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Die Sonne glitzerte auf dem Plastik zwischen Slidells Daumen und Zeigefinger.
Ich wartete auf eine Erklärung.
»Das Opfer hatte eine Handtasche. Kreischend pink, nur so groß wie ein Burger, Nuttenriemchen.«
»Ich trage auch eine Schultertasche.« Slidells Sarkasmus machte mich wie üblich reizbar. Wie auch seine vorschnelle Schlussfolgerung, das Unfallfluchtopfer sei eine Prostituierte.
»Leuchtend pink? Geformt wie eine gottverdammte Comickatze?«
»Sind Sie sicher, dass es ihre war?«
»Das Ding lag im Gestrüpp, drei Meter von der Leiche entfernt. Hatte noch nicht lange dort gelegen. Wir untersuchen sie noch nach Fingerabdrücken. Aber ja, ich bin sicher, dass es ihre war.«
»Das war in der Handtasche?« Ich deutete auf das Objekt in der Tüte.
»Zusammen mit einem komm-fick-mich-roten Lippenstift.«
»Bargeld?«
»Ein Zehner und zwei Einer. Lose. Einfach nur reingestopft.«
»Sonst noch was?«
»Nada … bis auf.« Er wedelte mit dem Tütchen. Der Erstaunliche Slidell, Zauberer von Mecklenburg.
Ich nahm die Tüte und schaute mir das Plastikrechteck darin genau an, denn ich war sicher, dass ich die winzigen schwarzen Buchstaben auf der Oberseite falsch gelesen hatte.
Hatte ich nicht.
»Was soll ich damit?«
»Dachte, es interessiert Sie vielleicht.«
Die gelb-braune US Airways Club Card hatte eine Gültigkeit bis Februar des folgenden Jahres. Das Konto lief auf den Namen John-Henry Story.
»Sie hatte John-Henry Storys Fluglinien-Clubkarte?«
Slidell nickte.
»Wie kam sie dazu?«
»Intelligente Frage, Doc. Und hier ist noch eine. Story ist vor sechs Monaten verbrannt. Wo war das Plastik in der Zwischenzeit?«
Das ergab keinen Sinn.
»Die Sache ist die, Story stirbt, aber seine Karte lebt weiter. Nur in einer Art Dämmerschlaf«, sagte Slidell. »Ich habe es kontrolliert. Zum letzten Mal wurde die Karte sechs Wochen vor dem Feuer benutzt.«
»Wohin flog er?«
»Daran arbeite ich noch.«
»War irgendjemand bei ihm?«
»Ein Gast.«
»Das Mädchen?«
»Diese Information wird nicht gespeichert.«
Slidell zog noch eine Ziploc-Tüte aus seiner Tasche. »Und das war auch noch in ihrer Handtasche.«
Ich betrachtete den Papierfetzen durch das Plastik. Darauf stand gekritzelt: Las clases de Inglés. Saint Vincent de Paul Catholic Church.
Ich schaute Slidell an. Er schaute mich an und zuckte die Achseln.
Ich wollte meine Habseligkeiten zusammenraffen, bevor ich aus dem Taurus stieg, aber natürlich hatte ich keine Habseligkeiten. Keine Schuhe, keine Handtasche, weder Haus- noch Autoschlüssel, kein Handy, kein Bargeld, keine Karten.
Zu einer anderen Zeit hätte ich Katy anrufen und sie um die Ersatzschlüssel bitten können, die sie für mein Haus aufbewahrt.
O Gott. Katy.
»Hören Sie, danke, dass Sie mich hergefahren haben. Ich –«
»Sie sind mir was schuldig? Machen Sie sich darüber jetzt keine Gedanken.«
Jetzt? Klasse.
Ich zog die Hosenbeine hoch, schwang mich aus dem Taurus und eilte zur Eingangstür. Über den glatten Asphalt zu laufen war so ziemlich die größte Freude, die ich den ganzen Tag erlebt hatte. Ich blieb einen Augenblick stehen und genoss den kühlenden Stein.
In meinem Büro warteten Laborkluft und vernünftige Schuhe. Bald würde ich einigermaßen präsentabel sein.
Wie schon Slidell würde mein Erscheinungsbild die Leute drinnen weniger schockieren als amüsieren. Ich war schon schlimmer aussehend und riechend aufgetaucht.
Bis auf Mrs. Flowers. Sie würde ihr Missfallen durch eine minimale Augenverengung und ein hastiges Neuordnen ihres bereits penibel ordentlichen Schreibtisches kundtun.
Ich nickte Mrs. Flowers durch das Rezeptionsfenster zu. Nachdem sie mich eingelassen hatte, winkte sie mich mit einer Fingerbewegung zu sich.
