13
Als ich aufwachte, prasselte Regen gegen mein Fenster. Und ich hatte das Gefühl, verschlafen zu haben.
Ja. Mein Wecker zeigte 8:42.
Die Augen noch halb geschlossen, schnappte ich mir mein iPhone und überflog die nächtlichen Mails.
Nichts von Katy.
Ich rechnete nach. In Bagram war es mitten am Nachmittag. Sie hatte sicher zu tun.
Obwohl ich wusste, dass ich warten sollte, schickte ich eine Mail.
»Bitte melde dich. Mom.«
Nichts von Ryan.
Meine Schwester Harry hatte gleich vier geschickt, die erste war um 2:42 eingetroffen. Die anderen folgten in Fünf-Minuten-Intervallen.
Ich überflog sie alle, um ein Gefühl für die neue Krise zu bekommen.
Wenn ich mich amüsieren will, besuche ich manchmal die Website First World Problems. Der Inhalt ist Harrys Leben in einem Mikrokosmos. Die Ängste der Harriet Brennan Howard Dawood Crone. Obwohl ich glaube, dass sie Crone wieder abgelegt hat, als sie sich von Ehemann Nummer drei scheiden ließ. Oder war das Nummer zwei?
Neue Bekannte sind oft schockiert, wenn sie erfahren, dass Harry und ich Geschwister sind. Doch trotz unserer Unterschiede, die enorm sind, haben meine Schwester und ich einen grundlegenden Wesenszug gemeinsam. Sie treibt dieselbe bulldoggenähnliche Beharrlichkeit an, die mich durchs Studium brachte und seit Jahrzehnten durch einen anstrengenden und oft belastenden Beruf bringt.
Was uns unterscheidet, ist der Fokus unserer Leidenschaft. Für mich ist es die Suche nach Wahrheit, Anerkennung und Gerechtigkeit für die Toten.
Für Harry ist es Shoppen. Schuhe. Sonnenbrillen. Häuser. Ehemänner. Allerdings glaube ich, dass tief in ihrem Inneren das Erworbene an sich meiner Schwester völlig schnuppe ist. Wichtig ist allein die Jagd.
Seit Jahren überlege ich mir, warum Harry so ist, wie sie ist. Warum ich so bin, wie ich bin. Auch wenn das wie ein Klischee klingt, glaube ich inzwischen, dass unsere Mutter einen großen Teil der Schuld trägt.
Im Rückblick wurde mir klar, dass Mama wohl auf einem Pendel ritt, das sie nicht kontrollieren konnte, einem, das sie zwischen wilder Euphorie und schwärzester Depression hin und her trieb. In Zeiten der Hochstimmung genoss sie es, die neueste Mode zu tragen, und das Sehen und Gesehen-Werden auf den besten Partys, in Konzerten und in Restaurants. Wenn es dann bergab ging, kamen die Tränen, der Rückzug, die geschlossene Schlafzimmertür. Wenn Mama alles erreicht hatte, was sie wollte, war ihr alles andere egal.
Als Kind haben mich die Stimmungsschwankungen meiner Mutter verwirrt. Als Erwachsene verstehe ich sie noch immer nicht ganz.
Und ich mache mir Sorgen, dass auch meine Schwester die Dämonen meiner Mutter in sich trägt. Jedenfalls gibt es Hinweise darauf.
Persönliche Probleme habe ich mit Harry noch nie besprochen. Der Kampf mit der Flasche. Eine kaputte Ehe. Eine Tochter, die sich freiwillig für den Kampfeinsatz gemeldet hatte, ohne mit mir darüber zu sprechen. Eine Fernbeziehung mit einem Mann, der telefonisch nicht zu erreichen war. Bei meiner Vorgeschichte war ich kaum in der Position, anderen gute Ratschläge zu erteilen.
Trotzdem hörte ich mir ihre Nachrichten an. Aber heute Morgen würde Harry warten müssen.
Falsch. Das Telefon klingelte, als ich an der Hintertür war.
»Wie sind die Stilettos, die wir dir besorgt haben?«
»Ich hatte sie vor Gericht an.« Und sie dann weggeworfen.
