36

Am nächsten Morgen schlief ich länger als an allen Tagen seit meiner Rückkehr. Trotzdem fühlte ich mich beim Aufwachen ruhelos und beklommen.

Ich hatte Kaffee und Raisin Bran, und während ich Schüssel und Tasse wusch, fühlte ich mich, als hätte meine Haut nicht die richtige Größe. Die erfolglose Razzia im Passion Fruit. Die Sorgen um die Mädchen, denen vielleicht dasselbe Schicksal bevorstand wie Candy. Die Frustration, weil wir Candys Identität noch immer nicht kannten. Die Angst vor Slidells Zorn. Das schlechte Gewissen wegen D’Ostillo.

Das schlechte Gewissen, weil ich Larabees Scheißhausschädel nicht untersuchte.

Das ungute Gefühl, weil irgendein Spinner mir eine Zunge auf die Schwelle gelegt hatte.

Der Knöchel fühlte sich ziemlich gut an. Ich beschloss, dass es jetzt Zeit war, ihn wieder ranzunehmen.

Ich rief die Telefonzentrale des MCME an. Mrs. Flowers meldete sich. Ich sagte ihr, dass ich eine Runde laufen und gleich danach ins Institut kommen würde. Sie fragte, ob ich den Booty Loop laufen wolle. Überrascht, dass sie die Strecke überhaupt kannte, sagte ich Ja, obwohl ich mir über die Route noch keine Gedanken gemacht hatte.

Ich zog meine Nikes und meine gewohnten Laufklamotten an – Radlerhose und ein weites, schlabbriges T-Shirt. Der Morgen war kühl, aber sonnig. Dank Mrs. Flowers machte ich mich an den Booty Loop, einen Fünf-Meilen-Kurs, der den Campus der Queens University umringt. Was der Name eigentlich bedeutet, wird unter den Charlottern immer noch heiß diskutiert.

Ich war seit einigen Wochen nicht gelaufen, und die erste Meile war eine Quälerei. Aber der Knöchel fühlte sich stabil an.

Nach der zweiten Meile brannte Milchsäure in meinen Beinmuskeln. Doch weil ich fest entschlossen war, den Rundkurs zu beenden, lief ich weiter.

Schwitzend und keuchend erreichte ich schließlich den Clock Tower. Ich stand gebeugt da und atmete heftig, als jemand meinen Namen rief.

Ich richtete mich auf und sah einen Mann von einer Bank aufstehen und auf mich zukommen. Er war groß und dünn und trug eine Kappe der Tar Heels, Jeans und eine schwarze Nylonjacke. An einer Hand baumelte eine Plastiktüte.

Was wollte der?

»Ich habe in Ihrem Büro angerufen. Die Frau am Telefon meinte, ich würde Sie hier finden. Sie war so freundlich, mir den Weg zu beschreiben.« Scott Blanton lächelte und zeigte seine schiefen Schneidezähne. »Ich hoffe, ich komme nicht ungelegen?«

Ungelegen? Ich schwitzte heftig, war völlig fertig und verwirrt. Den NCIS-Agenten hatte ich zuletzt in Bagram gesehen. Warum lauerte er mir beim Joggen auf?

Blanton streckte mir seine freie Hand entgegen.

Ich hob meine Hände in die Luft und grinste entschuldigend. »Verschwitzt.«

Blanton musterte mich vom Kopf bis zu den Zehen. »Aber sehr fit, wie’s aussieht.«

»Danke.« Plötzlich wurde ich mir der Po-formenden Spandex-Hose bewusst.

»Wie geht’s dem verstauchten Knöchel?«

»Völlig verheilt.«

»Nach der Exhumierung war mir hundeelend. Musste zwei Tage in Quarantäne, bevor man mich nach Hause ließ.«

Mir fiel ein Detail aus unserer Unterhaltung in der Kantine wieder ein. Blanton war aus Gastonia.

»Ich bin mir sicher, Ihre Familie ist sehr froh, Sie wiederzuhaben.« Lahm. Aber ich hatte keine Ahnung, was der Kerl wollte.

»Und Ihre Katze war sicher auch sehr froh, Sie wiederzusehen.«

Die Bemerkung überraschte mich. Dann fiel mir ein, dass ich das ebenfalls in der Kantine erzählt hatte.

»Ja.« Ich wischte mir feuchte Haare aus der Stirn.

