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Der Anruf stammte von einer Frau, gemurmelte Worte auf Englisch mit starkem Akzent. Hintergrundgeräusche machten das meiste des Gesagten unverständlich.

»… will sagen, aber … Mädchen, das … kein Unfall …«

Die Lautstärke schwankte stark, als würde die Frau immer wieder den Kopf drehen und die Lippen von der Sprechmuschel entfernen. Vielleicht änderte sich aber einfach nur die Signalstärke.

Die Stimme kam mir irgendwie bekannt vor. Oder vielleicht war es der Tonfall, die Dringlichkeit.

Ping.

War es dieselbe Person, die mich aus der Telefonzelle am Seneca Square angerufen hatte?

Ich hielt den Atem an, damit mir kein Wort, keine Nuance entging.

»… Passion Fruit … Laden … gehen … nicht richtig …«

Im Hintergrund hörte ich Geschrei. Rief da jemand nach der Frau? Oder bedrohte sie?

Wieder und wieder hörte ich mir die Nachricht an, mein Stift schreibbereit über Papier schwebend. Doch ich notierte mir so gut wie nichts.

Ich erhalte Hunderte von Anrufen, höre Unmengen von Nachrichten ab, manche nützlich, andere Unsinn und wieder andere das traurige Gefasel von Hinterbliebenen. Im Lauf der Jahre habe ich einen Instinkt dafür entwickelt, welche Nachrichten ich ernst nehmen muss. Dieser Anruf gehörte dazu.

Ich überprüfte die Verbindungsdaten. Der Anruf war am vergangenen Freitag in der Zentrale eingegangen, einen Tag nach Stallings Artikel im Observer.

Ich betrachtete die wenigen Worte, die ich hingekritzelt hatte. Mein Bauch sagte mir, dass mit Passion Fruit nicht die exotische Frucht gemeint war.

Ich gab den Namen bei Google ein. Volltreffer. Der Passion Fruit Club lag an der Griffith, in einer Gegend, in der man sich vorwiegend um die Bedürfnisse männlicher Gäste kümmerte.

Ich griff zum Hörer und rief Mrs. Flowers an.

»Ja, Dr. Brennan.«

»Ich habe am letzten Freitag um 13:31 einen Anruf erhalten. Er wurde an meine Mailbox weitergeleitet. Können Sie in den Verbindungsdaten nachsehen, ob die Nummer aufgezeichnet wurde?«

Nach ein paar Sekunden las Mrs. Flowers mir eine Ziffernfolge vor, die mit 704, der lokalen Vorwahl, begann. Ich gab die Nummer in ein Online-Telefonverzeichnis ein, bekam aber nichts. Keinen Namen, keine Adresse.

Ich wählte eben Slidells Nummer, als der Mann persönlich in meiner Tür erschien.

»Hallo, Doc.« Er ließ sich geräuschvoll auf den Stuhl vor meinem Schreibtisch fallen, streckte die Beine aus und verschränkte sie.

»Detective?«

»Wie geht’s?«

»Haben Sie meine Nachrichten erhalten?« Kurz angebunden.

Slidell streckte die Hand aus, schnappte sich die Sicherheitsnadel von meiner Schreibunterlage und fing an, sich den Daumennagel zu säubern. Das Schaben zerrte an meinen Nerven wie das Sirren eines Moskitos in der Nacht.

»Sind aber nicht mit einer dieser fiesen Wüsten-Wolfsspinnen aneinandergeraten, oder?«

»Wie bitte?«

»Groß wie Golfbälle.« Slidell hörte auf zu schaben und spreizte die Finger. »Mit gestreckten Beinen sind sie so groß wie flache Teller. Und diese Scheißdinger können springen. Ein Typ hat mir erzählt –«

»Können wir über meinen Fahrerfluchtfall sprechen?«

»Steht ganz oben auf meiner Liste.«

»Tatsächlich?«

»Hab unsere Vermisste gefunden.« Er schabte wieder.

»Cheryl Connelly.«

»Mh-hm. Auto kam von der West Arrowood ab und landete in einem Tümpel im Moody Lake Office Park. Das Wasser hat kaum das Dach bedeckt.«

»Es tut mir leid, das zu hören.« Das tat es wirklich. Allerdings war ich auch froh darüber, dass Slidell jetzt die Zeit hatte, sich auf meine Unbekannte zu konzentrieren. »Haben Sie meine Nachrichten erhalten?«

»Nach meiner Zählung zweiundsiebzig.«

»Die DNS-Berichte haben Sie bekommen?«

»Die vielen Liebhaber unserer Hispanogöre.«

»Diese Bemerkung ist beleidigend und spekulativ.«

Slidell hob beschwichtigend die Handflächen. »Ich meine ja nur.«

Ich bückte mich, um meinen Knöchel zu reiben, der aus irgendeinem Grund wieder zu schmerzen angefangen hatte.

