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Unmöglich.

Doch er war es.

Zufall?

Ich glaube nicht an Zufälle.

Aber wie stellte er es an?

Egal.

Ich holte eine braune Mappe aus Wellpappe aus dem Arbeitszimmer, leerte den Inhalt auf den Esszimmertisch und ging jede Seite einzeln durch.

Es dauerte nicht lange.

Wie hatte ich das übersehen können?

Weil mir diese Möglichkeit überhaupt nicht bewusst war?

Weil ich nachlässig gewesen war?

Eine plötzliche Erkenntnis. Noch eine übersehene Möglichkeit?

Ich ging ins Wohnzimmer, zog Candys Foto von der Tafel und schaute es mir noch einmal unter der Lupe an.

Die dunkle Haut. Die blonden Haare mit den dunklen Wurzeln.

Rosalie D’Ostillo hatte die Mädchen auf Spanisch angesprochen, aber keine Antwort erhalten. Weil sie Angst hatten vor ihrem Bewacher? Oder aus einem anderen Grund?

Ich lief nach oben und holte ein Foto von der Schlafzimmerkommode. Setzte mich aufs Bett. Legte das Kommodenfoto neben das Leichenhallenfoto von Candy. Während ich mich bemühte, die Lupe in meiner Hand ruhig zu halten, schaute ich von einem Gesicht zum anderen.

O Mann.

Ich drehte das Kommodenfoto um. Las die handgeschriebene Liste auf der Rückseite.

O Mann, o Mann.

Ich griff zum Telefon und wählte.

Erreichte nur Slidells Mailbox.

»Himmelherrgott!«

Mein Blick flog zum Wecker. 22:40. Slidell war wahrscheinlich in dem Massagesalon in NoDa.

Ich hinterließ eine Nachricht. Rufen Sie mich so schnell wie möglich an. Es ist dringend.

Ich legte auf. Warf das Gerät aufs Bett. Stand auf und ging hin und her.

Jeder hat ein Handy bei sich. Warum ließ Slidell seins nicht eingeschaltet?

22:45.

Mach schon. Mach schon.

Wieder ging ich auf und ab.

Beschäftige dich.

Ich lief hastig die Treppe hinunter und kochte mir frischen Kaffee, obwohl ich wusste, dass Koffein das Letzte war, was ich jetzt brauchte. Um meinem Hirn was zu tun zu geben, kehrte ich zu den Papieren auf dem Esszimmertisch zurück.

Prüfte noch einmal alles nach.

Dachte über die Implikationen nach.

Natürlich. So musste es sein.

23:05.

Wo zum Teufel steckte Slidell?

Ich lief ins Arbeitszimmer. Drückte eine Kurzwahltaste auf dem Schnurlosen.

»Ja.« Pete klang groggy.

»Tempe hier.«

»Ja.« Pete gähnte. »Ich weiß.«

»Du musst mir einen Gefallen tun.«

Im Hintergrund sprach eine Frau, die Stimme ebenfalls schläfrig.

»Bist aber noch spät auf. Feierst du eine Party?«

»Klingt es, als wär hier eine Party im Gange?«, blaffte ich.

»Oje. Schlechten Tag gehabt?«

»Ich habe eine Frage für dich.«

»Schieß los.«

Ich fragte.

»Maria … nein, Marianna. Mariette? Nein, eindeutig Marianna.«

»Wie hieß sie mit Mädchennamen?«

»Ist es so wichtig, dass du es sofort wissen musst?«

»Ja.«

»Einen Augenblick.«

Ich hörte Bettzeug rascheln. Einen quengelnden Protest von Summer. Dann änderten sich die Umgebungsgeräusche, als wäre Pete in ein anderes Zimmer gegangen.

Augenblicke später hatte ich meine Antwort.

»Danke, Pete. Ich muss …«

»Alles okay mit dir? Du klingst merkwürdig.«

»Mir geht’s gut. Ich muss jetzt auflegen. Danke.«

23:10.

Ich legte auf und rief Slidell noch einmal an. Hinterließ dieselbe Nachricht.

Es ergab alles einen Sinn. Einen schrecklichen, unwahrscheinlichen Sinn.

Ich kehrte zur Tafel auf dem Kaminsims zurück. Starrte das Foto aus John-Henry’s Tavern an. Den vom Kamerablitz verdeckten Mann.

»Du widerlicher Scheißkerl«, murmelte ich.

Doch was jetzt? Es ging schon auf Mitternacht zu.

Andere Mädchen waren in Gefahr. Das sagte mir mein Bauch. Wenn sie nicht schon tot waren. Wie Candy.

Nein. Sie waren noch in Charlotte. Da war ich mir sicher.

Eine Million Orte, um Mädchen gefangen zu halten.

Zwei Millionen, um ihre Leichen zu vergraben.

Slidell hatte mit Rockett, mit Tarzec gesprochen. Diese Tiere wussten, dass die Schlinge sich zuzog. Und hatten absolut keinen Respekt vor dem menschlichen Leben.

Falls die Mädchen noch lebten, würden sie den nächsten Tag erleben?

Wo zum Teufel steckte Slidell?

Wo zum Teufel steckte Birdie?

Ich lief nach draußen, um noch einmal nachzuschauen. Noch einmal in die Gegend zu rufen. Kein Kater.

Ich rief mir E-Mails ins Gedächtnis. Citizenjustice. Eine Zunge in einer Schachtel.

Eine eisige Hand umklammerte meine Brust.

Ich rannte wieder ins Haus. Ging im Wohnzimmer auf und ab, wollte unbedingt etwas tun.

Atme.

Atme.

Um nicht durchzudrehen, öffnete ich die leuchtend gelbe Akte auf meinem Schreibtisch im Arbeitszimmer.

