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»United States Immigration and Customs Enforcement. Wohin darf ich Ihren Anruf weiterleiten?«
Ich fragte nach Luther Dew, den Beamten, der den Fall der mumifizierten Hunde bearbeitete.
ICE bietet Anrufern in der Warteschleife keine Musik an. Gelangweilt und erregt, wie ich war, fing ich in Gedanken an, »Welche Songs würden passen?« zu spielen. Ricky Nelsons Travlin’ Man? Neil Diamonds Coming to America? Merle Haggards Movin’ on?
Eine Automatenstimme unterbrach das Spiel.
»Special Agent Dew kann Ihren Anruf im Augenblick nicht entgegennehmen. Bitte hinterlassen Sie eine Nachricht nach dem Piepton.«
Ich hinterließ eine Nachricht.
Schaute auf die Uhr. Es war schon fast halb sechs. Um eine travelin’ woman, eine reisende Frau, zu sein, brauchte ich mein Auto.
Ich öffnete noch einmal die Akte und starrte das Foto des ausgewickelten Hundes an. Wie nannte man die Rasse? Chiribayische Schäferhunde? Für mich sah er aus wie ein schlafender Spaniel.
Mein Blick wanderte zum Telefon, als könnte ich es zum Klingeln zwingen.
Was es nicht tat. Natürlich nicht.
Meine Gedanken kehrten wieder zu der Unbekannten zurück, die Larabees Tisch vermutlich eben verlassen hatte.
Hatte ich etwas übersehen?
Bevor ich darüber nachdenken konnte, kreischte der Festnetzanschluss seinen Feierabend-Klingelton.
»Dr. Brennan?«
»Am Apparat.«
»Hier Luther Dew. Sie erwarten meinen Rückruf.« Die Stimme klang hoch und etwas weibisch. Ich stellte mir Truman Capote mit Fliege und Fedora-Hut vor.
»Vielen Dank, dass Sie mich so schnell zurückrufen.«
Unverbindliches Schweigen.
»Ich gehöre zum Büro des Medical Examiner.«
»Ja. Ich habe eben diese Nummer gewählt.«
»Ich bearbeite die peruanischen Bündel.«
»Sie sind die Anthropologin?«
»Ja.« So kurz angebunden wie Dew konnte ich auch sein. »Ich habe mich gefragt, ob ich vielleicht ein bisschen Hintergrundwissen zu dem Fall bekommen könnte. Über Dominick Rockett, den Importeur.«
Dew ließ ein leicht gereiztes Zungenschnalzen hören.
»Sir?«
»Importeure sind legal und halten sich an die amerikanischen Zollvorschriften. Ihre Papiere sind in Ordnung. Sie führen nur ein, was erlaubt ist. Nichts davon trifft in Bezug auf diese Artefakte auf Mr. Rockett zu.«
Auf diese Artefakte?
»Hatte Ihre Behörde schon des Öfteren mit Rockett zu tun?«
»Das darf ich Ihnen nicht sagen.«
Na schön.
Aber ich hatte Dew nicht angerufen, um über Schmuggel zu reden. Seine peruanischen Hunde sah ich lediglich als Türöffner, als Mittel, ihm zu entlocken, was ich wirklich von ihm wissen wollte.
»Können Sie mir über Rockett irgendetwas sagen?«
»Details einer laufenden Ermittlung darf ich nicht preisgeben.«
Und mir ist Dominick Rockett scheißegal.
»Das verstehe ich, Sir. Aber mumifizierte Hunde sind für unser Institut etwas Ungewöhnliches. Ich nehme an, Sie haben sich den angesehen, der halb ausgewickelt war.«
Wieder unverbindliches Schweigen. Aber sein tiefes Einatmen deutete darauf hin, dass er sich erweichen lassen könnte.
»Wenn diese Töle die Augen öffnen und nach Chappi betteln würde, würde mich das nicht überraschen.« Ich kicherte einnehmend. »So gut ist er erhalten.«
»Tatsächlich.«
»Diese Hunde müssen ja ein ziemlicher Fang für Ihre Abteilung gewesen sein.«
»Sie würden nicht glauben, was wir alles konfiszieren.« Hatte der Schnösel wirklich die Nase hochgezogen?
