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Das Teilstück der Old Pineville Road, auf dem ich fuhr, war früher die wichtigste Verbindungsstraße zwischen Charlotte und Pineville. Aber die Stadt und die Straße hatten beide schon bessere Tage gesehen. Und belebtere. Jetzt spielte sich das Leben auf dem South Boulevard weiter östlich ab, und nur wenige Autofahrer hatten diese Gegend als Ziel.

Ich setzte den Blinker und trat auf die Bremse. Zwei Lichtkegel rasten auf mein Heck zu. Eine Hupe blökte, und eine große Masse schlingerte um mich herum, bis die Heckleuchten mich anstarrten wie glühend rote Augen in der Dunkelheit.

Nachdem ich gewendet hatte, hielt ich am Straßenrand und schaute mich um. Keine Bürgersteige. Keine Ampeln. Für Fußgänger tödlich.

An der Beifahrerseite verlief ein breiter Streifen mit Unkraut und Gestrüpp. Dahinter die Gleise der Lynx Blue Line, Charlottes erster und einziger Spur der Stadtbahn.

War das Mädchen mit dem Zug gekommen? Zu welcher Station? Woodlawn? Scaleybark? Falls sie bei einer Lynx-Station ausgestiegen war, hatte vielleicht irgendjemand sie gesehen?

War sie mit dem Auto gekommen? Zu Fuß? War sie allein? In Begleitung? Ein freundlicher Fremder, der ihr eine Mitfahrgelegenheit angeboten hatte? Einen Burger? Ein Getränk?

Und vor allem, warum? Larabee schätzte den Todeszeitpunkt auf irgendwann zwischen elf und zwei. Was hatte eine Jugendliche mitten in der Nacht zu einer so isolierten Stelle gelockt? Ohne Jacke in der Kühle der Nacht.

Ich wusste, dass die Spurensicherungstechniker jedes noch so winzige Beweisstück fotografiert und in Tüten gesteckt hatten. Was tat ich also hier nach meinem langen, frustrierenden, blasenziehenden Tag?

Ich musste es selbst sehen. Hören. Schmecken. Ein Gefühl für den Ort entwickeln.

Nachdem ich mir die Schlüssel nachdrücklich in die Tasche gesteckt hatte, stieß ich die Tür auf. Eine Windbö erfasste meine Haare und fuhr in den Saum meiner Jacke. Obwohl es tagsüber noch sommerlich war, kühlte die Luft mit dem Sonnenuntergang ab.

Ich zog mir den Reißverschluss bis zum Kinn hoch.

Ich war wärmer angezogen, als meine Unbekannte es gewesen war. Warum? Das modische Manifest einer Pubertierenden? Ein überstürzter Aufbruch? Die Erwartung eines Abends drinnen?

Ich stellte mir die hochhackigen Stiefel und den Jeansrock vor. Bedeutungslos. Heranwachsende zogen sich so an, um im Einkaufszentrum herumzuhängen, zur Schule oder mit Freunden zu einer Party zu gehen.

In der Ferne pfiff leise ein Zug. Nicht die Stadtbahn. Ein Güterzug auf dem Parallelgleis. Norfolk Southern? CSX? Aberdeen, Carolina and Western?

War das Mädchen aus einem Güterwaggon gesprungen und die Old Pineville Road entlanggegangen? Nicht sehr wahrscheinlich, aber möglich.

Falls das Mädchen mit dem Auto gekommen war, dann war es zweifelhaft, ob sie darum gebeten hatte, hier herausgelassen zu werden. Hat der Fahrer sie zum Aussteigen gezwungen? Warum? Ein Streit? Der Abschluss eines Geschäfts?

Ich dachte an die Samenflecken.

War der Sex einvernehmlich gewesen? Folgte darauf ein Streit, sodass sie wütend aus dem Auto sprang? Wurde sie vergewaltigt und dann weggeworfen wie der Müll der letzten Woche?

Hatte Slidell recht? War das Mädchen auf den Strich gegangen und von einem rebellischen Kunden überfahren worden?

Ich suchte die andere Straßenseite ab, sah die schwarzen Silhouetten von Gewerbebauten. Und dazwischen zinngraue Leerräume.

Ich dachte an die Clubkarte von US Airways in der Handtasche des Mädchens. An John-Henry Story. Warum hatte sie die Karte eines Toten bei sich? War sie mit ihm gereist, als er die Karte das letzte Mal benutzt hatte? Wohin? Hatte er ihr die Karte gegeben? Hatte sie sie ihm gestohlen? Ohne ihn hätte sie die Karte nicht benutzen können. Warum hatte sie sie behalten?