Ich fing mit den Tatortfotos an. Eine einsame Straße. Ein Plastikstiefel. Eine armselige, kleine Erhebung unter einer roten Wolldecke.

Ich wandte mich den Autopsiefotos zu. Röntgenaufnahmen, die ein gebrochenes Kinn und eine zerquetschte Hand zeigten. Weiße Baumwollschlüpfer mit hellblauen Punkten. Eine streifenförmig gequetschte Schulter.

Das letzte halbe Dutzend Fotos war mir neu. Larabee oder Hawkins hatte sie aus unterschiedlichen Blickwinkeln aufgenommen. Sie zeigten einen Schädel, bei dem man Gesicht und Haare abgeschält hatte. Ein blutüberzogenes Objekt, geformt wie ein langes, schlankes Dreieck.

Ich starrte den Splitter an, den Larabee aus Candys Schädelschwarte gezogen hatte.

Elfenbein, kein Knochen.

Wie war der in Candys Kopf gelangt?

Ich hatte in Dominick Rocketts Haus einen geschnitzten Stoßzahn gesehen. Ging Elfenbein des Öfteren durch seine Hände?

Ich holte meinen Laptop und googelte »Elfenbeinverwendungen«.

Statuen, Schnitzereien, dekorativer Zierrat, Billardkugeln, Badezimmergriffe, Klaviertasten, Siegelstempel, Steuerungskomponenten für Radar und Flugzeuge.

Nutzlos.

Ich entschied mich für einen anderen Weg.

Wo war Candy gesehen worden? Im Mixcoatl. Im Passion Fruit. Im Yum-Tum. Sie alle drängten sich in einem ziemlich engen Radius nicht weit von der Kreuzung Rountree und Old Pineville entfernt, wo man ihre Leiche gefunden hatte.

Wurden die verschwundenen Mädchen in dieser Gegend festgehalten?

Ich schaltete um auf Google Maps und zoomte mir das Passion Fruit heran. Um ihn herum breitete sich ein Gewirr aus Dächern und leeren Grundstücken aus.

Die Dächer waren von unterschiedlicher Größe und Form, zeigten aber nichts von dem, was unter ihnen lag. Die meisten Grundstücke waren eingezäunt. Einige Zäune endeten in Stacheldraht.

Mit dem Cursor holte ich mir Schilder und Beschriftungen von einigen Häusern heran. Eine Halle mit Einstellabteilen. Ein Lagerhaus. Der Bronco Club.

Es war eine Gegend, wie sie in den meisten Großstädten existierte. Ein Ort, wo Dinge hergestellt, eingelagert oder dem Rost und Verfall überlassen wurden.

Hielten sie die Mädchen irgendwo in diesem Gewirr versteckt?

Frustriert wandte ich mich wieder der Akte zu.

Großmutters Uhr tickte leise, während ich mich durch die Seiten arbeitete.

Zehn Minuten später hörte ich ein leises Geräusch, wie ein Kratzen. Voller Freude lief ich zur Haustür. Doch auf der Schwelle saß keine Katze.

Ich versuchte es an der Küchentür. Auch hier eine leere Schwelle.

Ich war auf der Terrasse und rief Birdies Namen, als Scheinwerfer über die Auffahrt huschten. Sekunden später fuhr ein Streifenwagen vorbei. Der Polizist winkte. Enttäuscht und voller Angst um meine Katze kehrte ich ins Haus zurück.

Das bernsteinfarbene Licht auf meinem Festnetzapparat blinkte.

Verdammt!

Slidells Nachricht war kurz. Der Massagesalon in NoDa war geschlossen und mit Kette und Vorhängeschloss verriegelt. Das war alles. Sonst nichts.

Ich drückte auf Rückruf. Erreichte wieder nur die Mailbox.

Bestürzt und erschöpft zwang ich mich, den letzten Ausdruck in der Akte zu lesen. Einen FBI-Bericht.

Ich überflog das Fachkauderwelsch über Lösungs- und Bindemittel und Pigmente und Additive, als mir etwas einfiel, was Slidell gesagt hatte.

Methyl-dies und Hydrofluor-das.

Hydrofluorkohlenstoffe?

Ich schaute mir die Liste der Komponenten, die man in dem Fleck auf Candys Handtasche gefunden hatte, genauer an.

Difluorethan.

Der Wachhabende in meinem Unterbewusstsein setzte sich auf und zeigte Interesse.

Eine plötzliche Erinnerung. Pete am Telefon in seinem BMW. Summer, die alte Flaschen für die Tischdeko bei der Hochzeit verzierte.

Difluorethan.

In Fahrzeuglacken?

Ich googelte den Begriff. Zog mir das Wichtige heraus und ignorierte die Hintergrundgeräusche.

… Treibmittel nötig … ursprünglich Chlorfluorkohlenstoffe, verboten 1978 … Propan und Butan, in den Achtzigern abgesetzt … seit 2001 Hydrofluorkohlenstoffe wie etwa Difluorethan und Tetrafluorethan …

Mein Puls beschleunigte sich.

Ich schloss die Augen. Sah ein Gebäude. Ein BETRETEN-VERBOTEN-Schild im Regen.

Fakten fügten sich zusammen.

Bilder stürzten auf mich ein.

Ich riss die Augen auf.

Sprang auf. Rannte zum Telefon.

Wieder bekam ich nur Slidells Mailbox.

Mutter Gottes!

»Ich weiß, wohin die geschmuggelten Mädchen gebracht werden. Ich fahre jetzt dorthin.« Ich hinterließ die Adresse und legte auf.

Randvoll mit Adrenalin schnappte ich mir eine Jacke, steckte eine Taschenlampe ein, griff mir die Schlüssel und rannte zum Auto.