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Am Dienstagmorgen wachte ich auf, bevor der Wecker läutete. Frühes Morgenlicht sickerte durch das Fenster und machte aus meinem Zimmer eine Studie in Grauschattierungen. Draußen ließen die ersten Spottdrosseln ihr Trillern hören.
Verschlafene Augen wanderten über den Stuhl, den Tisch, das alte Holzregal mit seinen Souvenirs. Eine Muschelschale aus Maui. Ein silbernes Brautstirnband aus Lettland. Fotorahmen, deren Bilder ich nicht sehen konnte. Egal. Ich kannte jedes wie mein eigenes Gesicht. Katy nach ihrem Collegeabschluss. Ryan und ich in Guatemala. Pete und Boyd am Strand auf der Isle of Palms. Birdie, der sich in der Sonne streckte.
O Gott, es war gut, zu Hause zu sein.
Ich drehte mich um.
Der Wecker zeigte 6:12.
Ich versuchte, wieder einzuschlafen. Unmöglich. Es hätte vielleicht geholfen, wenn Birdie hier gewesen wäre, der sich schnurrend an mich schmiegte.
Um 6:45 gab ich auf. Eine lange, heiße Dusche und ausführliches Haarewaschen spülten den letzten aus Bagram mitgebrachten Dreck weg. Mein Knöchel war noch empfindlich, besserte sich aber deutlich. Die Schwellung war zurückgegangen, die Verfärbungen waren weniger dramatisch.
Unten in der Küche machte ich Kaffee und steckte Brot in den Toaster. Komischerweise hatte ich Milch im Kühlschrank. Und Hüttenkäse, Orangensaft und einen Plastikbehälter mit Lasagne von Pasta and Provisions, frisches Gemüse, Aufschnitt und Käse und einige andere Dinge, die ich nicht eingekauft hatte. Darunter ein Heineken.
Mehr als ein Dutzend Observer waren während meiner Abwesenheit brav ins Haus gebracht worden. Ich nahm mir vor, meinem Nachbarn zu danken, und blätterte einige schnell durch, von den älteren zu den neueren. So bekam ich ein allgemeines Gefühl dafür, was in meiner Abwesenheit passiert war. Nur das Übliche.
In Montana hatte ein Student in einer Schule um sich geschossen und danach behauptet, er sei gequält worden. Vier Tote. Bei einem Paar wurde in der Wohnung ein ganzes Arsenal von Waffen und Sprengstoffen gefunden. Beide waren in Haft. Die National Rifle Association verteidigte das Recht jedes Amerikaners, eine halbautomatische Waffe mit dreißig Schuss Munition bei sich zu führen. Die Videoindustrie behauptete, nicht schuld zu sein am Aufblühen einer Kultur der Gewalt.
Lokal wurde über die Schließung einer Fabrik in Gastonia berichtet, die Hunderte arbeitslos machte. In zwei Middleschools waren Waffen gefunden worden. In einem College gab es Gerüchte über Betrug. Ein Junge aus Mount Holly, der 2004 als vermisst gemeldet worden war, wurde lebend bei seinen Großeltern im nördlichen Michigan aufgefunden. Er war inzwischen vierzehn.
Ich war bei meiner sechsten Zeitung, als mir eine kleine Überschrift ins Auge stach. Im Lokalteil. Drei Spalten. Der Artikel war am vergangenen Sonntag erschienen.
NACH TÖDLICHER FAHRERFLUCHT:
VERDÄCHTIGER GESUCHT
Zu Beginn des Textes wurde die Öffentlichkeit um Mithilfe bei der Identifizierung eines Fahrerfluchtopfers im Teenageralter gebeten. Der Artikel lieferte eine kurze Beschreibung des Mädchens, das Datum und die ungefähre Zeit sowie den Unfallort an der Kreuzung Rountree-Old Pineville. Es hieß, die Behörden suchten nach Zeugen oder Personen mit Hinweisen. Mein Name wurde genannt, Slidells ebenso. Jeder, der das Mädchen kenne oder etwas über den Unfall wisse, wurde dringend gebeten, sich bei der Polizei zu melden.
Ergänzt wurde der Text durch das Foto, das ich in der Kühlhalle aufgenommen hatte. Und durch die Telefonnummer des zuständigen Morddezernats.
Die Verfasserin war Alison Stallings.
In nahm mir vor, auch ihr zu danken. Allerdings hätte ich auch ohne die Erwähnung meiner Person gut leben können. Meinen Namen in der Zeitung zu lesen weckt bei mir nicht gerade Begeisterung. Außer ich wäre das Zehn-Kilometer-Rennen in Charlotte unter einer Stunde gelaufen.
In dieser Ausgabe fand sich auch ein Folgeartikel über den Vermisstenfall, den Slidell gerade bearbeitet hatte, als ich nach Afghanistan geflogen war. Fotos der Frau, Cheryl Connelly, und ihrer Kinder, Informationen über ihre Aufenthaltsorte vor dem Verschwinden sowie die Andeutung, dass die Frau geistig verwirrt sein könnte.
