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Als ich anfing, für das MCME zu arbeiten, war das Charlotte Police Department noch nicht mit seinem Pendant im Mecklenburg County zusammengelegt. Die CPD-Zentrale war ein unauffälliges, beiges Gebäude Ecke Fourth und McDowell.

Heute erinnert das CMPD-Mutterschiff an einen kleinen Universitätscampus. Zehn Minuten, nachdem wir mein Stadthaus verlassen hatten, gingen Slidell und ich durch die Eingangstür einer gigantischen Festung aus Glas und Stahl.

In den Gängen wimmelte es von Uniformierten, Zivilfahndern, Hilfspersonal, Anwälten und verwirrten, bekifften oder wütenden Bürgern. Slidell und ich zeigten die Ausweise und fuhren dann im Aufzug in den zweiten Stock. Er führte mich an einer Reihe Verhörzimmern vorbei zu einem mit der Aufschrift VZ4.

»Creach ist in der drei.« Er öffnete die Tür. »Sie sehen von hier aus zu.«

Der kleine Raum enthielt wie gewohnt Tisch und Stühle, eine Audio-Video-Ausrüstung und ein Wandtelefon. Während ich mich setzte, sprang der kleine Monitor an und zeigte ein grobkörniges Schwarz-Weiß-Bild. Metallische Geräusche knisterten aus dem Lautsprecher.

CC Creach saß auf einem Holzstuhl ähnlich dem, auf dem ich saß. Er hatte die Ellbogen auf den Tisch gestützt, das Kinn ruhte auf den Fäusten. Seine langen, dunklen Haare waren zu einem Zopf geflochten, der von alle paar Zentimeter angebrachten Gummibändern gehalten wurde.

Ich hörte eine Tür aufgehen. Creach riss den Kopf hoch und drehte ihn dem Geräusch zu.

Schritte, dann kam Slidell ins Sichtfeld. Creach verfolgte ihn mit seinem Blick, die Unterarme aufrecht wie lange, dünne Stangen, die Augen weit aufgerissen und ängstlich.

Slidell warf eine Akte auf den Tisch. Sie landete mit einem scharfen Knall.

Creach ließ die Hände sinken, sodass sein Gesicht besser zu sehen war. Das harte Neonlicht tauchte den hellen Fleck auf seiner Wange in ein fahles Blau.

»Hey, Mann.« Creach zeigte ein kurzes, nervöses Grinsen. »Was ist los?«

Still und unbewegt starrte Slidell auf sein Gegenüber herab.

»Schätze, ich habe ein bisschen über die Stränge geschlagen.« Creach machte ein komisches Kichergeräusch.

Slidell zog seinen Stuhl heraus.

»Der Kerl hat keinen Humor. Ich entschuldige mich. Ist ja nichts passiert, oder?«

Slidell setzte sich. Schlug die Akte auf. Sortierte und organisierte gemächlich den Inhalt.

Creach lehnte sich zurück. Beugte sich wieder vor.

Slidell kontrollierte, ob das Audio-Video-System eingeschaltet war und funktionierte.

»Diese Befragung wird aufgenommen. Zu Ihrem Schutz und zu meinem. Haben Sie etwas dagegen?«

Creach schüttelte den Kopf.

Slidell drückte auf einen Knopf. »Bei dieser Befragung anwesend sind Detective Erskine Slidell, Charlotte Mecklenburg Police Department, Abteilung Schwerverbrechen und Morde, und Cecil Converse Creach.« Slidell nannte noch Datum und Uhrzeit.

Nervös sah Creach zu, wie Slidell ein Blatt Papier aus seinem Stapel zog und so tat, als würde er es lesen. Ich wusste, was er tat. Und warum er Creach so lange hatte warten lassen. Er wollte Creach ängstlich und verletzlich. Weil er so eher Fehler machte.

Slidell legte das Papier weg. »Die Unterrichtsstunde hat begonnen.«

»Was soll das heißen?«

»Warst wohl nie in der Schule, was, CC? Vielleicht auf ’ner Sonderschule?«

»Schule der harten Schläge.« Creach kicherte auf eine Art, die mich an Jack Nicholson in Easy Rider denken ließ.

»Finden Sie das lustig?«

»Ich dachte, Sie machen einen Witz. Sie wissen schon, diesen Blödsinn mit der Schule.«

Slidell starrte ihn einfach nur an.

Creachs rechter Fuß fing an zu wippen, sodass sein knochiges Knie auf und ab schnellte wie ein Kolben.

»Ich habe nie nichts getan.«

»Das nennen wir eine doppelte Verneinung, CC. Wenn du nie nichts getan hast, dann hast du was getan. Darum sitzt du hier und verpestest die Luft in meinem Verhörzimmer.«

Einige Befrager wiegen ihre Verdächtigen gern in Sicherheit, gewinnen ihr Vertrauen und schlagen dann zu. Nicht Slidell. Er holte lieber gleich zum entscheidenden Schlag aus.