»Ich bin sicher, es ist eine beeindruckende Sammlung.«
»Nehmen Sie Rhinozeroshörner. Traditionell zermahlten die Schmuggler sie und versteckten das Pulver in Statuen oder anderen hohlen Objekten. Inzwischen importieren sie ganze Köpfe und deklarieren sie als legale Antiquitäten. Sie sägen die Hörner ab, ersetzen sie durch solche aus Kunststoff und glauben, sie sind im Geschäft. Was glauben die eigentlich, wie blöd wir sind?«
»Die peruanischen Hunde kamen über den Charlotte Douglas Airport herein, nicht?«
»Der Schmuggel beschränkt sich nicht auf die Großstädte.« Dew taute ein wenig auf, verriet allerdings nur, was allgemein bekannt war. Ich kannte den Trick. Hatte ihn selbst schon benutzt. »Haben Sie von den Tyrannosaurusknochen gelesen, die oben im Norden abgefangen wurden?«
»Sir?«
»Ein halbes Skelett aus der Wüste Gobi. Die Trottel haben sie auf zwei verschiedenen Importdokumenten registriert. Als würden wir das nicht nachprüfen.« Ja. Dew zog wirklich angewidert die Nase hoch. »Haben sie als Reptilienköpfe, kaputte fossile Knochen und ein paar Eidechsen deklariert.«
»Was hat sie verraten?« Ich nahm einen Kugelschreiber zur Hand und klickte ihn auf der Schreibunterlage auf und ab.
»Die Materialien waren stark unterbewertet. Aber die Warnlampe sprang beim Herkunftsland an.«
»Welches war das?«
»England.«
»Tyrannosaurus an der Themse?«
»Ja. Die Mongolen haben sehr gelacht.« Ohne auch nur die Andeutung eines Lachens.
»Gute Arbeit.«
»Die Amerikaner wissen gar nicht recht zu schätzen, was das ICE für die internationalen Beziehungen tut.«
»Ich bin mir sicher, die peruanische Regierung ist begeistert, dass Sie ihre Artefakte sichergestellt haben.«
»Das bringt uns zu einer guten Frage. Ihr Chefarchäologe will die Exemplare so schnell wie möglich zurückhaben. Und er hofft sehr, dass Ihre Untersuchung so wenig invasiv wie möglich ausfallen wird.«
»Natürlich. Ich hoffe, ich sehe alles Nötige auf den Röntgenaufnahmen.«
Eine lange Pause folgte. Dann: »Ich schätze, einige Fakten kann ich Ihnen mitteilen, da Sie ja mit dem Fall zu tun haben. Die Mumienbündel kamen als Teil einer Lieferung von Keramiken an. Anscheinend dachte Mr. Rockett, wir könnten Knochen nicht von Töpfen unterscheiden.«
»Wirkt ziemlich amateurhaft. Ist Rockett schon lange im Importgeschäft?«
»Seit Anfang der Neunziger.«
»In der ganzen Zeit wurde er nie mit illegaler Ware erwischt?«
»Mr. Rockett war entweder ehrlich, vorsichtig, oder er hatte unwahrscheinlich viel Glück. Aber diesmal hat den Herrn sein Glück verlassen. Die Bündel tauchten bei einer Stichprobe auf.«
»Was ist seine Erklärung?«
»Er sagt, er hätte sie von einem Farmer gekauft, dem das Land gehört, auf dem sein Sohn sie ausgegraben hatte.«
»Wenn er ein erfolgreicher Importeur ist, warum geht er dann das Risiko des Antiquitätenschmuggels ein?«
»Er behauptet, er hätte keine Ahnung gehabt, dass sie alt sind.«
Dew machte ein Geräusch, das man macht, wenn man mit Lippen oder Zähnen denkt. Überlegte er sich, wie viel er mir noch sagen konnte?
»Sind Sie vertraut mit Mr. Rocketts Hintergrund?«
»Ich weiß nur, dass er einheimisches Kunsthandwerk aus Südamerika sammelt und verkauft.«
»Haben Sie ihn kennengelernt, Dr. Brennan?«
»Nein.«
»Ihn gesehen?«
»Nein.« Was sollte das?