Das hieß, vor zwei Tagen war Connellys Aufenthaltsort noch immer unbekannt. Wenn sie nicht am Montag plötzlich aufgetaucht oder gefunden worden war, würde Slidell immer noch abgelenkt sein.
Ich brachte die Zeitungen in die Recyclingtonne. Unten in der Tonne lagen zwei leere Heineken-Flaschen.
Hm.
Ich ging ins Arbeitszimmer. Auf meinem Schreibtisch stand ein Laptop. Das Kabel steckte in einer meiner Wanddosen. Ein Dell, mindestens zehn Jahre alt.
Pete und ich haben gegensätzliche Ansichten, was Autos und Computer angeht. Ich sehe Erstere als Transportmittel, Letztere als raffinierten Zugang zum Wissen der Welt. Mein Mazda ist zu alt, um noch Wiederverkaufswert zu haben. Mein Mac ist schnell und neu und wird ersetzt, sobald ein verbessertes Modell auf den Markt kommt.
Für meinen Ex ist automobiles Tempo immer wichtiger als das der Daten. Ich wusste, wer im Haus gewesen war. Und hatte auch so meine Vermutungen, warum.
Ich rief Mrs. Flowers an.
»Mecklenburg County, Medical Examiner.«
»Dr. Brennan hier.«
»Ach du meine Güte, Gott sei Dank. Ich hab meinen Ohren nicht getraut, als ich hörte, dass Sie in diesem schrecklichen Land sind. Wie geht es Ihnen?«
»Gut, vielen Dank.«
»Haben Sie einen dieser furchtbaren Taliban gesehen?«
»Ich war meistens auf dem Stützpunkt.«
»Ich habe jeden Tag für Sie gebetet. Kommen Sie bald wieder ins Büro?«
»Vielleicht später noch. Ich bin erst gestern Nacht zurückgekommen.«
»Dann müssen Sie sofort auspacken. Wenn Sie das aufschieben, wer weiß, was dann für schreckliche Kreaturen aus Ihrem Koffer kriechen und bei Ihnen einziehen. Ist einer Freundin von mir passiert.« Mrs. Flowers senkte die Stimme. »Ich will gar nicht sagen, was sich in ihrem Haus niedergelassen hat.«
»Werde ich tun.«
»Sie haben mehrere Telefonnachrichten.«
»Darum kümmere ich mich gleich als Erstes.«
»Und einen neuen Fall.«
Mrs. Flowers setzte mich kurz ins Bild. Es ging um Hooligans, ein Klohäuschen und einen Kopf in der Kacke. Ich muss gestehen, ich genieße ihre Wortwahl.
»Vielen Dank. Könnten Sie mich zu Larabee durchstellen?«
»Natürlich.«
Eine seelenlose Version von Sailing verkürzte mir die Wartezeit, dann nahm Larabee ab. Warum haben Behörden eigentlich keinen Musikgeschmack?
»Tempe, bin froh, dass Sie zurück sind. Wie war’s?«
»Ich habe jetzt grenzenlosen Respekt für unsere Truppen.«
»So schlimm?«
»Nur ermüdend.« Und Ungeziefer, Schutzweste und Lebendbestattung.
»Haben Sie Katy gesehen?«
»Ja. Sie ist echt ein Fall für sich.«
»War sie immer schon. Hören Sie, ich habe auf Ihre Nachrichten nicht reagiert, weil ich Sie nicht ablenken wollte.«
»Kein Problem.«
»Der DNS-Test brachte keine Ergebnisse zu unserer Unbekannten. Sie ist nicht im System.«
»Keine große Überraschung.«
»Nein. Aber einen Versuch war es wert.«
Ich fragte ihn, ob er Alison Stallings’ Artikel gelesen habe. Hatte er.
»Aber es hat sich noch niemand gemeldet.«
»Wir sind also noch keinen Schritt weiter als bei meiner Abreise.«
»Au contraire. Ich habe die Resultate der Spermaanalyse. Wir hatten recht. Es stammte von mehr als einer Person.«
Ich setzte mich aufrechter hin. »Und jetzt sagen Sie mir gleich, dass die DNS-Proben auch Namen haben.«
»Die DNS-Proben haben auch Namen. Zwei Treffer direkt hier in der Datenbank von North Carolina. Ich lege Ihnen die Berichte auf den Schreibtisch. An Slidell habe ich sie schon weitergeleitet.«
»Das könnte was Großes sein.«
»Könnte. Ich habe noch etwas gefunden, das ebenfalls was Großes sein könnte.«
Ich wartete.
