klingelte.

Na toll.

»Ihr Special Agent ist hier.« Kein Zittern in der Stimme, kein bebendes Atmen.

Ein wichtiger Hinweis. Obwohl Mrs. Flowers so kultiviert ist, wie eine Tochter der Südstaaten es nur sein kann, wird sie in Gegenwart großer, dunkler, attraktiver Männer nicht nur rot, sondern auch so atemlos wie Marilyn.

Dew war also kein berauschender Anblick.

»Können Sie ihn zehn Minuten hinhalten, bevor Sie ihn zu mir schicken?«

»Natürlich.«

Im kleinen Autopsieraum klemmte auf jedem Lichtkasten eine Folie, und große, braune Umschläge lagen neben drei der vier Plastikwannen.

Ich ging von Kasten zu Kasten, schaltete sie ein und betrachtete Röntgenaufnahmen des ersten Bündels.

Gut.

Ich nahm diese Bilder ab und ging die anderen drei Serien durch. Als ich gerade die letzte Aufnahme studierte, hörte ich Schritte auf dem Gang.

Ich drehte mich um.

Ein rosafarbener Beluga füllte die offene Tür aus. Weder Fedora noch Fliege, auch keine Hosenträger.

Dew trug ein weißes Hemd, eine blaue Krawatte und einen marineblauen Nadelstreifenanzug. Einen sehr großen. Ich schätzte ihn auf eins neunzig und mindestens hundertfünfunddreißig Kilo.

Ich machte einen Schritt auf ihn zu und streckte die Hand aus. »Tempe Brennan.«

»Luther Dew.« Fester Händedruck, aber kein Schraubstock.

Dews Blick schnellte an mir vorbei, kam dann wieder zurück.

»Vielen Dank, dass Sie Zeit für mich haben.« Die hohe Stimme, die aus diesem überdimensionierten Körper drang, klang irgendwie falsch.

»Selbstverständlich.«

Wieder wanderte Dews Blick zu den Röntgenaufnahmen. Mir fiel auf, dass seine Augen eine merkwürdig violette Lederhaut hatten.

»Bitte.« Ich deutete zum ersten Lichtkasten. »Treten Sie näher.«

Dews fleischiger Nacken legte sich in Falten, als er den Kopf nach links und rechts neigte, um sich ein Bild von den übereinanderliegenden Röhrenknochen, Rippen und den anderen anatomischen Teilen zu machen.

»Sieht nicht menschlich aus«, sagte er schließlich.

»Durch und durch Hund. Beachten Sie die Schnauze, die Zähne, die Schwanzwirbel.« Ich deutete auf die einzelnen Elemente.

»Die anderen sind ähnlich?«

Ich nickte. »Auch wenn ich sie erst oberflächlich untersucht habe.« Wenn das keine Untertreibung war. »Eins scheint ein Welpe zu sein.«

Dew betrachtete noch einen Augenblick das zusammengedrückte Skelett, das auf dem Film weiß leuchtete.

»Ich weiß es sehr zu schätzen, dass Sie Ihre Untersuchungen auf nicht invasive Methoden beschränken.«

»Wenn ich nichts Verdächtiges entdecke, dürfte eine Öffnung der Umhüllungen unnötig sein.«

»Die peruanischen Archäologen werden das sehr begrüßen.« Dew zog eine kleine Autofokus-Nikon aus der Tasche. »Darf ich?«

Ich wechselte die Aufnahmen, bis er alle vier Serien abfotografiert hatte. Dann fotografierte er noch die ungeöffneten Bündel.

Als er damit fertig war, standen wir beide einen Augenblick da und betrachteten die Hunde.

Mir kam ein Gedanke. Warum nicht?

»Das Fahrerfluchtopfer, über das wir gesprochen haben, ist immer noch nicht identifiziert.«

Dew schaute mich verständnislos an.

»Das Mädchen, von dem Slidell vermutet, dass es illegal hier ist. Möchten Sie die Leiche sehen?«

»Ich weiß wirklich nicht, was das bringen sollte.«

»Wir sind hier. Sie ist hier. Es kann doch nicht schaden.«

Bevor Dew etwas einwenden konnte, führte ich ihn in den Kühlraum, schob die entsprechende Rollbahre in die Mitte und zog den Reißverschluss auf.

Man musste Dew zugutehalten, dass er nicht davonlief. Er zeigte auch keinerlei Emotion.

Ein Augenblick verging. Dann sagte er: »Das ist sehr traurig, aber ich kann Ihnen wirklich nicht weiterhelfen. Können wir uns irgendwo unterhalten?«

Ich zog den Reißverschluss wieder zu, und wir gingen in mein Büro. Dew füllte es ziemlich aus. Ich wartete, dass er mir sagte, was ihm durch den Kopf ging.

»Als Teil der Ermittlungen hat das ICE angefangen, Dominick Rocketts Finanzen zu durchleuchten.«

Dew verstand meinen Mangel an Reaktion als Unverständnis.

»Wir schauen uns zum Beispiel Mr. Rocketts Bankunterlagen, Erwerbsdokumente und Steuererklärungen an. Unter anderem.«

Der Kerl redete, als würde er aus einem Handbuch vorlesen.

»Der Herr hat Vermögenswerte, die durch die Gesamtheit seiner Pension und der Behindertenrente plus seiner Einkünfte aus dem Importgeschäft nur schwer zu erklären sind.«

»Und das bedeutet?« Ich wusste, was es zu bedeuten hatte.

»Dass Dominick Rockett womöglich eine größere Nummer ist, als wir vermutet haben.«

»Sie halten ihn für einen Schmuggler?«

Dew bewegte jede Menge Pfunde auf erstaunlich elegante Art. »Diese Hunde sind vielleicht nur die Spitze eines sehr lukrativen und beunruhigenden Eisbergs.«

In diesem Augenblick tat mein Magen mal wieder seinen Bedarf kund.

Ich wurde rot. Dew vielleicht auch. Ich konnte es nicht sagen, weil sein Gesicht ohnehin so gerötet war.

»Aber ich habe Sie jetzt schon zu lange aufgehalten.« Dew erhob sich.

»Sie halten mich auf dem Laufenden?«, fragte ich.

»Natürlich. Sie waren sehr kooperativ.«

Kooperativ? Was war ich, eine Verdächtige?

»Vielen Dank.« Ich zog ein Flugblatt aus meiner Handtasche. »Wenn Sie sich vielleicht in Bezug auf meine Unbekannte ein wenig umhören könnten?«

Dew betrachtete eben das Foto, als mein Festnetzanschluss klingelte.

»Entschuldigen Sie die Störung.« Mrs. Flowers klang angespannt. »Aber die Anruferin ist sehr beharrlich. Und klingt ziemlich aufgeregt.«

Sofort hatte ich Katy vor Augen.

»Ich übernehme.« Mit trockenem Mund.

Während ich Dew ein »’tschuldigung« zuhauchte, veränderten sich die Hintergrundgeräusche in der Leitung.

»– Bild auf dem Flugblatt?« Die Stimme war leise, die Verbindung grässlich.

»Meinen Sie das Fahrerfluchtopfer?«

»– Mädchen tot?« Die Stimme klang weiblich.

»Ja. Sie ist tot.«

»– wehgetan – Angst –«

»Angst vor was?«

Unverständliches Rauschen.

»– waren alle –«

»Ma’am. Können Sie auflegen und mich noch einmal anrufen?«

»– falsch – musste es jemandem sagen.«

»Wissen Sie, wer das Mädchen ist?«

Klick.

Leitung tot.