Die Leiche des Mädchens war in der Nähe der Kreuzung Old Pineville und Rountree gefunden worden, nur eine kurze Strecke von mir entfernt. Rannte sie, als sie angefahren wurde? Stand sie auf dem Bankett? Ging sie? Wie weit war sie gekrochen, nachdem sie überfahren worden war?

Ein Laster rumpelte vorbei, wich meinem Mazda in weitem Bogen aus.

Memo an mich selbst: Slidell soll sich bei Lastwagenfahrern umhören, die häufig diese Strecke fahren. Und generell an Fahrer appellieren, die gestern Nacht hier entlanggefahren sind. Aber darauf würde er mit Sicherheit selbst kommen.

Hatte die Kleine das Fahrzeug gesehen, das sie getötet hatte? Hatte sie versucht, ihm auszuweichen, oder wurde sie getroffen, bevor sie sich der Gefahr überhaupt bewusst wurde?

Einen Augenblick stand ich fröstelnd da und lauschte. Die Stille wurde nur vom Geräusch einer vom Wind verwehten Plastikverpackung durchbrochen. Von einer gedämpften Autohupe.

Meine Nase registrierte den Geruch von öligem Beton. Abgase. Trockenes Laub, so wie es nur im Herbst riecht.

Ich schaute die Straße in beide Richtungen entlang. Auf der anderen Seite, vielleicht eine Viertelmeile hinter mir, entdeckte ich ein schwaches, blaues und rotes Blinken, das ich zuvor noch nicht bemerkt hatte. Ich setzte mich hinters Steuer, wendete und fuhr darauf zu.

Das Blinken kam von einem weißen Stuckwürfel, der in grauer Vorzeit wohl eine Tankstelle gewesen war. Eine Lichterkette umrahmte ein Fenster, in dem verblasste Bekanntmachungen einen Großteil des Glases bedeckten. Rote Buchstaben auf der Front verkündeten den Namen des Ladens: Yum-Tum Convenience Mart.

Die einzigen Fahrzeuge auf dem Parkplatz des Yum-Tum waren ein verrosteter grauer Pick-up und ein uralter roter Ford Escort. Ich parkte neben dem Pick-up und stieg aus.

Durch die vergitterte Glastür sah ich eine einzelne Angestellte hinter einer brusthohen Theke. Ein Alarmsignal ertönte, als ich eintrat.

Mir fielen Deckenkameras auf, eine gegenüber der Theke, die andere in einer Ecke, das Objektiv auf die Tür gerichtet. Beide sahen betagt aus. Meiner Vermutung nach waren sie so programmiert, dass sie die Aufzeichnungen alle vierundzwanzig Stunden überschrieben.

Wenn sie überhaupt funktionierten.

Memo an mich selbst. Slidell wegen der Überwachungsbänder fragen.

Ein Mann in Bermudashorts, Basketballschuhen und einem Trikot der Charlotte Panthers zahlte eben an der Kasse. Während ich wartete, bis er fertig war, prägte ich mir weitere Details ein.

Bier, Limonaden und Milch in den Kühlschränken. Regal mit Salzigem und Frittiertem in Tüten mit Warnungen vor Gesundheitsgefahren. Unter Wärmelampen Donuts, die wie Plastik glänzten. Würstchen, die sich auf einem fettigen Grill drehten. Der Laden war ein Terrorangriff auf den Verdauungsapparat.

Wortlos gab die Angestellte Bermuda sein Wechselgeld. Sie hatte platinblonde Haare, eine milchige Haut und dunkle Gothic-Augen. Die Kombination wirkte tough und zugleich unschuldig. Wie das Halloween-Missgeschick einer Zwölfjährigen.

Während Bermuda den Laden verließ, nahm ich mir ein Päckchen Minzbonbons und ging zur Theke.

»Viel zu tun?«

»Ist das alles?«

»Ja.« Ich hielt ihr einen Zehner hin. »Haben Sie gestern Nacht auch gearbeitet?«

»Ich arbeite jede Nacht.«

»Dann haben Sie den Unfall gesehen?«

Die Morticia-Addams-Augen hoben sich zu meinen. Verengten sich. »Irgendwie schon.«

»Was haben Sie sich dabei gedacht?«

»Warum fragen Sie?«

»Ich arbeite für das Büro des Medical Examiner. Ich habe das Opfer untersucht.«

»Also, ihre Leiche?«

Nein, du Genie. Ihre Socken. »Ja, ihre Leiche.«

»Also, dann sind Sie der Coroner?«

»Ich arbeite für den Medical Examiner.«

»Also, in einer Leichenhalle?«

Wenn man das Wort »also« aus ihrem Wortschatz entfernte, wäre die Kleine sprachlos.