»Schätze, den Geschworenen sind die Augen rausgefallen.«
»Hm. Hör zu, Harry. Ich muss in die Arbeit –«
Doch meine kleine Schwester ließ sich nicht abwimmeln. Stattdessen setzte sie zu einer Geschichte über eine defekte Schwimmbeckenpumpe, Algen und nicht lieferbare Ersatzteile an, bevor sie sich ohne nennenswerte Atempause über einen Kerl namens Thorn ausließ.
»Ich dachte, du triffst dich mit einem Astronauten. Orange Curtain.« Als ich den Namen zum ersten Mal sah, hielt ich ihn für einen Tippfehler. »Oder einen Kerl namens Bruce.«
»Orange hatte das Hirn eines Papageis. Moment. Das ist unfair den Vögeln gegenüber.«
Ich klemmte mir das Handy zwischen Schulter und Kopf, trat nach draußen und drehte mich, um die Tür zu schließen. Keine gute Idee. Das Ding rutschte mir weg und fiel die Stufen hinunter.
»– die Ware direkt in meinem Wohnzimmer. Warum sind die Männer nur immer so stolz auf ihre Genitalien?«
»Orange ist also weg vom Fenster.«
»Den bringen auch sieben Karat nicht mehr durch meine Tür.«
»Hast du vor, Tory zu besuchen?«
Die Antwort war Schweigen.
Im letzten Sommer hatte Harry erfahren, dass ihr Sohn Kit inzwischen eine Tochter im Teenageralter hatte, gezeugt mit gerade einmal sechzehn Jahren. Und ich hatte erfahren, dass ich eine Großnichte hatte. Vater und Tochter lebten zusammen in Charleston, South Carolina. Harry war über die Nachricht, dass sie Großmutter war, nicht gerade erfreut gewesen.
»Harry?«
»Weißt du noch, was für ein Spinner Kit in der Highschool war. Wie zum Teufel kann er für eine Vierzehnjährige ein guter Vater sein?«
»Ich glaube, er ist erwachsen geworden. Und Tory ist ein gescheites Mädchen.«
»Das hast du gesagt.«
»Du bist ihre Großmutter.«
»Auch das hast du gesagt.«
Im MCME blinkte mein Telefon wie ein Stroboskop auf Speed.
Ich gab den Code für meine Mailbox ein, weil ich dachte, Slidell hätte angerufen.
Doch es war Capote.
»Dr. Brennan. Könnten wir bitte so schnell wie möglich miteinander sprechen?«
Nach dem Gespräch mit Harry war ich ziemlich optimistisch gestimmt. Gelassen.
Die Ruhe zerplatzte wie eine Seifenblase im Sonnenlicht.
Warum diese negative Reaktion auf Dew? Bundesagenten sind berüchtigt für ihre Verachtung örtlicher Strafverfolgungsbehörden. Doch er hatte mir gegenüber keinerlei Herablassung gezeigt.
Ja, Dew hatte Informationen vorenthalten. Ja, er hatte sich geweigert, mir bei meiner Unbekannten zu helfen. Trotzdem ging ich davon aus, dass er wirklich das Gefühl hatte, seine Pflicht zu erfüllen.
Warum misstraute ich dem Kerl dann?
Argwöhnte ich, dass er mich ausspielen wollte?
Weil ich versucht hatte, ihn auszuspielen?
Ich rief im ICE an, verlangte Dew und wurde von einer müde klingenden Empfangsdame in die Warteschleife gelegt.
Eine ganze Minute später meldete sich Dew.
»Es tut mir sehr leid, dass ich Sie habe warten lassen, Dr. Brennan.«
»Kein Problem. Was gibt’s?«
»S&S Enterprises.«
»Die nicht börsennotierte Firma.«
»Ich hasse verschlossene Türen.«
»Tun wir das nicht alle?«
»Doch diese war nicht so fest verschlossen, wie es die Partner vielleicht gewünscht hätten.«
Ich wartete.
»Das Unternehmen ist eine Holdinggesellschaft für eine Reihe von Immobilien und anderen Holdinggesellschaften. Fast-Food-Restaurants. Gemischtwarenläden. Eine Bar mit dem Namen John-Henry’s Tavern.«
Ich hörte Papier rascheln, dann fuhr Dew mit seiner zimperlichen, hohen Stimme fort.