Blanton griff in die Tüte und zog einen Karton heraus. Flach und rechteckig.

Wie derjenige, in dem D’Ostillos Zunge gelegen hatte.

Mit einem komischen Gefühl im Magen schaute ich mich um. Hinter uns liefen Studenten über den Campus. Auf der Radcliffe herrschte Verkehr, nicht sehr viel, aber genug, um mir ein Gefühl der Sicherheit zu geben.

»Für Sie, Doctor.« Blanton hielt mir den Karton hin. »Weil Sie so ein guter Soldat waren.«

»Ich habe nur meine Arbeit getan.«

»Dann nehmen Sie es als Dank dafür, dass Sie mein grässliches Benehmen klaglos hingenommen haben.«

Ich nahm den Karton und hob den Deckel an. Drinnen lag ein Paschmina-Tuch, ähnlich dem, das Katy und ich auf dem Basar in Bagram bewundert hatten.

Blanton war nach Charlotte gekommen und hatte mich ausfindig gemacht, nur um mir ein Tuch für zwei Dollar zu schenken?

»Ihre Miene sagt Stalker. Entweder das, oder Ihnen gefällt die Farbe nicht.«

»Es ist sehr schön. Nur unerwartet.«

»Ich war in der Gegend und dachte mir, vielleicht freuen Sie sich über ein Erinnerungsstück.«

Gastonia war gute vierzig Minuten entfernt. Wenn wenig Verkehr war.

»Hören Sie. Ich habe mich da drüben nicht von meiner besten Seite gezeigt. Ich war angespannt. Das Ungeziefer. Welsted hat mich wahnsinnig gemacht.« Schelmisches Grinsen. »Vergeben und vergessen?«

»Vergeben und vergessen.« Jetzt, da ich nicht mehr lief, fühlte sich die Brise auf der feuchten Haut und den schweißnassen Sachen kalt an. Ich fing an zu zittern. Blanton schien es nicht zu bemerken.

»Was wir getan haben, war wichtig, unabhängig vom Ausgang. Sheyn Bagh war eine üble Situation, in der es eigentlich keine Gewinner geben konnte. Wir haben der Gerechtigkeit Genüge getan.«

»Haben Sie mit Lieutenant Gross gesprochen?«

»Nein. Aber ich habe gehört, dass er unbedingt wieder in den Einsatz will.« Blanton starrte mich an, als wollte er mir ins Gehirn bohren. »Wie läuft die Arbeit? So viel zu tun wie drüben?«

»Hm.«

»Böse Menschen tun anderen Menschen böse Dinge an. Hoffentlich anderen bösen Menschen. Aber das ist nicht immer so, oder?«

Blanton beugte sich verschwörerisch zu mir. Er roch nach schalem Kaffee und Old Spice.

»Wir sehen es, nicht wahr? Das Böse. Tagein, tagaus. Nach einer Weile macht es einen ganz konfus. Wie kann guten Menschen eine solche Scheiße passieren? Menschen wie John Gross.«

Ich hielt das für ein schlechtes Beispiel, sagte aber nichts.

»Ich weiß ja nicht, wie’s Ihnen geht, aber ich glaube inzwischen, dass das Böse in dieser Welt wirklich existiert. Das echte, greifbare Böse. Man weiß nie, ob man eines Morgens aufwacht und es auf der eigenen Schwelle findet.« Blanton grinste selbstironisch.

»Na ja, ich philosophiere mal wieder. Und Sie stehen da und frieren.«

Blanton nahm das Tuch aus dem Karton in meinen Händen, faltete es auf und legte es mir um die Schultern. Als er sich über mich beugte, fiel mir auf seinem Hals ein Tattoo auf, irgendein chinesisches Symbol.

War ich die einzige Person auf diesem Planeten, die noch keine Tinte auf der Haut hatte?

»Passen Sie auf sich auf, Dr. Brennan.«

Bevor ich etwas erwidern konnte, drehte Blanton sich um und ging davon. Ich sah ihm nach, bis er bei der Selwyn um die Ecke bog.

Danach fühlte ich mich sehr erleichtert.

Mein Gott. Warum war mir der Kerl so unheimlich?

Plötzlich fühlte sich mein Knöchel nicht mehr so gut an.

Ich joggte langsam nach Hause, duschte, aß eine Kleinigkeit und fuhr dann ins MCME.

