22
Ich öffnete die Augen.
Dunkelheit.
Ich horchte.
Absolute Stille.
Instinktiv hatte ich mir die Hand vor den Mund gehalten, um eine Lufthöhle zu schaffen. Und mein Helm hatte auch geholfen. Aber die kleine Blase war nicht genug. Meine Brust war zusammengedrückt, die Lungenflügel so komprimiert, dass sie kaum funktionierten. Die schwere Panzerweste machte den Druck nur noch schlimmer.
Ich versuchte zu atmen. Konnte aber nicht.
Ich versuchte es noch einmal. Keine Luft.
Panik setzte ein.
Wie lange hielt ein Mensch es ohne Sauerstoff aus? Drei Minuten? Fünf?
Wir lange war ich schon gefangen?
Ich hatte keine Ahnung.
Wieder versuchte ich, Luft in die Lunge zu ziehen. Schaffte es wieder nicht.
Mein Herz hämmerte. Pumpte Blut, das schnell das wenige an Sauerstoff verlor, was es noch enthielt.
Ich versuchte, die Hand vom Mund wegzubewegen. Traf schon nach Millimetern auf Widerstand.
Mein anderer Arm war taub. Ich hatte kein Gefühl für seine Lage.
Schwindel überflutete mein Gehirn. Ich sah Bilder der Hochfläche. Der Löffelbiskuit-Felsen.
Gestein, das mich jetzt gefangen hielt wie ein Sarg.
Wie viele Meter tief? Wie viele Tonnen schwer?
Die Panik wurde größer. Adrenalin schoss durch meinen Körper.
Atme!
Ich spannte die Hals- und Schultermuskeln an. Drückte den Kopf nach vorne, so weit es ging, und stieß ihn dann nach hinten.
Mein Schädel krachte auf Fels. Im Hirn explodierte der Schmerz.
Aber es hatte funktioniert. Ich hörte Sand rieseln, spürte minimal weniger Druck auf der Brust.
Ich atmete langsam ein. Die staubige Luft legte sich auf meine Zunge, die Kehle. Meine Lunge explodierte in keuchendem Husten. Ich atmete noch einmal. Hustete noch einmal.
Der Schwindel verging. Meine Gedanken fingen an, sich in kohärenten Mustern zu organisieren.
Schreien? Aber in welche Richtung? Wie lag ich?
War da draußen irgendjemand? War noch irgendjemand am Leben, um mich zu befreien? Waren die anderen ebenfalls verschüttet worden?
Ich blinzelte Sand aus den Augen. Sah nur tintenartige Schwärze. Hörte nur Stille. Keine Stimmen. Keine Schaufelgeräusche. Keine Bewegung.
Wieder die Panik.
Denk nach. Vergiss das Geröll. Den Staub. Die ohrenbetäubende Stille.
Ich versuchte, mich nach links zu drehen. Mein rechtes Bein klemmte fest. Ich spürte, wie sich eine scharfe Kante ins Fleisch meiner Wade drückte.
Ich versuchte, das Knie zu beugen. Heißer Schmerz schoss mir vom Knöchel hoch.
Ich versuchte, mich nach rechts zu drehen. Nichts zu machen. Meine Schulter drückte an einen Fels. Ein Fels, der Augenblicke zuvor noch über dem Friedhof gehangen hatte. Ein Fels, der mich begrub wie den Toten, den wir eben hatten wiederauferstehen lassen.
Denk nach.
Ich zwang mich zur Ruhe. Zum entspannten Atmen. Zwang die sperrige Weste, sich zu heben und zu senken.
Ein. Aus. Ein. Aus.
Ich versuchte zu schreien, aber mein Mund war zu trocken. Ich sammelte so viel Speichel, wie ich konnte, und versuchte es noch einmal.
Meine Stimme klang tonlos, gedämpft. Und wo war oben? Unten? Schrie ich in den Himmel oder in die Erde?
Meine Gedanken wurden wieder wirr. Sauerstoffmangel? Oder ein Übermaß an Kohlendioxid? Früher wusste ich die Antwort auf diese Frage. Jetzt hatte ich keine Ahnung.