Obwohl Mrs. Flowers einen Vornamen hatte – Eunice –, war sie nach meinem Wissen noch nie anders als mit Mrs. Flowers angesprochen worden. Der Namen passt so gut zu ihr, dass ich mich manchmal frage, ob sie einen Verehrer namens Smith oder Gaspard geheiratet hat. Sie ist eine Pfingstrose von einer Frau, mit einer vollen Figur und einer Haut, die sie offensichtlich seit Kindertagen verwöhnt. Der einzige Makel dieser perfekten Haut? Mrs. Flowers’ Farben in Gegenwart des anderen Geschlechts.
Trotz ihres unangebrachten Farbenspiels hat Mrs. Flowers die Fähigkeit, jedes Dokument archiviert und zugriffsbereit, jeden Bericht getippt, geprüft und sofort verfügbar zu halten, daneben den Telefondienst zu machen und die Besucher, die sich an ihrem Fenster zeigen, gezielt weiterzuleiten. Bei einem Personal aus drei Pathologen, zahlreichen Todesermittlern, gelegentlichen externen Beratern und meiner Wenigkeit ist das eine ziemliche Leistung.
»Ach du meine Güte.« Mrs. Flowers’ erhobene Hand sank auf ihre gelbe Seidenbluse.
»Das ist eine lange Geschichte«, sagte ich. Sollte heißen, fragen Sie lieber nicht.
Eine sorgfältig gezupfte Augenbraue wanderte leicht in die Höhe, aber dabei beließ sie es.
»Dr. Larabee möchte Sie sehen.« Eine Stimme so südlich wie Vom Winde verweht. »Er ist im großen Autopsiesaal.«
»Danke.«
Zwei kleine Gänge, von den Erfindern Biovestibüle genannt, verbinden die Verwaltungs- und Öffentlichkeitsbereiche mit dem Autopsiebereich. Ich ging den einen hinunter und blieb kurz vor der Anschlagtafel stehen.
Vier neue Fälle. Ein Unfall mit einem einzelnen Fahrzeug in der Nähe des Optimist Park an der N. Davidson Street, ein älterer Fahrer, D. O. A., wie es so schön kurz heißt für dead on arrival – tot bei Ankunft – im Carolinas Medical Center. Eine Sechzehnjährige mit einer Schusswunde im Kopf, neben einem Müllcontainer am Shamrock Drive tot aufgefunden. Die peruanischen mumifizierten Überreste, die auf meine Untersuchung warteten. Und das junge Opfer der Fahrerflucht von der Old Pineville Road.
Slidells Unbekannte.
Ich stellte mich vor der Damentoilette an, ließ meinen Haaren und meinem schmutzverkrusteten Gesicht die größtmögliche Interimspflege angedeihen und ging dann in den Umkleideraum, um Laborkluft anzulegen. Schließlich noch ins Büro, wo ich mir Pflaster, Antiseptikum und die Nikes holte, die immer unter meinem Garderobenständer stehen. Zehn Minuten nach meinem Eintreffen war ich bereit für den Einsatz.
Als ich die Tür zum großen Autopsiesaal aufstieß, stand Tim Larabee neben einem der beiden Edelstahltische. Er schnitt oder wog nicht, diktierte nicht, schaute sich die Überreste nicht einmal an.
Wollte er sie vor mir abschirmen? Vor Slidell? Vor den vielen anderen, die sie befingern und fotografieren, analysieren und sezieren würden?
Komischer Gedanke. Aber wahr. Das kalte Verfahren hatte begonnen. Und ich würde daran teilnehmen.
Röntgenaufnahmen leuchteten vor den Lichtkästen an einer der Wände. Schädelaufnahmen. Und eine Ganzkörperserie.
Auf einer Arbeitsfläche stand ein Paar Stiefel. Hellbraunes Vinyl, mit hohen Absätzen und roten und blauen Blumen an den Flanken. Die Sohlen schlammverklebt. Billig.
Und klein. Vielleicht Größe fünfunddreißig. Winzige Füße in Stiefeln für ein sehr erwachsenes Mädchen.
An einem Trockengestell hingen Kleidungsstücke. Eine rote Bluse. Ein Jeans-Minirock. Weißer Baumwollslip mit hellblauen Punkten.
Slidell stand neben dem Ständer, die Füße gespreizt, die Hände zu einem V über den Genitalien zusammengelegt. Er schaute sich weder die Kleidung noch die Leiche an. Und reagierte nicht auf mein Eintreten.