Um halb fünf war ich mit dem Schädel fertig. Der unangenehme Teil war das Abkratzen der Kacke gewesen. Der Ausschluss eines Verbrechens war dagegen ein Kinderspiel.

Der Schädel war der eines jungen Erwachsenen, sehr wahrscheinlich indischer Abstammung. Die Schädelnähte und die Zähne ermöglichten die Altersbestimmung. Die ausgeprägten Brauenwülste, die vorspringende Nackenleiste und der große Warzenfortsatz verrieten mir das Geschlecht.

Die kleinen Schrauben, die den Unterkiefer am Schädel befestigten, sagten mir, dass der Schädel von einem schulischen Anschauungsskelett stammte. Zwar wurden schon seit zwanzig Jahren keine echten menschlichen Knochen mehr exportiert, davor aber war es legal und durchaus üblich, und die meisten menschlichen Skelette kamen aus Indien. Diese Tatsache deutete zusammen mit der Gesichtsarchitektur auf eine südasiatische Abstammung hin.

Ich schrieb einen Bericht in diesem Sinne. Nun war es an Larabee und, falls er die Sache weiterverfolgte, am CMPD, zu klären, wie der Schädel im Klo gelandet war.

Motiviert durch meine vorbildlichen Leistungen beim Auspacken, Joggen und bei der Begutachtung des Schädels, fuhr ich auf dem Heimweg zu einem Harris Teeter, um meine Nahrungsvorräte aufzustocken. Wer will noch behaupten, dass ich ein Zauderer bin?

Es dämmerte schon, als ich zu Hause eintraf. Birdie kam aus dem Wandschrank geschossen und strich um meine Beine.

Ich hob ihn hoch und kraulte ihm das Kinn. Er zeigte großes Interesse, als ich meine Einkäufe verstaute. Ich ließ ihn mit einer der Plastiktüten spielen.

Als ich gerade Toilettenpapier und Seife in den Badezimmerschrank räumte, dachte ich an die Alarmanlage und lief nach unten, um sie einzuschalten. Beim Ankommen hatte ich in der Zufahrt einen Streifenwagen gesehen. Slidells Überwachung. Trotzdem.

Ich würde es zwar nie zugeben, aber ich war froh um die Polizisten da draußen. Auch wenn sie nur in Abständen vorbeischauten. D’Ostillos Tod hatte mich ziemlich nervös gemacht. Ganz zu schweigen von der Zunge auf meiner Schwelle.

Auch Blantons unerwartetes Auftauchen machte mir Kopfzerbrechen. Warum hatte er mir das Tuch nicht einfach geschickt? Warum hatte er es überhaupt gekauft? Er war schon ein komischer Kauz.

Was hatte er gesagt? Aufwachen und das Böse auf der eigenen Schwelle finden? Sollte das eine versteckte Drohung sein?

Das Telefon klingelte.

»Mein Gott, Doc. Ich rufe seit einer Stunde an.«

»Was gibt’s, Detective?«

»Ich habe mir Tarzec zum Verhör aufs Revier geholt. Hatte nicht viel erwartet und bekam auch nicht viel. Eigentlich gar nichts. Da ich nichts gegen sie in der Hand hatte, musste ich sie wieder gehen lassen.«

»Was ist mit Steuerunterlagen, Angestelltenverträgen, Pacht- oder Hypothekenverträgen für das Gebäude?«

»Ich arbeite daran. Aber ich habe den Typ vom ICE angerufen.«

»Luther Dew.«

»Ja. Was für ein Trottel.«

»Wenn Sie ihm vielleicht sagen, was D’Ostillo gesagt –«

»Ich bin Ihnen weit voraus. Ich bin vorbeigefahren, um ihm ein paar Fotos zu zeigen.«

»Das Foto von D’Ostillos Leiche?«

»Dachte schon, er würde sein Mittagessen auskotzen. Aber jetzt kapiert er es. Dass es um mehr gehen könnte als um tote Hunde. Er hat mir einige frisch erhaltene Informationen zukommen lassen.«

Ich wartete.