Fragen tauchten auf.
Eine Mörsergranate? Eine Boden-Boden-Rakete? Von wem abgefeuert?
Was machte das schon aus?
Waren Blanton und Welsted ebenfalls verschüttet? Die beiden jungen Grabhelfer?
Ich schloss die Augen. Hörte nur das leise Zischen von Sand, das durch Risse rieselte.
Warum suchte niemand mit einer Sonde nach mir? Grub? Rief? Hatten die Dorfbewohner uns im Stich gelassen? Damit unsere Leute uns herausholten oder auch nicht?
Woran würde ich sterben? Unterkühlung? Ersticken? Wie lange würde es dauern?
Der Gedanke an den Tod erfüllte mich mit einer schrecklichen Traurigkeit. An diesem Ort, so weit weg von zu Hause, von den Menschen, die ich liebte. Katy. Harry. Pete. Ryan. Ja, Ryan.
Eine Träne rollte seitlich über meine Wange und tropfte mir auf die Hand.
Mein benebeltes Hirn schaffte eine Schlussfolgerung.
Tropfte. Schwerkraft. Ich lag auf meiner rechten Seite. Die Erde war irgendwo darunter. Geröll, Fels und Himmel waren irgendwo über meiner linken Schulter.
Ich atmete ein und tastete, wie weit meine linke Hand sich nach oben bewegen ließ.
Meine Finger strichen über kleine Oberflächen, doch Schwerkraft und Druck hielten die Einzelteile zusammen. Eine Störung des Kräftegleichgewichts konnte etwas ins Rutschen bringen, dazu führen, dass noch mehr Geröll auf mich herunterstürzte.
Wie viel Luft hatte ich? Die Felsen waren porös und höchstwahrscheinlich nicht so stark komprimiert, dass sie den Sauerstoff völlig ausschlossen. Aber wie tief lag ich vergraben? Wann würde Hilfe eintreffen? Um eine Überlebende oder eine Leiche zu finden?
Dann dachte ich nichts mehr.
Ich wachte auf. Hörte Geräusche. Wässerig, undeutlich.
Stimmen?
Ich erstarrte.
Ja. Menschliche Stimmen. Hoch und erregt.
Verzweifelt, euphorisch bewegte ich meine Hand so, dass sie den äußersten Winkel des kleinen Hohlraums vor meinem Gesicht erreichte. Meine Finger schlossen sich um einen etwa faustgroßen Stein. Mit rasendem Herzen bewegte ich ihn in dem kleinen Bogen, den der Hohlraum erlaubte, und versuchte, gegen den Fels über meinem Kopf zu schlagen.
Wie ging der Morsecode für SOS?
Mein Gott. Wen interessierte das?
Mit erbärmlich kleinen Schlägen pochte ich, wollte verzweifelt einen Kontakt mit der Außenwelt herstellen.
Das Geschrei wurde intensiver. Kam näher. Ich hörte knappe Befehle. Antworten. Knirschen. Dumpfe Schläge.
»Vorsicht!«, bellte ich. Oder flüsterte. »Ich bin okay, aber bitte Vorsicht.«
Das Knirschen ging weiter. Trennte sich in Geräusche einzelner Steine, die bewegt wurden.
Nach einer Ewigkeit, wie es mir vorkam, durchstach ein einzelner Lichtstrahl die Dunkelheit. Noch mehr Knirschen, dann kamen helle Nadeln aus allen Richtungen, ein Kaleidoskop funkelnden Staubs in der Luft um mich herum.
Schließlich wurde ein Felsbrocken angehoben, und grelles, wunderbares Sonnenlicht strömte herein. Geblendet blinzelte ich nach oben.
Blantons Gesicht hing über mir, die Haut so rot wie gekochter Schinken.
»Halten Sie still. Wir holen Sie sofort raus.«
Ich konnte nur lächeln.
Drei Stunden später waren wir auf der Rückfahrt nach Delaram. Aqsaee und Rasekh lagen in Leichensäcken hinten im Fahrzeug.
Beim Einschlag der Mörsergranate waren beide Marines hinter dem Humvee positioniert gewesen. Welsted ebenfalls. Bis auf ein paar Kratzer von herumfliegenden Splittern waren alle drei unverletzt geblieben.