Wieder spürte ich Verärgerung in mir aufsteigen, unterdrückte sie aber, als ich in den Wissenschaftsmodus schaltete. Die oberste Regel: Vorgefasste Meinungen ausschalten. Kein Verdacht, keine Angst, keine Hoffnung, was das Ergebnis angeht. Beobachte, wiege, messe und zeichne auf.
Zweite Regel: Emotionen ausschalten. Heb dir Trauer, Mitleid und Entrüstung für später auf. Wut und Kummer können zu Irrtümern und Fehlurteilen führen. Fehler helfen deinem Opfer nicht.
Und trotzdem. Ich schaute mir das gequetschte und verzerrte junge Gesicht an, und nur einen Augenblick lang stellte ich mir das Mädchen lebendig vor, wie sie sich ihr pinkfarbenes Kätzchentäschchen über die Schulter hängte. Die Riemchen rutschten, weil das bisschen Zeug darin nichts wog.
Ein dunkler Straßenabschnitt.
Ein hämmerndes Herz.
Scheinwerfer.
Weißer Baumwollslip mit hellblauen Punkten. Die Art, die Katy in der Middleschool bevorzugt hatte.
»Hat Slidell Sie ins Bild gesetzt?«
Larabees Frage holte mich aus meinen Gedanken zurück.
»Unfall mit Fahrerflucht. Noch nicht identifiziert.«
»Schauen Sie mal.« Larabee ging zu den Lichtkästen. Sein Gesicht wirkte hager und abgespannt, und das bei einem obsessiven Langstreckenläufer ohne jegliches Körperfett und mit Wangenhöhlungen so tief wie Ozeangräben.
Ich stellte mich neben ihn. Er zog einen Kugelschreiber aus der Brusttasche seines Labormantels und deutete auf einen Defekt etwa in der Mitte des linken Schlüsselbeins.
Und auf die dritten und vierten Rippen darunter.
Dann trat er vor das nächste Foto und fuhr mit dem Stift den Arm entlang, über Oberarmknochen, Elle und Speiche, dann die Hand.
»Ja«, sagte ich auf seine unausgesprochene Frage.
Zu einer Vorder- und Hinteransicht des Schädels. Einer Seitenansicht.
Eine kalte Faust umklammerte meine Eingeweide.
Wortlos kehrte ich zu der Leiche zurück.
Das Mädchen lag auf dem Rücken. Larabee hatte den Y-Schnitt noch nicht gesetzt, und abgesehen von den Quetschungen, Abschürfungen und Deformationen aufgrund der Brüche hätte das Mädchen auch schlafen können. Die Haare, die sich um ihren Kopf ausbreiteten, waren lang und blond, eine Strähne wurde zusammengehalten von einer Haarspange in Form einer Katze. Pink. Wie kleine Mädchen sie mögen.
Konzentrier dich.
Ich streifte Handschuhe über und untersuchte das verwüstete und gespenstisch blasse Fleisch. Es fühlte sich unter meinen Fingern kalt an. Ich betastete den Arm, die Schulter, die Hand, den Bauch und spürte die darunterliegenden Schädigungen, die auf den Röntgenbildern schwarz und weiß leuchteten.
»Können wir sie bitte umdrehen?« Meine Stimme zerriss die Stille.
Larabee stellte sich neben mich. Gemeinsam drückten wir ihr die dünnen Arme dicht an den Körper und drehten sie an Schultern und Hüften.
Mein Blick wanderte das zarte Rückgrat und den kleinen Hintern entlang. Registrierte die Reifenprofilspuren auf den schmerzhaft dünnen Oberschenkeln.
Die Faust packte fester zu.
»Was ist das?« Ich fuhr mit dem Finger über eine Verfärbung auf der rechten Schulter des Mädchens. Die Quetschung war etwa dreizehn Zentimeter lang und wirkte wie eine Reihe von Spritzern.
»Hämatom«, sagte Larabee.
»Das ist eine strukturierte Verletzung«, sagte ich. »Irgendeine Vorstellung, was sie verursacht haben könnte?«
Larabee schüttelte den Kopf.
Ich schaute Slidell an. Er erwiderte den Blick, sagte aber nichts.
»Kann ich die Tatortfotos sehen?« Während ich die Handschuhe auszog und nicht besonders sanft in den Mülleimer warf.
Larabee holte einen Stapel Aufnahmen von der Arbeitsfläche und gab sie mir. Foto um Foto betrachtete ich die öde Stelle, wo das Mädchen ihre letzten Augenblicke erlebt hatte.
Die Fotos erzählten alle dieselbe Geschichte.
Es war kein Unfall gewesen.
Das Mädchen war ermordet worden.