»Du bist auf Bewährung draußen, hab ich recht?«

Creach nickte.

»Festnahme wegen ungebührlichen Verhaltens unter Alkoholeinfluss. Habe ich noch einmal recht?«

Creach sagte nichts.

»Wenn du nicht kooperierst, CC, ist dein dürrer, schwarzer Arsch gleich wieder im Loch. Ich hab gehört, du bist drinnen ziemlich beliebt.«

Creach blickte unruhig im Raum umher.

»Sieh mich an, Wichser. Wenn du dich nicht konzentrierst, verliere ich die Geduld. Und das willst du nicht.«

»Da haben Sie was falsch verstanden, Mann.«

»Habe ich das? Versuchen wir’s damit. Passion Fruit Club.«

Creach blickte jetzt ernsthaft verwirrt drein.

»Hast du dir im Passion Fruit je das Rohr durchblasen lassen?«

»Was?«

»Soll ich es dir buchstabieren?«

Creach öffnete die Lippen, sagte aber nichts.

»Ich habe eine Frage gestellt, Arschloch. Schon mal den Joystick aufmöbeln lassen in diesem« – Slidell malte Anführungszeichen in die Luft – »Massagesalon?«

Creach konnte nicht mehr still sitzen. Seine Finger zupften an der Tischkannte. Sein Turnschuh machte auf den Fliesen rat-tat-tat.

Slidell seufzte und fing an, seine Papiere zusammenzusammeln.

Creach warf die Hände in die Höhe. »Also gut. Ja. Ich war dort.«

»Wann?«

»Paarmal. Dreimal vielleicht.«

»Wann?«

»Wie, was für ein Datum?«

»Ja, Trottel. Was für ein Datum.«

»Mit Daten hab ich’s nicht so.«

»Denk lieber sehr genau nach, CC

Creachs Blick wurde ruhiger, als er über den Ablauf seiner jüngeren Vergangenheit nachdachte.

»Vor ein paar Wochen vielleicht.«

Slidell legte den Kopf schief.

»Ein Montag? Ja. Jetzt fällt es mir wieder ein. Montag vor zwei Wochen. Ich war mit diesem Kerl Zeno zusammen. Zeno hat gesagt, er hätte frisches Material, das im Bronco Club tanzt.«

Ich griff zu meinem iPhone und öffnete den Kalender. Montag vor zwei Wochen. Der Tag, an dem unsere Unbekannte starb.

»Was soll das heißen, frisches Material?«

»Der Besitzer bringt jeden ersten Montag im Monat neue Tänzerinnen. Wenn wir Kohle haben, gehen Zeno und ich dahin, um Titten zu glotzen.«

»Wie alt sind diese Titten?«

»Das weiß ich nicht.«

Slidell durchbohrte Creach mit einem Blick.

»Die an diesen speziellen Montagen kommen, die sind jung.«

»Kinder?«

»Hören Sie, Mann. Ich frag die nicht nach ihren Ausweisen.«

»Und manchmal versüßt dir eine dieser jungen Damen den Abend.«

»Nie und nimmer.« Creach schüttelte zu oft und zu schnell den Kopf. »Falls sich eine von denen beschwert hat, ich war das nicht. Oder wenn sie minderjährig sind oder sonst was.«

»Soso. Lass mich raten. Die Mösen im Bronco kannst du dir nicht leisten, also lässt du’s dir ein bisschen billiger im Passion Fruit besorgen. Was, sind die Mädchen da vielleicht schon ein bisschen älter, haben vielleicht schon alle ihre Backenzähne?«

»Nein, die sind auch jung.« Creach war zu dumm, um Slidells Sarkasmus zu verstehen. »Ich mag keine alten Mösen.«

»Da hast du ja wirklich einen exzellenten Geschmack, CC

Slidell klang so angewidert, wie ich mich fühlte. Nach einem Augenblick des Schweigens zog er ein Foto unserer Unbekannten aus seiner Sammlung und warf es über den Tisch.

»Kennst du die?«

Creach kratzte sich am Ohr, während er das Foto betrachtete. »Ja.«

Slidell schaute kurz zu der Kamera hoch.

Ich hielt den Atem an.

»Wie heißt sie?«

»Candy.«

»Erzähl mir von ihr.«

»Soll das ein Witz sein?«

»Ich meine es todernst.«

»Im Passion Fruit wird nicht lange gequatscht.«

Slidell verschränkte die Arme.

Creach zuckte die Achseln. »Die konnte kein Englisch, Mann. Keine von denen konnte es. Die haben Spanisch oder sonst was geredet.«

Slidell schob Ray Majericks Verbrecherfoto über den Tisch.

Creach betrachtete das Gesicht, sagte aber nichts.