Ironie des Schicksals. Blantons Gier nach Nikotin hatte ihn gerettet. Er hatte ebenfalls außerhalb der Einschlagzone gestanden. Die Grabhelfer, trotz ihrer Jugend schon kriegserfahren, hatten das heranrasende Geschoss gehört, begriffen und die Beine in die Hand genommen.
Mit anderen Worten, ich war die Einzige, die blöd genug gewesen war, um etwas abzubekommen. In kniender Haltung zu langsam oder zu unerfahren, um davonzurennen. Die Wucht der Explosion hatte mich ins Grab geschleudert. Die Schuttschicht über mir war gar nicht so dick gewesen. Und obwohl es mir vorgekommen war wie eine Ewigkeit, war ich nur ungefähr zehn Minuten verschüttet gewesen. Die Seitenwände der Grube hatten mich geschützt.
»Wahrscheinlich eine M252A1«, spekulierte Welsted während der Fahrt. »Man lernt, die Unterschiede zu erkennen. Jede Granate singt in der Luft ihr eigenes Lied.«
»Sehr interessant, aber irrelevant. Die wichtige Frage ist doch: Wer hat das verdammte Ding abgefeuert?«
»Das kann man im Augenblick einfach nicht sagen. Wahrscheinlich kein friendly fire. Unsere Leute hätten mehr als eine abgefeuert.« Welsted beantwortete zwar Blantons Frage, jedoch direkt an mich gewandt. »Die M252 stammen zwar aus britischer Herstellung, aber unsere Mörsereinheiten verwenden sie. Army und Marines. Wenn Truppen gezwungen sind, sich schnell zurückzuziehen, können Waffen zurückgelassen werden.«
»Und die Aufständischen sammeln sie auf.«
Welsted nickte. »Sie nehmen sie und tun damit, was jeder clevere Feind tun würde.«
»Waren wir das Ziel?«, fragte ich.
Welsted zuckte die Achseln. »Kann sein, dass ein Späher unser Fahrzeug entdeckt und die Chance gesehen hat, es zu eliminieren, es könnte aber auch eine Fehlzündung gewesen sein oder eine falsche Flugbahnberechnung auf ein anderes Ziel. Könnte –«
»Könnte auch jemand was weltklassemäßig vergeigt haben. Ich bin hier rausgekommen, um einen Job zu erledigen, nicht um mir den Arsch abschießen zu lassen.«
Welsted warf Blanton einen vernichtenden Blick zu.
»Wir sind hier in einem Kriegsgebiet. Jeder Auftrag birgt ein gewisses Risiko.«
»Werden Sie Ermittlungen anstellen, woher die Granate kam?«, fragte ich.
»Ein Erkundungsteam ist bereits unterwegs, aber ich erwarte nicht viel. Diese Granatwerfer wiegen nur gut dreißig Kilo. Ein Zweimannteam kann in Windeseile eine Granate abschießen und verschwinden. Und der Mörser hat eine Reichweite von dreieinhalb Meilen. Das ist eine Menge Sand zum Absuchen. Bin überrascht, dass die Schützen nur eine Granate abgefeuert haben. Wahrscheinlich hatten sie nur eine.«
»Sind die Taliban nicht klasse?« Blanton schüttelte angewidert den Kopf.
In diesem Augenblick traf der Humvee ein Schlagloch. Der plötzliche Ruck schickte mir einen Feuerstoß vom Knöchel bis ins Knie. Welsted sah, dass ich zusammenzuckte.
»Sie sollten sich das behandeln lassen.«
»Ich kümmere mich selber darum.«
»Ihre Entscheidung.«
Und das war mir auch recht so. Die ganze Sache war mir schon peinlich genug. Dank Helm und Panzerweste beschränkten sich meine Verletzungen auf Schnitte und Abschürfungen. Aber der verstauchte Knöchel hatte mich gezwungen, den Rest der Exhumierung am Grabesrand sitzend zu überwachen.