»Haben Sie sich da drüben am Fuß was getan?«

»Ich bin okay. Was wissen Sie über Creach und Majerick?«

Slidell zog zwei Ausdrucke aus der Innentasche seines Sakkos und warf sie mir auf den Schreibtisch. Dann ließ er sich zurücksinken und beschäftigte sich wieder mit seinem Daumen.

Ich faltete die Blätter auf und legte sie nebeneinander.

Zwei Gesichter starrten mich an. Verbrecherfotos in Schwarz-Weiß.

CC Creach hatte dicht beieinanderstehende Augen über einer Nase, die mehr als einen Schlag abbekommen hatte. Seine Lippen waren wulstig und leicht geöffnet. Ein heller Hautfleck reichte von der rechten Schläfe bis zur Wange, ein blasser Fußabdruck in einem ansonsten dunklen, aknenarbigen Gesicht. Laut Beschreibung war Creach Afroamerikaner, eins achtundachtzig groß und sechsundachtzig Kilogramm schwer.

Ray Earl Majerick starrte blasiert und selbstbewusst direkt in die Kamera. Mit seinen lockigen Haaren, dem kantigen Kinn und der geraden Nase wirkte er auf durchschnittliche Art attraktiv. Aber in seinen hellen Augen lag eine Kälte, eine Verschlagenheit, die durch sein schiefes Grinsen nicht abgemildert wurde. Laut Beschreibung war Majerick weiß, eins achtundsiebzig groß und achtzig Kilogramm schwer.

»Sie kennen sie?«

»Ich kenne den Typ.«

»Und das heißt?«

Slidell beugte sich vor und deutete mit dem Daumen auf Creach. Er blutete.

»So wie ein Rattenfänger seine Ratten kennt. Dieser Kerl da, CJ –«

»CC

»CC, CJ, PJ, BJ, ist doch scheißegal. Creach ist ein ganz gewöhnlicher Kleindealer. Wenn der Trottel zwei funktionierende Hirnzellen hat, was ich bezweifle, dann schafft er es nicht, sie so aneinanderzureiben, dass ein vernünftiger Gedanke herauskommt. Aber er hält sich für clever, und das macht es einfacher, ihn zu schnappen.«

»Haben Sie mit seiner Bewährungshelferin gesprochen?«

»Auch nicht gerade die Allerhellste. Die Adresse, die sie bezüglich Creach hatte, ist eine billige Absteige am Freedom Drive. Sie hat ihn seit mehreren Monaten nicht gesehen.«

»Creach ist auf Bewährung draußen. Muss er sich da nicht regelmäßig melden?«

Slidell zuckte die Achseln.

»Und sie hat keine unangekündigten Hausbesuche gemacht?«

»Die Dame hat behauptet, sie wäre total überlastet.«

O Mann.

»Und der andere?«

»Ray ›Magic‹ Majerick. Den kenne ich persönlich. Paranoid und fies wie eine Schlange, was eine ziemlich gefährliche Mischung ergibt.«

»Wie ist seine Geschichte?«

»Sieht sich selber als Frauenheld.« Er hörte kurz mit der Maniküre auf, fing aber sofort wieder an. »Ein echt charmantes Bürschchen, so wie Charlie Manson oder Al Bundy.«

»Ted.«

»Was?«

»Unwichtig. Fahren Sie fort.«

»Majericks Akte ist so dick wie ein Telefonbuch. Fängt harmlos an, wird aber dann ziemlich schnell richtig übel. Körperverletzung, Angriff mit einer tödlichen Waffe, Einbruch.«

Slidell hielt inne, um Blut vom Daumen zu saugen.

»Können Sie bitte damit aufhören?«

Slidell verdrehte die Augen, legte aber die Sicherheitsnadel auf meinen Schreibtisch zurück.