»Ich sage jetzt etwas, das ich vielleicht nicht sagen sollte.« Slidell atmete tief ein und durch die Nase wieder aus. »Ich glaube ja, dass du dir Mühe gibst, CC. Aber bis jetzt reicht das noch nicht. Wenn du mir was gibst, womit ich weiterarbeiten kann, dann tue ich, was ich kann, um diese Sache mit dem ungebührlichen Verhalten unter Alkoholeinfluss aus der Welt zu schaffen.«

»Ja?«

»Ja.«

Creach tippte auf das Foto, »Dieser Kerl ist immer dort.«

»Im Passion Fruit.«

»Ja.«

»Arbeitet er dort?«

»Das weiß ich nicht. Ehrlich, ich weiß es nicht. Die Mädchen haben Magic zu ihm gesagt. Und sich benommen, als hätten sie Angst vor dem Kerl.«

»Warum?«

»Keine Ahnung.«

Mir war gar nicht aufgefallen, dass der wippende Fuß sich beruhigt hatte. Bis er wieder damit anfing.

»Diese ganze Scheiße ist vertraulich, okay. Wenn rauskommt, dass ich mit Ihnen geredet habe, nageln die mir die Eier an die Wand.«

Slidell schob Stift und Block über den Tisch. »Schreib’s auf.«

»Ich hab doch schon alles gesagt. Kommen Sie. Es geht um meinen Arsch!«

Slidell ging bereits zur Tür. Er drehte sich noch einmal um.

»Tu dir selber einen Gefallen. Krieg dich verdammt noch mal wieder ein.«

»Hey! Warten Sie! Was passiert mit mir?«

Ich traf Slidell im Gang.

»Was denken Sie, Doc?«

»Seine Geschichte scheint zu stimmen.«

»Dann haben wir also Candy als Straßennamen für unsere Unbekannte. Vielleicht Majerick als ihren Zuhälter.«

»Denken Sie, dass Majerick alleine arbeitet oder nur als Handlanger für einen anderen?«

»Magic ist zu fies und zu verrückt, um eine Organisation zu führen. Falls es um so was geht.«

Ich dachte darüber nach, was Creach gesagt hatte. Dass jeden Montag neue junge Mädchen eintrafen.

Von woher? Aus Kleinstädten? Mittelklassevorstädten? Großstadtgettos? Mit Bussen? Zügen? Autos, von denen sie sich hatten mitnehmen lassen?

Ein widerliches Karussell von Frauen, die jung und naiv ankamen und dann immer weiter abrutschten, bis sie in Läden wie dem Passion Fruit landeten, süchtig, gebrochen, der jugendliche Optimismus für immer verschwunden. Eine entmutigende Vorstellung.

Plötzlich fiel mir bei der Erinnerung an eine von Creachs Bemerkungen etwas ein, das D’Ostillo gesagt hatte.

»Zeigen Sie ihm Dom Rocketts Foto.«

»Warum?«

»Tun Sie es einfach.«

»Warum eigentlich nicht.«

Kurz darauf sah ich auf dem Monitor, wie Slidell das dritte Foto über den Tisch schob, und wusste dabei gar nicht genau, welche Reaktion ich mir erhoffte.

»Ja. Er war dort.«

»Im Passion Fruit Club?«

»Ja. Die Tussis drehten wegen ihm völlig durch.«

»Sie hatten Angst vor ihm?«

»Eine Heidenangst.«

»Wer ist er?«

»Woher soll ich das wissen?«

Slidell legte Rocketts Foto neben Majericks. »Kannten sich die beiden?«

»Dieselbe Antwort.«

Slidell schnippte ungeduldig mit den Fingern.

»Woher soll ich das wissen?«, wiederholte Creach.

»Hast du gesehen, dass sie miteinander gesprochen haben?«

Creach schüttelte den Kopf.

Der Bildschirm trat in den Hintergrund. Der Raum um mich herum. Jetzt fügten sich Fakten schnell zusammen.

Dominick Rockett besuchte oft den Passion Fruit Club. Unsere Unbekannte arbeitete unter dem Straßennamen Candy im Passion Fruit Club. Rosalie D’Ostillo hatte Candy und andere Mädchen in der Taquería Mixcoatl gesehen. Die Taquería lag in der Nähe der Kreuzung, an der Candy gestorben war. D’Ostillo und Creach dachten, Candy und die anderen Mädchen würden Spanisch sprechen. Dom Rockett war ein Importeur, wahrscheinlich ein Schmuggler, der häufig nach Südamerika reiste.

Ich hörte Slidells Schritte auf dem Fliesenboden in VZ3. Die Tür aufgehen und wieder zufallen.

Creach fing an zu jammern. Über seine Rechte. Seine Abmachung mit Slidell. Seine Sicherheit.

Bild und Ton wurden abgeschaltet.

Ich stand in der kleinen muffigen Kammer, und eine kalte Leere füllte meine Brust.

O Gott.

Konnte es so ein?