»Mr. Rockett ist Desert-Storm-Veteran. 1990.«
»Der erste Golfkrieg.«
»Die ganze Geschichte kenne ich nicht. Vielleicht eine Scud-Rakete, vielleicht brennendes Öl. Jedenfalls hat Rockett ernste Brandverletzungen davongetragen, sein Gesicht ist stark vernarbt.«
Ich sagte nichts.
»Der Krieg ist grausam, Dr. Brennan. Mr. Rockett kehrte in ein Land zurück, in dem er wegen seiner Entstellungen nirgendwo mehr Arbeit bekam. Das glaubt er zumindest.«
Ich hörte weiter einfach zu.
»Er fand also keine Arbeit. Er war frustriert. Dann erinnerte Mr. Rockett sich an die Suks des Mittleren Ostens, die Waren, die man dort für so gut wie nichts bekam. Schmuck. Kleidung. Haushaltswaren. Er legte sich einen Plan zurecht. In Übersee einkaufen, in den Staaten fürs Zehnfache verkaufen. Plunder für die Ahnungslosen.«
»Bekommt Mr. Rockett denn keine Militär- und Versehrtenrente?«
»Natürlich. Aber sein Importgeschäft bringt ihm einen hübschen Zuschuss.«
»Aber die Mumienbündel kamen aus Peru.«
»Irgendwann verlegte Mr. Rockett sein Augenmerk auf Südamerika.«
»Warum?«
»Geografische Nähe? Leichtere Durchführbarkeit? Persönliche Sicherheit?« Ich hörte Stoff rascheln, vielleicht makellos bekleidete Schultern beim Achselzucken. »Das kann ich wirklich nicht beurteilen.«
»Amerikaner sind heutzutage im Nahen Osten nicht mehr sehr beliebt.«
»Aufstände, Revolutionen, Bürgerkriege, Entführungen. Politische Instabilität hat immer negative Auswirkungen auf geschäftliche Unternehmungen. Vielleicht hat der Aufruhr im Nahen Osten Südamerika attraktiver gemacht.«
»Darf ich Sie was fragen?« Beiläufig, als wäre mir dieser Gedanke eben erst gekommen. »Ich habe hier ein Mädchen, vierzehn bis fünfzehn Jahre alt, möglicherweise Latina, möglicherweise illegal. Sie wurde gestern Nacht bei einem Unfall mit Fahrerflucht auf der Old Pineville Road getötet. Wir haben Schwierigkeiten, sie zu identifizieren.«
»Reden Sie weiter.«
»Sie hatte eine pinkfarbene Kätzchentasche und eine ebensolche Haarspange und trug einen kurzen Jeansrock, eine rote Bluse und bestickte Stiefel.«
»Klingt wie irgendein Teenager. Wie kommen Sie darauf, dass sie illegal sein könnte?«
»Sie hatte in ihrer Handtasche einen Zettel über Englischkurse an einer örtlichen katholischen Kirche. Die Notiz war auf Spanisch, und diese Pfarrei hält auch Messen in Spanisch ab. Das und die Tatsache, dass sie keinerlei Ausweise und keine Schlüssel hatte, bringt den Chefermittler zu der Vermutung, dass sie Latina sein könnte.«
»Tut mir leid, aber ich beschäftige mich mit Artefakten, nicht mit Menschen. Meine Spezialgebiete sind die illegale Einfuhr und Verbreitung kulturellen Eigentums und der illegale Handel mit Kunstwerken. Außerdem wäre, wenn der illegale Status des Mädchens nicht eindeutig festgestellt ist, das ICE gar nicht zuständig.«
»Haben Sie einen Kollegen, den ich fragen könnte?«
»Ich würde Ihnen helfen, wenn ich könnte. Aber solange Sie nicht wissen, ob Ihr Opfer wirklich illegal … Und auch dann …« Dew klang abgelenkt. »Es ist ja nicht so, dass wir eine Liste mit allen Personen haben, die das Land illegal betreten. Eher im Gegenteil. Tut mir leid.«
»Natürlich.«
»Wann können Sie Ihre Untersuchung der Mumienbündel abgeschlossen haben?«
»Bald.«
»Bitte halten Sie mich auf dem Laufenden.«
»Das werde ich tun. Und vielen Dank für Ihre Zeit, Special Agent Dew.«
Meine Finger zögerten über dem aufgelegten Hörer.
