32

Wieder weckte mich Ma Belle. Ich schätze, ich war drauf und dran, eine Art Rekord aufzustellen.

»Wir haben Cecil Creach geschnappt.« Slidell klang beinahe fröhlich.

»Wo?«

»Im Moosehead am Montford Drive.«

Ich kannte den Laden und wusste, dass der Besitzer ein Freund der Null-Toleranz-Politik war.

»Creach hat dort aber nicht gedealt.«

»Der Trottel hat dort gesoffen und dumm dahergeredet. Mit sich selber. Hat die anderen Gäste wahnsinnig gemacht, deshalb hat der Türsteher ihn rausgeworfen. Creach hockte dann auf dem Parkplatz und jammerte über die Ungerechtigkeit der Welt. Also rief der Türsteher die Polizei. Creach hatte den Bauch voller Schnaps, aber keinen Stoff bei sich.«

»Wann war das?«

Ich hörte Papier rascheln.

»Kurz nach eins heute Nacht.«

Falls ich einen nächtlichen Besucher gehabt hatte, konnte es nicht Creach gewesen sein. Ich überlegte, ob ich Slidell von dem Vorfall letzte Nacht erzählen sollte. Aber was sollte ich ihm sagen? Dass ich von einem Computerwitzbold verarscht worden war?

»Hat Creach Widerstand geleistet?«

Slidell schnaubte nur.

»Was jetzt?«

»Ich lasse ihn eine Weile schmoren, dann nehme ich ihn mir vor.«

»Ich will dabei sein.«

»Die Show startet in einer Stunde.«

»Fangen Sie nicht ohne mich an.«

Slidell machte ein Geräusch, das man als Einverständnis deuten konnte.

Ich fütterte Birdie, duschte und zog mich an. Ein Kaffee und ein Häppchen kalte Lasagne, und ich war bereit. Trotz des unterbrochenen Schlafes war ich voll frischer Energie. Wir machten Fortschritte.

Ich stopfte die unberührten Akten in meine Laptoptasche, schnappte mir Handtasche und Schlüssel und öffnete die Hintertür.

Und erstarrte.

Auf der Fußmatte stand ein Karton, wie man ihn benutzt, wenn man einen Pullover oder ein Hemd verschenken will. Auf dem Deckel sah ich kein Etikett, keinen gedruckten oder handgeschriebenen Namen oder Absender.

Das Ding hatte nichts übermäßig Bedrohliches. Keine Drähte. Keine Geräusche aus dem Inneren. Trotzdem waren meine Instinkte im Alarmzustand.

Das Schattenspiel in der Nacht. Die Bewegung unter dem Baum.

Und noch etwas.

Eine rötlich braune Blüte hatte sich vom unteren Rand des Kartons über die linke Seite ausgebreitet.

Ich schaute mich um.

Mein Mazda stand da, wo ich ihn abgestellt hatte. Kein Auto stand am Bordstein oder fuhr die Einfahrt entlang. Das Gelände war leer. Die Myers Park Baptist Church auf der anderen Straßenseite war verlassen. Vor der Ampel an der Selwyn warteten ein paar Fahrzeuge.

Ich schaute wieder auf den Karton hinunter. Ich atmete einmal tief durch, stellte meine Laptoptasche ab und zog Gummihandschuhe aus einem Außenfach. Nachdem ich sie übergestreift hatte, öffnete ich behutsam den Deckel.

Der Karton enthielt nur einen Gegenstand. Graubraun und verschrumpelt, sah er aus wie ein Stück mumifiziertes Fleisch. Der Karton darunter war dunkel und glänzend.

Anfangs hatte ich keine Ahnung.

Ich drehte das Ding mit einer Fingerspitze um. Schaute es mir genauer an.

Und dann begriff ich.

Obwohl der Tag warm war, lief mir ein Schauer über den Rücken.

»Mein Gott …«

Ich schluckte. Schluckte noch einmal. Hob den Kopf und ließ mir die frische Morgenluft übers Gesicht streichen. Zwang mich, ruhig zu bleiben.

Wieder kontrollierte ich die Umgebung, dann drückte ich den Deckel wieder zu, trug den Karton in die Küche und schloss die Tür.

Mit zitternder Hand zog ich mein iPhone aus der Handtasche und drückte auf einen Kurzwahlknopf.

Slidell hob nach dem zweiten Läuten ab.

»Wo zum Teufel sind Sie?«

»Kommen Sie zu mir. Sofort.«

Slidell hörte die Dringlichkeit in meiner Stimme.

»Alles in Ordnung, Doc?«

»Ja. Nein. Kommen Sie einfach sofort her. Und vielleicht sollten Sie die Spurensicherung benachrichtigen.«

Dieses eine Mal stellte er keine Fragen.