»S&S gehört zu großen Teilen John-Henry Story und seinem jüngeren Bruder, Archer Story. Minderheitspartner sind unter anderem Harold Milkin, Grover Pharr und Dominick Rockett.«
»Dann war Rockett also einer aus einer Handvoll Spielern mit ziemlich großen Karten.«
»Anscheinend. Ob er sich eingekauft oder sich seine Partnerschaft verdient hatte, bleibt unklar. Klar ist jedoch, dass John-Henry Story vor seinem Tod einige ernsthafte finanzielle Rückschläge hinnehmen musste.«
Ich dachte: Musste das heutzutage nicht jeder? »War S&S in Schwierigkeiten?«, fragte ich.
»Nein. Aber Story wollte weiteres Kapital für eine Expansion einführen, hatte jedoch selbst kein Bargeld zur Verfügung. Zusätzlich gehörten Story eine Pizzakette und vier Autohändlerfilialen, die ihn sehr viel Geld kosteten.«
»In den Carolinas?«
»Die Pizzaläden sind hier. Die Autohändlerfilialen in Texas und Arizona.«
»Wo?«
»Kennen Sie den Saturn?«
»Eine andere Art von Auto.« Ich erinnerte mich noch gut an den früheren Slogan.
»Pontiac brachte die Marke Mitte der Achtziger als Reaktion auf den Erfolg der japanischen Importe in die Staaten auf den Markt. Anfangs waren die Verkaufszahlen gut.«
»Soweit ich weiß, hinkte Saturn bei Forschung und Entwicklung ziemlich hinterher.«
»Das habe ich gelesen. Wie auch immer. Die Verkaufszahlen gingen zurück. 2010 stellte General Motors die Marke ein. Viele Händler erlitten schwere finanzielle Verluste.«
»John-Henry Story war einer von ihnen.«
»Ja. Und die Pizzakette blutet finanziell aus.«
Ich lehnte mich zurück und dachte über Dews Enthüllungen nach.
»Was glauben Sie, wie die Sache gelaufen ist? Story wusste, dass Rockett Geld hatte, also hat er ihn ins Boot geholt, um die Finanzreserven von S&S aufzustocken? Oder Rockett bekam Wind davon, dass S&S Geld brauchte, und hat die Gelegenheit beim Schopf gepackt, um sich billig einzukaufen?«
»In beiden Szenarien bleibt die Frage nach der Quelle von Rocketts Geld.«
»Vielleicht hat Rockett für Story oder einen der anderen Partner gearbeitet und wurde mit Firmenanteilen bezahlt.«
»Vielleicht.«
»Gibt Rockett zu, Story zu kennen?«
»In diese Richtung muss ich ihn erst noch befragen.« Steif wie ein gestärkter Hemdkragen.
»Haben Sie ihn nach seiner Beteiligung an S&S befragt?«
»Ich möchte Mr. Rockett ungern dazu verleiten, sich einen Anwalt zu nehmen. Im Augenblick glaubt er, sein einziges Problem ist eine Geldstrafe, weil er den Wert und die Herkunft einer ins Land importierten Ware nicht richtig angegeben hat.«
»Schlau. Sie greifen ihn erst an, wenn Sie alle Fakten haben.«
Ich hörte ein kurzes Stocken in Dews Atem. »Hier ist noch etwas Interessantes. Je tiefer ich in die Rockett-Ermittlung eintauche, desto häufiger taucht Ihr Name auf.«
»Meine Beschäftigung mit Rocketts mumifizierten Hunden, mit John-Henrys Überresten und mit dem Fahrerfluchtopfer, das Storys Airline-Clubkarte hatte.«
»Genau.«
»Was schließen Sie daraus, Special Agent Dew?«
»Ich würde hoffen, dass Sie sich über diese Frage Gedanken machen.«
»Geht mir auch so.«
»Ich freue mich schon auf Ihren Bericht über die peruanischen Bündel.«
»Steht ganz oben auf meiner Agenda.«
Nach dem Auflegen rief ich Slidell an.
Mailbox.
Ging mir der Mann aus dem Weg? Hob er einfach nicht ab, wenn meine Nummer auf dem Display auftauchte?
Was auch immer.
Ich ging in den Stinker und schloss die Untersuchung der vierten Reihe von Röntgenaufnahmen ab. Alles Hund.
Erleichtert, dass mein erster Eindruck richtig gewesen war, kehrte ich an meinen Schreibtisch zurück.