Und meine Nerven vibrierten vor Frustration.
Dew war eine Sackgasse. Slidell hatte sich auf eine Theorie versteift.
Zeit für den Feierabend. Nach einem so lausigen Tag.
Wieder dieser nagende Gedanke. Hatte ich etwas übersehen?
Ohne eine bewusste Entscheidung zu treffen, ging ich zum Kühlraum. In der Stille quietschten meine Gummisohlen leise. Kalte Luft drang heraus, als ich die schwere Stahltür öffnete, und hüllte mich mit dem Geruch gefrorenen Fleisches ein. Ich schaltete das Licht an.
Sechs Rollbahren standen an den Wänden, drei davon mit gefüllten Leichensäcken. Ich schaute auf die Etiketten, bis ich das mit der Beschriftung MCME 580-13. Unbekannt gefunden hatte.
Ich war froh, dass kein Verwandter diese kalte Gruft je sah. Keine Mutter sah je ihr Kind steif von der Kälte. Kein Ehemann sah je seine Frau mit Ziffern und Buchstaben beschriftet.
Ich schluckte. Zog den Reißverschluss von MCME 580-13 halb auf.
Die Haare des Mädchens lagen auf seiner Stirn wie Algen, gelblich und verknäuelt. Das passte irgendwie nicht zu ihrer olivfarbenen Haut und den dunklen Wimpern und Brauen. Ich schaute mir die Haarwurzeln genauer an. Und bemerkte einen halben Zentimeter Schwarz an ihrer Kopfhaut.
Die Haare des Mädchens waren gebleicht. Könnte Slidell recht haben?
Aus einem Reflex heraus wischte ich dem Mädchen lose Strähnen aus dem Gesicht. Die pinkfarbene Haarspange löste sich und fiel seitlich am Kopf herunter.
Ein Bild blitzte auf. Katy, blonde Zöpfe, Plastikspangen, die die widerspenstigen Locken zusammenhielten.
Ich hob den einzigen Besitz des Mädchens auf und steckte ihn ihr wieder an den Kopf. Meine Hand zögerte wie eben noch über dem Telefon.
»Ich gebe dir ein Versprechen.« In dem kleinen, eisigen Raum klang meine Stimme spröde. »Ich werde deine Familie finden. Ich werde dich nach Hause schicken.«
Ich griff nach dem iPhone in der Tasche, weil ich ein Foto des Kopfes machen wollte.
Die Tasche war leer.
Mein Handy war in meiner Handtasche.
In meinem Wagen.
Auf dem Parkdeck des Gerichtsgebäudes.
In dem Wagen, den ich nicht holen konnte, weil ich keine Mitfahrgelegenheit hatte.
In dem Wagen, den ich nicht fahren konnte, weil ich keinen Schlüssel hatte.
Fluchend holte ich mir die Polaroidkamera. Nachdem ich das Foto geschossen hatte, betrachtete ich noch ein paar Sekunden still ihre Gesichtszüge und zog dann den Reißverschluss wieder zu.
Zurück in meinem Büro, scannte ich das Foto ein und schickte es in einer E-Mail an mich selbst. Dann wühlte ich in meinen Schreibtischschubladen auf der Suche nach einem Erdnussbuttercracker oder einem alten Müsliriegel. Mein Mittagessen im Gerichtsgebäude war ein Snickers gewesen.
Meine Suche nach Essbarem erbrachte nichts.
Klasse. So würde ich hungrig und mit leeren Händen in mein Haus zurückkehren. Zu einem pikierten Kater. Und einem leeren Kühlschrank.
Ich suchte eben im Internet nach Schlüsselnotdiensten und Taxiunternehmen, als mein Telefon noch einmal klingelte. Der Anruf änderte meine Pläne.