»Ja.«

»Schätze, das ist cool.«

»Ja. Darf ich Sie nach Ihrem Namen fragen?«

»Shannon King.«

»Sind Sie Studentin, Shannon?«

»Ich belege Kurse am Community College.«

»Das ist aber sehr tüchtig.«

»Mein Englischlehrer lässt uns Blogs schreiben. Das ist ziemlich happig, weil, wissen Sie, ich bin jede Nacht hier und auch an einigen Nachmittagen. Wie viel kann man über Cheetos und Pepsi schon schreiben?«

»Dann sind Sie sicher eine gute Beobachterin.«

King schaute mich an, als wüsste sie nicht so recht, ob ich mich über sie lustig machte. Dann: »Glaub schon.«

»Der Unfall zum Beispiel.«

»Ich habe rein gar nichts gesehen. Und nichts gehört, bis die Sirenen kamen.«

»Wirklich?«

»Hören Sie, ich weiß, was Sie denken. Ich hab zu mir selber gesagt, Shannie, du musst doch etwas gehört haben. Reifenquietschen. Den Knall. Irgendwas. Hab ich aber nicht.«

»Bis zu den Sirenen.«

Sie atmete tief ein, dann senkten sich die oberen Zähne auf die Unterlippe.

»Abgesehen von?«, fragte ich.

»Ich will nicht blöd klingen.«

Zu spät.

»Das werden Sie auf keinen Fall«, sagte ich.

»Ich bin mir nicht ganz sicher, vielleicht ist das ja, also ich mein, irgendwie nachträglich da reininterpretiert.«

»Jede Kleinigkeit könnte sich als wichtig erweisen.«

»Vielleicht hat irgendjemand geschrien. Aber nicht in der Nähe. Es war mehr wie ein Jaulen. Aber es hätte auch ein vorbeifahrendes Auto sein können, in dem der Fahrer die Sender wechselt. Oder eine Katze.«

»Oder ein Schrei.«

»Ja, ein Schrei.«

»Sie sind nicht rausgegangen, um nachzusehen.«

»Doch, bin ich schon. Der Laden war, also, total leer. Aber da war nichts. Wie jede Nacht.«

»Haben Sie irgendwelche Fahrzeuge gesehen, die schnell gebremst oder beschleunigt haben?«

»Nöö.«

»Es war gut, dass Sie nachgesehen haben.«

»Hören Sie, ich werde versuchen, in meinen Erinnerungen zu kramen.« Sie zuckte die Achseln, als wäre ihr dieser für ihre Verhältnisse ungezügelte Enthusiasmus etwas peinlich. »Hilft mir vielleicht bei meinem Blog. Das ist alles.«

»Das wäre gut.«

»Oder ich kann auch Kunden fragen. So ganz cool und nebenbei. Also wie: ›Haben Sie diesen Unfall Montagnacht gesehen?‹ So wie Sie es bei mir gemacht haben.«

Ich gab ihr das Polaroid, das ich im Kühlraum geschossen hatte. »Haben Sie dieses Mädchen schon einmal gesehen?«

»Ist sie das?« Sie starrte das Foto an. »Die getötet wurde?«

»Ja.«

»Ach du Scheiße. Ist die jung.«

»Ja.«

»Wie heißt sie?«

»Das wissen wir nicht. Wir versuchen, es herauszufinden.«

»Wenn ich Ihnen nur helfen könnte.« Sie schob mir das Foto wieder zu. Hielt inne. »Ich könnte es behalten. Es herumzeigen. Soll ich das machen?«

Ich überlegte, entschied mich dann aber dagegen. Nicht wenn sie in den Nächten so oft alleine war. Ich wollte auf keinen Fall, dass sie den Falschen aufschreckte.

»Ich werde mit dem Ermittlungsleiter reden, ob er Ihnen eine Kopie zukommen lassen kann.«

»Wie heißt der?«

»Detective Slidell.«

»Wird er mich anrufen?«

»Bestimmt.«

Ich gab ihr meine Karte. »Bitte rufen Sie mich an, wenn Ihnen noch irgendetwas einfällt. Egal was.«

Meine Hand lag schon auf dem Türknauf, als ihre Frage mich aufhielt.

»Was hat sie so spät noch hier draußen getrieben?«

»Ich weiß es nicht, Shannon. Aber ich werde es herausfinden.«

Dreißig Minuten später war ich zu Hause und im Bett.