Kein blinkendes Lämpchen. Keine E-Mail von Katy oder Ryan.
Während ich den Bericht für Dew schrieb, kehrten meine Gedanken immer wieder zu Rockett und Story zurück.
Kannte einer der beiden meine Unbekannte?
Frustriert speicherte und komprimierte ich den ICE-Bericht, öffnete Google und suchte nach Bildern von John-Henry Story. Ich hatte bereits nach dem Brand einige Fotos gesehen, erinnerte mich aber nur noch daran, dass das vermeintliche Opfer unscheinbar klein war.
Nagetier war das erste Wort, das mir in den Sinn kam.
Ein Foto des Observer, aufgenommen vier Monate vor seinem Tod, zeigte einen kurzen, drahtigen Kerl mit schütteren Haaren, hageren Wangen und dunklen Knopfaugen.
Rattus rattus.
Eine andere Aufnahme zeigte Story bei einem Spiel der Panthers. In der nächsten stand er mit einer Kamera in der Hand vor einer Consigliore’s Pizzeria.
Ich überlegte kurz, eine umfassende Recherche über Story zu machen, beschloss aber dann, meinen Hundebericht abzuschließen.
Mittags rief Slidell endlich an.
Ich berichtete ihm, was ich von Dew erfahren hatte.
»Wenn ein Scheißkerl in Scheiße wühlt.«
Das ignorierte ich.
»Das Unfallfluchtopfer hatte Storys Karte in der Handtasche. Rockett war Minderheitspartner in Storys Firma, S&S.«
»Woher hat ein Kleinschmuggler die Kohle für eine solche Investition?«
»Mutmaßlicher Schmuggler. Ich will nur wissen, worin die Verbindung zwischen Story und Rockett besteht. Und ob einer oder beide etwas mit meiner Unbekannten zu tun haben.«
»Sobald ich diese Vermisstensache –«
»Wir müssen John-Henry’s Tavern überprüfen, herausfinden, ob Rockett mit Story dort war. Oder ob einer von beiden mit meiner Unbekannten dort war.«
»Warum bestellt Dew diesen Rockett nicht ein und quetscht ihn aus?«
»Bis auf die Mumienbündel hat er im Augenblick noch nicht viel. Dew ist überzeugt, die Hunde sind nur die Spitze von irgendwas Großem, und er will nicht riskieren, dass Rockett sich einen Anwalt nimmt.«
Im Hintergrund hörte ich ein Telefon klingeln. Stimmen. Ein tiefes Seufzen.
»Ich hab’s Ihnen doch gesagt, Doc. Mein Chef sitzt mir im Nacken wegen dieser –«
»Wollen Sie damit sagen, dass ihm das Mädchen in meinem Kühlraum egal ist?«
»Nein, das will ich damit nicht sagen. Hören Sie, ich habe die Karosseriewerkstätten abgeklappert. Niemand hat ein Fahrzeug gesehen, das zu der von uns geschätzten Stoßstangenhöhe samt Frontschaden passt.«
»Was ist mit St. Vincent de Paul?«
»Niemand in dieser Kirche hat je von diesem Mädchen gehört.«
»Kliniken?«
»Dasselbe.«
»Kleidung? Stiefel?«
Aus der Leitung kam Schweigen.
»Es ist jetzt zwei Tage her, Slidell.« Er kannte die Bedeutung der ersten achtundvierzig Stunden so gut wie ich.
»Ich sehe nicht ganz, was uns ein Besuch in dieser Kneipe bringen soll.«
»So tun wir wenigstens etwas.«
»Mir den Arsch kratzen ist auch was tun.«
»Kennen Sie John-Henry’s Tavern?«
»Ja. Ein echtes Stück vom Paradies.«
»Wir müssen uns den Laden ansehen.«
»Und nach was suchen wir?«
»Was immer da ist.« Slidells Haltung kratzte an meinem Entschluss, höflich zu bleiben.
»Wenn Sie sonst nichts mehr zu sagen haben, lege ich auf.«
»Schon gut«, blaffte ich. »Ich fahre alleine hin.«
»Nein, das tun Sie nicht.«
»Okay, ich tu’s nicht.«
»Verdammt.«
Ganze zehn Sekunden lang hörte ich nur Luft durch Slidells Nase rauschen.
»Geben Sie mir eine halbe Stunde.«