Verängstigt von der Explosion, hatten die ursprünglichen Grabhelfer sich geweigert zurückzukehren. Die Ersatzleute waren ähnlich jung und ähnlich stark gewesen, aber deutlich weniger engagiert, was eine konzentrierte Überwachung und umfangreiche Anweisungen erfordert hatte.
Zwanzig Minuten nach dem Start erreichten wir Delaram und unseren wartenden Blackhawk. Als ich darauf zuhumpelte, sah ich, dass die Leichensäcke in den Frachtraum gehievt wurden. Ich beeilte mich, zu Welsted zu kommen.
»Ich glaube, die Leichen sollten vorne mitfliegen.«
»Warum?«
»Sie im Frachtraum zu verstauen könnte als Respektlosigkeit interpretiert werden. Als würde man eine Leiche im Kofferraum eines Autos transportieren.«
Blanton sah zu, wie Welsted den Befehl gab, die Überreste nach vorne zu bringen, sagte aber nichts.
Als ich mich anschnallte, sah ich das Dorftrio in einem verrosteten Jeep heranfahren. Der große Mann und der mit dem Muttermal stiegen aus und gingen auf den Hubschrauber zu. Sie würden mit uns kommen, um die Autopsie zu überwachen, wie es die Übereinkunft vorsah. Ich überlegte mir, ob Uncle Sam ihnen einen Rundflug spendierte oder ob der Fahrer über Land nach Bagram holperte, um sie wieder abzuholen.
Während des Fluges warf ich verstohlene Blicke auf die Männer. Beide saßen mit verschlossenen Gesichtern da und starrten auf ihre Hände. Ich konnte mir nicht vorstellen, was sie dachten. Konnte nicht einmal Vermutungen anstellen.
Wir kamen zügig voran, erreichten Bagram aber trotzdem erst nach Sonnenuntergang. Der Stützpunkt leuchtete wie ein Netz aus Licht in einem Meer der Dunkelheit.
Ich war erschöpft, und mein Knöchel schmerzte. Nicht unerträglich, nur ein dumpfes Pochen. Mein Körper fühlte sich sandig an und ausgedörrt von Sonne und Wind.
Aber noch gab es Arbeit zu erledigen.
»Ich begleite die Überreste ins Krankenhaus«, sagte Welsted. »Sie müssen nicht mitkommen.«
Ich wollte Helm, Schutzweste und Kampfanzug ausziehen, duschen, eine Gallone Wasser trinken und ins Bett fallen.
»Doch«, sagte ich. »Das muss ich.«
»Es ist schon spät. Gehen wir’s an.« Von Blanton.
Überrascht drehten Welsted und ich uns um.
»Ich kann ab jetzt übernehmen«, sagte Welsted.
»Nie im Leben.«
Blanton ging auf einen nachgerüsteten, tief liegenden Jeep zu und stieg ein. Ich humpelte hinter ihm her. Als die Leichensäcke sicher in einem Transporter verstaut waren, kam Welsted zu uns und gab den Befehl zum Losfahren. Die Einheimischen würden uns folgen.
»Ein Growler.« Welsted klopfte durch das offene Fenster auf das Seitenblech des Fahrzeugs. »Zweihunderttausend Dollar pro Stück. Ihre Steuergelder im Einsatz.«
Falls Welsted eine schockierte Reaktion erwartet hatte, musste ich sie enttäuschen. Hatte ich nicht gelesen, dass die Army sechshundert Dollar für einen Toilettensitz bezahlte?
Unterwegs zogen wir unsere Schutzwesten aus. Welsted bemerkte, dass die Fünfzig-Betten-Einrichtung, zu der wir fuhren, einem modernen Krankenhaus in den Staaten in nichts nachstand.
»Der Unterschied ist, dass die Ärzte hier weniger Schussverletzungen sehen als zu Hause in Texas.«
Mein Gott. Woher nahm die Frau jetzt noch die Energie für Humor? Falls es als Witz gemeint war.
Das Heathe N. Craig Joint Theater Hospital befand sich auf einem gut ausgeleuchteten Gelände am westlichen Rand des Stützpunktes. Das Hauptgebäude war ein geduckter, gelb-brauner Kasten mit einem halben Dutzend rauchender Kamine auf dem Dach. An einer Stange hing eine afghanische Flagge neben Old Glory. Beiden Standarten schien die Umgebung ziemlich egal zu sein.