»Rockett reist häufig nach Texas.«

»Wie hat Dew das herausgefunden?«

»Das ICE gräbt wirklich tief. Handydaten, Kreditkartenabrechnungen, das Übliche.«

»Fährt Rockett mit dem Auto?«

»Manchmal. Aber hören Sie sich das an. Manchmal fliegt er hin, aber nicht zurück.«

»Wohin?«

»Houston. Oder Phoenix. Und dann weiter nach El Paso.«

»Wo übernachtet er?«

»Das ist nicht klar.«

»Geht er auch mal rüber nach Mexiko?«

»Die Grenzpolizei hat Aufzeichnungen über Flüge Rocketts nach Guatemala, Ecuador und Peru. Dew nimmt an, dass das legale Geschäftsreisen sind. Es gibt keine Aufzeichnungen darüber, dass er mit dem Auto von Texas nach Mexiko fährt.«

Ich wollte eine Frage stellen, doch Slidell kam mir zuvor.

»Oder von Arizona, New Mexico oder Kalifornien.«

»Passen seine Besuche zu Verkaufsabrechnungen hier?«

»Genau das ist es. Tun sie nicht. Das ICE hatte die Daten mit seinen Rechnungen verglichen.«

»Vielleicht macht er die Rundfahrten, um legale Ware abzuholen. Vielleicht dienen die One-Way-Flüge zu was anderem.«

Das musste ich ihm nicht erklären. Jeder Amerikaner weiß Bescheid über die Durchlässigkeit unserer Südgrenze. Die meisten wissen etwas von Schwarzarbeitern, die durch die Wüste laufen oder durch den Rio Grande schwimmen. Wir haben alle schon mal von den sogenannten Kojoten gehört, Geschäftemachern, die aus dem Schmuggel von Illegalen über Land Profit schlagen und sie bisweilen unterwegs lieber sterben lassen, als eine Verhaftung zu riskieren.

»Ich bezweifle, dass das so einfach ist«, sagte Slidell. »Vergessen Sie nicht, Rockett wurde in Charlotte-Douglas verhaftet, weil er illegale Ware einführen wollte.«

»Fracht ist einfach. Man verpackt sie und verschickt sie. Menschen sind ein viel haarigeres Problem. Sie müssen essen, trinken, atmen.«

Einige Augenblick dachten wir beide darüber nach.

»Wie hört sich das an? Irgendwie schafft Rockett Mädchen nach Mexiko. Aus Südamerika, Osteuropa, woher auch immer. Entweder haben sie eigene Pässe, oder er beschafft ihnen gefälschte. Vielleicht kümmert er sich auch gar nicht drum. Ob mit Papieren oder ohne, er schafft sie entweder zu Fuß oder auf Lastwagen über die Grenze und fährt sie dann nach Osten.«

»Hört sich einleuchtend an«, sagte ich.

»Eins ist sicher. Rockett reist nicht nach Texas, um sich Rodeos anzuschauen.«

»Nein«, pflichtete ich ihm bei.

Wieder Schweigen. Im Hintergrund hörte ich Telefone, stellte mir vor, dass Slidell an seinem Schreibtisch im Bereitschaftssaal saß.

»Was ist mit Ray Majerick?«

»Noch flüchtig. Aber wir kriegen ihn.«

»Was ist mit citizenjustice? Irgendwas Neues?«

»Hab’s an die Cyber-Jungs weitergeleitet, aber die stecken bis über beide Ohren in Arbeit.«

Es klingelte an der Tür. Meine Finger umklammerten den Hörer fester. Ich erwartete niemanden.

Es klingelte noch einmal.

Und noch einmal.

»Was ist da los?«

»Da ist jemand an der Tür«, sagte ich zu Slidell. »Sie haben einen Streifenwagen draußen, richtig?«

»Einer jede Stunde. Mehr ging nicht. Das Department hat zu wenig Leute.«

»Bleiben Sie dran?«

»Ja.«

Es klingelte noch einmal.

Und viel zu schnell noch einmal.

Mit dem Schnurlosen in der Hand stieg ich die Treppe hoch und versuchte, durch das Fenster zu sehen, das auf das Vordertreppchen hinausging. Die Außenbeleuchtung war ausgeschaltet. Unter dem Dachvorsprung erkannte ich einen Teil einer Männerschulter, ein Bein und abgewetzte Slippers.

»Soll ich einen Wagen schicken?«, fragte Slidell.

Ich hob mir das Gerät ans Ohr.

»Warten Sie.«

Ich lief nach unten, schlich zur Tür und drückte das Auge ans Guckloch.

»O mein Gott …«

»Hallo, Doc? Alles okay?«

Schockiert schob ich den Riegel zurück und öffnete die Tür.