»Als ich mir die Röntgenaufnahmen noch einmal angeschaut habe, habe ich eine kleine, strahlenundurchlässige Schliere in der Nähe der rechten parietookzipitalen Naht entdeckt. In diesem Teil des Gehirns waren die Hämatome ziemlich ausgedehnt, und die Gehirnrinde ist an dieser Stelle ziemlich dick, deshalb war es mir zuerst nicht aufgefallen. Als ich mir die Leiche noch einmal angeschaut und dabei die Schädelschwarte zurückgeschoben habe, hatte sich dort tatsächlich etwas verfangen. Wahrsch…«
»Was haben Sie gefunden?«
»Sieht aus wie ein Knochensplitter. Hat die Schwarte durchstochen, ist aber nicht in den Schädel eingedrungen. Ich habe Ihnen den Splitter auf den Schreibtisch gelegt, zusammen mit den beiden DNS-Berichten.«
Es piepste in der Leitung.
»Einen Augenblick.«
Während Larabee umschaltete, um den hereinkommenden Anruf entgegenzunehmen, überlegte ich mir, was ein Knochenfragment in der Schädelschwarte des Opfers bedeuten konnte. Ein Sturz? Ein Schlag? Irgendein Haar-Accessoire? Ich kam nicht weit, denn Larabee meldete sich schon wieder.
»Muss los. Doppelter Suizid. In Myers Park. Ich dachte, die feinen Herrschaften dort sind zu gut erzogen, um sich selber mit Rattengift um die Ecke zu bringen.«
»Ich bin in Kürze im Institut.«
»Gut. Sie haben einen Schädel aus einem Scheißhaus.«
Völlig aus dem Häuschen legte ich auf. Wegen der DNS, nicht wegen des Latrinenfunds.
Als ich Charlotte verlassen hatte, war der Fahrerfluchtfall schon fast kalt gewesen. Jetzt hatten wir Spuren. Die Namen der Männer, die mit dem Opfer Sex gehabt hatten. Erzwungen? Aus Liebe? Nur zum Spaß? Für Geld? Es war unwichtig. Diese Männer kannten sie.
Ich rief Slidell an, wurde aber sofort auf den AB umgeleitet. Hinterließ ihm als Nachricht die Bitte, mich so schnell wie möglich zurückzurufen.
Ich rief im ICE an, weil ich mir dachte, dass diese neue Information vielleicht auch bei Luther Dew Interesse wecken könnte. AB. Noch eine Nachricht.
Es ist zwar irrational, aber es gibt bestimmte Arbeiten, die ich so hasse, dass ich mir endlos Ausreden einfallen lasse, um sie nicht zu tun. Lebensmittel einkaufen. Die Zähne mit Zahnseide bearbeiten. Das Auto zum Kundendienst bringen.
Ganz oben auf der Liste steht Kofferauspacken. Mrs. Flowers’ Rat traf genau auf den Punkt. Wenn auch aus anderen Gründen. Rationalen. Aber ich wusste, wenn ich es aufschob, würde ich mich später selbst verachten.
Obwohl ich sehr neugierig war auf das, was Larabee mir auf den Schreibtisch gelegt hatte, ging ich ins Schlafzimmer, stellte die Reisetasche auf den Boden und fing an zu sortieren. Schmutzige Kleidung in die Wäsche. Toilettenartikel ins Bad. Bücher, Papiere und anthropologisches Material in mein Arbeitszimmer.
Draußen im Garten stülpte ich die Tasche um und verstaute sie dann im Schrank im Erdgeschoss. Zufrieden mit mir selbst machte ich eine kurze Pause, um meine E-Mails zu checken.
Katy hatte geschrieben, dass sie sich über mein Kommen sehr gefreut habe. Und dass ich die einzige Mutter in ihrer Einheit sei, die das je getan habe. Außerdem versprach sie, auf sich aufzupassen.
Nichts von Ryan.
Warum hatte ich überhaupt nachgesehen?
Ich lief ins Schlafzimmer zurück und wandte mich dem Rucksack zu. Ich hatte kaum damit angefangen, als das Telefon klingelte.
Da ich dachte, es sei Slidell oder Dew, nahm ich ab, ohne auf die Anruferkennung zu schauen.
Klick.
Tote Leitung.
Erst in Lejeune, jetzt hier. Zweimal in zwei Tagen.
Toll.
Zurück zum Rucksack. Zuerst leerte ich das große Fach. Kappe, Jacke, Sonnenbrille, Bücher, ein Nackenkissen, das ich mir während des Aufenthalts in Istanbul gekauft hatte. Die kleine Naschtüte, die man in der Businessclass geschenkt bekommt.
Dann arbeitete ich mich durch die Außentaschen. Von denen es an einem militärischen Rucksack unzählige gibt. Meine Durchsuchungen ergaben Handcreme, Batterien, zwei geschmolzene Proteinriegel, mindestens ein Dutzend Ohrstöpsel und jede Menge Sand.
Zehn Minuten später riss ich den letzten Klettverschluss auf und griff in eine Seitentasche, in der ich nichts anderes erwartete als zusammengeknüllte Papiertücher. Meine Hand schloss sich um etwas, das sich anfühlte wie Plastik.
Sekundenlang starrte ich das Ding verwirrt an.
Ich drehte es um.
Meine Verwirrung wuchs.