Der Transporter fuhr zu einer überdachten Laderampe, unser Growler dicht dahinter. Alle stiegen aus. Während die Leichensäcke auf Rollbahren gelegt wurden, schaute ich mich um.
Eine riesige amerikanische Fahne hing an der Decke über unseren Köpfen. Auf einer Säule stand in senkrechten Buchstaben Warrior’s Way. Schilder mit Schrägbalken in roten Kreisen wiesen eindringlich darauf hin, dass hinter diesen Türen keine Waffen erlaubt waren.
Die Beobachter aus dem Dorf trafen in einem zweiten Growler ein. Sie stiegen aus, als die Bahren in die Notaufnahme gerollt wurden.
Drinnen im Krankenhaus war es so kalt, dass ich Gänsehaut bekam. Das Personal, dem wir begegneten, schaute uns mit unverhohlener Neugier an, Schwestern und Pfleger in Kampfanzug oder Krankenhausmontur, Ärzte mit Schutzhauben auf den Köpfen und Atemmasken um die Hälse.
Aqsaee und Rasekh wurden über einen langen, gefliesten Gang zu einem Kühlraum gerollt, der sich von dem zu Hause im MCME kaum unterschied. Dort würden sie bis zu meiner Untersuchung bleiben.
Ich schaute kurz zur Dorfdelegation und wandte mich dann an Welsted.
»Wenn noch heute Abend Röntgenaufnahmen von jedem Objekt gemacht werden könnten, würde das die Arbeit morgen deutlich beschleunigen. Ich muss wissen, was drin ist, bevor ich die Leichentücher aufwickle.«
»Sie sollten eigentlich in die Koje.«
»Das sollten wir alle«, erwiderte ich.
Welsted sah mich lange an. »Wenn ich anwesend bin, trauen Sie dann einem Radiologietechniker zu, dass er die richtigen Aufnahmen macht?«
Genau das würde ich auch zu Hause tun.
»Ja«, sagte ich.
Welsted ging zu den Dörflern und kam nach kurzer Unterhaltung zurück.
»Sie sind damit einverstanden. Solange wir dafür sorgen, dass die Leichen in Richtung Mekka liegen.«
»Ich kann bleiben.«
Welsted schaute auf die Uhr. »Sie machen jetzt Feierabend.« Zu den anderen: »Das gilt für alle. Wir treffen uns morgen früh hier um null-siebenhundert wieder.«
Zurück in meinem Quartier, warf ich meine Schutzweste in die Ecke, zog den Kampfanzug aus und streifte die Socken ab. Mein Knöchel war ein Tequila Sunrise aus gesprenkeltem Fleisch und abgeschürfter Haut.
Ich wusste, dass ich die Verletzung kühlen sollte. Hatte aber nicht die Zeit, mir über eine Schwellung den Kopf zu zerbrechen. Ich sagte mir, dass es viel schlimmer hätte kommen können, streifte Jeans und ein Sweatshirt über und band den Stiefel so fest, wie ich es ertragen konnte. Beim Losgehen hoffte ich, dass ich noch nicht zu spät dran war.
Abends um zehn ging es auf dem Stützpunkt so geschäftig zu wie tagsüber. Auf den Straßen dröhnten Humvees, Pick-ups, Jeeps und Motorräder. Fußgänger eilten zu Kantinen, Freizeitzentren, Duschen oder zurück in ihre Quartiere. Funktürme und Lichtmasten flackerten vor dem nächtlichen Himmel.
Die Luft war kühl, der Wind kam frisch aus den Bergen. Insekten umschwärmten die Straßenlaternen.
Immer wieder nach dem Weg fragend, fand ich schließlich das einstöckige, gelbe Gebäude, über dessen Eingang ein Transparent mit der Aufschrift Lighthouse hing. Draußen standen ein paar Gäste herum, ihre Zigarettenspitzen leuchteten orange in der Dunkelheit.
»Mom! Mom, hierher!«
Ich hob den Kopf.