Ich schloss Birdie im Schlafzimmer ein und kehrte in die Küche zurück. In weniger als zwanzig Minuten war Slidell an meiner Tür. Er wirkte nervös und besorgt.

Ich ließ ihn ein und zeigte ihm, was ich auf die Anrichte gestellt hatte.

»Das lag heute Morgen auf meiner Türschwelle.« Ich klang viel ruhiger, als ich mich fühlte. »Es kann sein, dass ich heute Nacht gegen halb drei einen Eindringling gesehen habe.«

»Haben Sie den Karton geöffnet?«

Ich nickte und hob die Latexhände.

»Was ist es?«

Ohne zu antworten, nahm ich den Deckel ab und trat beiseite.

Slidell schob seinen Bauch zur Anrichte und schaute in den Karton.

»Ach du Scheiße.«

Slidell schaute weg, dann gleich wieder hin. Nach ein paar Sekunden zog er die Brauen zusammen. »Ist es das, wofür ich es halte?«

»Eine Zunge.«

»Menschlich?« Sein Ton sagte mir, dass er die Antwort bereits kannte.

»Ja. Beachten Sie die Papillen.«

»Die kleinen Höcker, die aussehen wie Brustwarzen?«

»Ja.«

Slidell strich sich übers Kinn. »Der Schnitt sieht ziemlich sauber aus.«

»Ja. Obwohl es Abschürfungen und Risse gibt, die wahrscheinlich durch Reiben an den Zähnen verursacht wurden.«

»Sagen die Schnittspuren Ihnen irgendwas?«

»Ich sehe Krümmungen. Mehrere Bögen, das heißt mehrere Versuche, das Fleisch zu durchtrennen. Ich schätze, mit einer kleinen Astschere mit Wellenschliff.«

Slidell richtete sich auf und atmete tief durch.

»War das Opfer am Leben, als es passierte?«

»Die Verfärbung des Kartons deutet auf starke Blutung hin.«

Slidell hob die Augenbrauen.

»Sobald das Herz aufhört, Blut durch die Gefäße zu pumpen, stoppt die Blutung.« Sehr vereinfacht, aber ausreichend für Slidell.

»Haben Sie in letzter Zeit irgendjemand verärgert? Ich meine, mehr als gewöhnlich?« Slidell war schon wieder ganz der Alte.

Ich zuckte die Achseln. Wer weiß? »Halten Sie das für eine Drohung? Eine Warnung?«

Slidell zog sein Handy heraus und tippte Ziffern ein.

»Schafft die Spurensicherung her.« Er nannte meine Adresse und runzelte dann die Stirn über die Information, die er erhielt. »Dann eben so schnell wie’s geht.«

Er klemmte sich das Handy wieder an den Gürtel und schaute mich mürrisch an. »Wie kommen Sie drauf, dass das eine Drohung ist und keine Rache?«

»Kommen Sie mit ins Arbeitszimmer.«

Er tat es mit einem Kopfschütteln.

Ich fuhr meinen Laptop hoch und öffnete die E-Mail von citizenjustice@hotmail.com.

»Wann kam die an?«

»Vor ein paar Tagen.«

»Und Sie haben nichts gesagt, weil …?« Da war er. Dieser herablassende Unterton.

»Ich habe die Mail erst gestern gesehen.«

Ich erzählte ihm, was in den frühen Morgenstunden passiert war. Vielleicht passiert war.

»Es könnte auch nichts gewesen sein.«

»Oder es könnte das Arschloch gewesen sein, das Ihnen das Geschenk auf die Schwelle gelegt hat. Ab jetzt lasse ich Ihr Haus überwachen.«

»Ist das wirklich nötig?«

»Ja«, blaffte Slidell. »Es ist wirklich nötig. In der Zwischenzeit rühren Sie den Karton nicht an. Oder die Fußmatte. Oder die Schwelle.«

»Ich weiß, wie die Spurensicherung arbeitet.« Schnippisch. Aber Slidells Attitüde ging mir auf die Nerven.

»Wer das getan hat, war entweder stinksauer oder verrückt. Was ist Ihnen lieber, Doc?«

»Wie wär’s, wenn wir jetzt mit Creach reden?«

Skinny warf mir einen seiner Dirty-Harry-Blicke zu.

»Hören Sie, ich muss doch eine Aussage abgeben.« Ich deutete auf den Karton. »Das kann ich gut auch in der Zentrale machen.«

Slidell spitzte die Lippen und seufzte dann.

»Ich rede mit Creach.« Während er auf sein Handy einhackte. »Sie hören nur zu.«