»Vor ein paar Jahren schlitzt er das Fliegengitter vor einer Glasschiebetür auf und dringt in ein Wohnhaus in Beverly Woods ein. Die Bewohnerin ist alleine zu Hause, hat aber Glück und schafft es, einen Alarm auszulösen. Als wir auftauchen, hat Majerick sie, an Händen und Füßen gefesselt, in den Keller gesperrt. In einer Sporttasche finden wir ein Seil, eine Zange und genug Messer für eine Zirkusnummer.«

»Klingt nach Folterwerkzeug.«

»Ja. Der alte Magic hatte eine fiese kleine Party vor.«

»Warum ist er nicht im Gefängnis?«

»Sein Anzugträger hat dafür gesorgt, dass er mit einem Urteil auf einfachen Einbruch davonkam.«

»Soll das ein Witz sein?«

»Das Arschloch hat argumentiert, auf der Straße hätte es geheißen, im Haus wär ein Safe mit Bargeld, und die Sachen in Majericks Tasche als normales Einbruchswerkzeug ausgegeben. Wie sich zeigte, gab es im Schlafzimmerschrank tatsächlich einen Safe. Die Jury kaufte ihm die Geschichte ab. Majerick saß fünf Jahre ab und kam dann wieder frei.«

»Ich vermute, Sie suchen nach den beiden.« Ich deutete auf die Ausdrucke.

»Ich habe die Fahndung rausgegeben, kaum dass ich die Berichte auf dem Schreibtisch hatte. Habe mich bei den Kollegen vor Ort umgehört, mit den Nachbarn gesprochen. Creach hat zwei Schwestern, aber die wussten nichts. Oder wollten nichts sagen. Bei Majerick konnte ich überhaupt niemanden finden, der auch nur zugab, ihn zu kennen. Diese Drecksäcke wechseln die Adressen wahrscheinlich öfter als ich die Unterhose.«

Ich weigerte mich, mir das bildlich vorzustellen.

»Also sind Creach und Majerick flüchtig.«

»Ja.« Slidell hob den Daumen zum Mund. Sah mein Gesicht. Ließ die Hand wieder in den Schoß sinken. »Aber nicht lange.«

»Kann sein, dass wir noch eine andere Spur haben.«

Ich schaltete mein Telefon auf Lautsprecher und spielte die Nachricht der Frau ab. Während Slidell zuhörte, nahm ich ein Papiertuch und wischte die zweifach zweckentfremdete Sicherheitsnadel in den Abfalleimer.

Am Ende der Nachricht schaute Slidell mich mit hochgezogener Braue an.

»Ich glaube, das ist dieselbe Frau, die schon einmal angerufen hat.«

»Glauben Sie, sie ist ernst zu nehmen?«

»Ja.«

Slidell drehte den Zeigefinger im Kreis, um anzudeuten, dass ich die Nachricht noch einmal abspielen sollte.

Danach sagte er: »Klingt, als hätte sie eine Scheißangst.«

»Ja. Können Sie die Nummer zurückverfolgen?« Ich schob ihm den Zettel mit der Ziffernfolge hin, die ich mir notiert hatte.

Slidell schaute den Zettel kurz an, zog sein Handy vom Gürtel und drückte ein paar Knöpfe. Eine Stimme antwortete. Slidell verlangte eine Nebenstelle. Wartete. Dann meldete sich eine andere Stimme.

»Slidell hier. Ich brauche eine Anruf-Rückverfolgung. Nein. Ich hatte auf das nächste Thanksgiving gehofft.«

Die Stimme gab eine entschieden knappe Antwort.

»Ja? Ich sorge dafür, dass Sie einen Orden bekommen.«

»Trottel«, formte Slidell mit den Lippen in meine Richtung. Ich hatte Mitleid mit der Person am anderen Ende der Leitung.

Eine ganze Minute verging, bis die Stimme sich wieder meldete.

Slidell machte Schreibbewegungen in die Luft. Ich gab ihm einen Stift. Er klemmte sich das Handy zwischen Schulter und Wange und schrieb.

»Mix-coat-all?«

Die Stimme erwiderte etwas.

»Buchstabieren Sie das.«

Die Stimme tat es.

»Sie haben was gut bei mir.«

Die Stimme war bereits verstummt.

»Der Anruf kam aus einem mexikanischen Lokal an der Old Pineville Road. Taquería Mixed Coat All.«

»Heilige Scheiße.«

»Ay, caramba.«

Ich war so aufgeregt, dass ich gar nicht daran dachte, sein Spanisch zu korrigieren. Old Pineville. Dort war meine Unbekannte gestorben.

Ich holte meine Handtasche aus der Schublade und sprang auf.

»Lust auf einen Taco, Detective?«

»Sí, Señorita.«