Katy winkte mir vom Balkon im ersten Stock.
»Komm hoch.«
Ich hatte den Knöchel völlig vergessen, als ich mich durch die Tür zwängte und die Treppe hochstieg.
Der Laden war gesteckt voll, nur ein Tisch war frei. Ich ging eben darauf zu, als Katy strahlend und mit weit ausgebreiteten Armen auf mich zustürmte.
Als wir uns umarmten, staunte ich über die Kraft meiner Tochter. Über die neue Härte ihres Bizeps.
»Heilige Scheiße, Mom. Du bist ja wirklich hier.«
»Ja, bin ich wirklich.«
»Ich war bei deiner Unterkunft, aber du warst nicht da.«
»Ja«, sagte ich nur.
Ein Lance Corporal der Marines ging auf den freien Tisch hinter uns zu. Ein Blick von Katy, und er machte kehrt. Wir beide setzten uns.
»Was ist mit deinem Fuß los?«
»Hab mir einen Muskel gezerrt.«
»Weichei.«
»Genau. Hab deine Nachricht erhalten. Hat ein Scott Blanton sich bei dir gemeldet?«
»Wer?«
»Egal.«
Katy hatte ihre Haare sehr kurz geschnitten. Das wurde zwar nicht verlangt, aber meine Tochter war noch nie ein Freund von halben Sachen gewesen.
»Ich habe deine E-Mails erhalten.«
»Und warum hast du nicht geantwortet?«
»Unsere Einheit war außerhalb des Lagers. Sind eben zurückgekommen.«
»Was habt ihr getrieben?« So beiläufig, wie es nur ging.
»Kann ich nicht sagen. Das verstehst du doch. Außerdem wissen wir doch beide, wie du sein kannst.«
»Wie ich sein kann?«
Katy machte Glubschaugen, öffnete den Mund und schlug sich mit den Händen auf die Wangen. »Völlig hysterisch.«
»Ich werde nicht völlig hysterisch.«
»Okay. Aber du machst dir zu viele Sorgen.«
»Oder du zu wenig.« Die Müdigkeit. Der Knöchel. Ich bedauerte den Satz, kaum dass ich ihn ausgesprochen hatte.
Katy kniff den Mund zusammen.
»Tut mir leid«, sagte ich. »Ich hatte einen langen Tag.«
»Ich mache nur meinen Job, Mom, genauso wie du. Du bist hierhergekommen. Ich bin hierhergekommen. Wir wussten beide, dass wir nicht in den Club Med fliegen.«
»Du hast recht. Hysterisch. Okay.«
Katys Ausdruck wurde sanfter.
»Braucht dir nicht leidzutun. Ich wäre am Boden zerstört, wenn du dir keine Sorgen machen würdest. Wer würde das denn sonst für mich tun?«
Wir bestellten Snacks und Kaffee, der sogar Dickhäutern Herzrasen beschert hätte. Unser weiteres Gespräch beschränkte sich auf sichere Themen. Was zu Hause in Charlotte passierte. Petes bevorstehende Hochzeit mit Summer.
Schon bald legte Katy ihre Hand auf meine.
»Muss morgen früh raus. Und du siehst aus, als würdest du auf Reserve laufen.«
»Tu ich auch. Und ich muss auch im Morgengrauen aufstehen.«
Ich bezahlte die Rechnung. Wir standen auf. Katy wandte sich zum Gehen. Drehte sich mit Schalk in den Augen noch einmal um.
»Und danke.«
»Wofür?« Ich hatte keine Ahnung.
»Dass du meine Frisur nicht runtergemacht hast.«
Als Katy ging, ging ein Teil meines Herzens mit ihr. Aber ich würde sie bald wiedersehen.
Während ich in der Dunkelheit zurückging, überlegte ich. Duschen? Ein Abstecher in die Kantine, um mir mehr Essen und Eis für meinen Knöchel zu besorgen?
Vergiss es.
Wieder in meinem Quartier, stellte ich die Weckfunktion meines iPhones, zog die Jeans aus und schlüpfte ins Bett.
Während über meinem Kopf Motoren dröhnten, schlief ich ein.