Der Krieg der Kopftücher
Gott ist groß, Sarkozy ist klein
Von ihrer Familie lässt sich Sonia jetzt »Sausan« nennen. Sie ist achtzehn Jahre alt, ein dunkles Tuch verhüllt ihr Haar. Die Wimpern und Augenlider des Mädchens sind mit Kohle geschwärzt, was nach orientalischem Verständnis nicht unbedingt sündhafte Kosmetik ist, sondern auch Körperpflege sein kann. Sonst trägt Sonia kein Make-up. Denn sie kämpft, wie sie sagt, »für die Sache Gottes«. Beraten von einem französischen Juristen, der zum Islam übertrat, ist Sonia die Wortführerin von vierundzwanzig Schülerinnen des Lycée Saint-Exupéry im Industrieort Mantes-la-Jolie nördlich von Paris, die sich weigern, ihre Kopftücher abzulegen. Der Name Sonia steht in ihren Papieren, und die Klasse ist an ihn gewöhnt. Aber »Sonia« klingt westlich-weltlich. Deshalb das islamische »Sausan«.
Sausan-Sonia würde gern Journalistin werden. Wenn sie wegen des Kopftuchs von der Schule gewiesen wird, will sie es mit Fernkursen versuchen. Falls sie in Frankreich mit bedecktem Haar nicht arbeiten kann, ist sie auch bereit, ins algerische Oran zurückzukehren, das sie mit zwei Jahren verlassen hat. »Das Kopftuch hat nichts Herausforderndes«, sagt Sonia. »Man darf in ihm kein Zeichen für Fundamentalismus sehen. Frankreich möchte die zweitwichtigste Religion des Landes verteufeln, aber indem man uns an den Rand schiebt, gibt man uns ein Podium, auf dem wir sagen können, wie sehr der Islam gerecht ist.«
Amtlich wird die Konfessionszugehörigkeit in der laizistischen Republik nirgends festgehalten. Mit mindestens fünf Millionen Anhängern – Ausländern, ihren im Lande geborenen Kindern, naturalisierten Einwanderern, Konvertiten – rangiert der Islam indessen mit Sicherheit vor etwa achthunderttausend Protestanten und siebenhundertfünfzigtausend Juden. Vielleicht gibt es sogar mehr praktizierende Muslime als Katholiken in Frankreich. Durch ihren Glauben fühlt Sonia sich nicht beengt. »Schon gar nicht in meinem Dasein als Frau. Geknechtet«, sagt sie, »ist die westliche Frau, die bereit ist, sich auszuziehen, um einen Joghurt zu verkaufen.«
Vor gut zwanzig Jahren tauchten an Frankreichs Schulen erstmals Kopftücher auf, polemisch auch »Burka«, »Tschador« oder »Schleier« genannt. Erfahrene Schuldirektoren gingen dem Konflikt aus dem Weg, indem sie sich an die wertfreie Bezeichnung foulard islamique, islamisches Kopftuch, hielten und die auffällige Verhüllung pragmatisch den sehr viel diskreteren Halsketten mit Kreuz oder der jüdischen Kippa gleichstellten – beides Glaubenszeichen, die nie jemand beanstandet hatte. Im Oktober 1989 war der Konflikt um die islamische Verhüllung in Creil, gleichfalls ein Industrieort mit hohem Ausländeranteil nördlich von Paris, erstmals offen ausgebrochen. Das ganze Land verfolgte damals, wie drei Mädchen – Fatima, Leila, Samira – täglich in ihren Hüllen erschienen, regelmäßig abgewiesen wurden und schließlich das Lycée verlassen mussten.
Unterstützt von islamischen Organisationen, klagten muslimische Eltern seither immer wieder vor Verwaltungsgerichten. Zweimal verwarf Frankreichs oberste Instanz, der Conseil d’Etat, generellen Ausschluss wegen Kopftuchtragens als unvereinbar mit der Glaubens- und Meinungsfreiheit. »Das Tragen religiöser Zeichen ist für sich allein nicht unvereinbar mit dem laizistischen Charakter der öffentlichen Schule«, entschied der Staatsrat. Nur wenn Tücher »ostentativ, in herausfordernder Weise, diskriminatorisch oder missionarisch zur Schau gestellt« würden oder wenn sie die Freiheit oder die Würde eines Schülers verletzen, sei ein Verbot gerechtfertigt. Fatima, Leila und Samira gingen danach wieder in die Schule. Nur zwei- bis dreitausend Mädchen haben sich, zum Teil als Folge der öffentlichen Kontroverse, im ganzen Land für den »Hedschab« entschieden – wie die vom Koran nur ungenau beschriebene Verhüllung eigentlich heißt.
Ein Brennpunkt der Auseinandersetzung ist die Stadtregion Lille-Tourcoing-Roubaix im äußersten Norden Frankreichs. Dort wurden zunächst achtzehn muslimische Schülerinnen des Lycée Faidherbe von der Schule gewiesen, weil auch sie sich weigerten, das Kopftuch abzulegen. Es gab einen kurzen Hungerstreik, ein Polizeiaufgebot, das anstößige Textilien schon vor der Schultür abfing, Spruchbänder mit dem Motto »Unser Tuch ist unsere Ehre«, hinter denen nicht nur islamistische Gesinnungsgenossen, sondern auch Mitglieder einer trotzkistischen Splittergruppe marschierten. Von dreiunddreißig Schulen der Stadt und der Umgebung wurden insgesamt zweihundertelf Kopftücher gemeldet.
»Gott ist groß, Sarkozy ist klein«, ruft ein Halbwüchsiger, der vor einem Kampfsport-Klub in der Nähe des Lycée herumhängt. Junge Muskelmänner aus dem islamistischen Umfeld stehen bereit, wann immer Schülerinnen für ihr Kopftuch demonstrieren wollen. Beim Biscotte-Viertel, wo regelmäßig Rauschgiftdealer von Islamisten gejagt werden, hat in einer ausgedienten Garage die »Sozial-Kulturelle und sportliche Liga von Lille« ihr Hauptquartier. Eine Moschee und eine Koranschule gehören dazu. Rund zwei Dutzend andere Gebetsstätten im Departement sind angeschlossen. »Sie haben nur noch die Wahl zwischen den Dealern und den Imamen«, so schilderte ein Polizist die Lage der jungen, chronisch arbeitslosen Gettobewohner gegenüber der Zeitung Le Monde.
Roubaix war einst das französische Manchester. Doch die Textilfabriken haben zugesperrt. Die Einwohnerzahl ist von hundertneuntausend auf dreiundneunzigtausend zurückgegangen. Es ist nicht mehr viel los. Eine hochherrschaftliche Fünf-Zimmer-Wohnung in bester Lage kann man für unter fünfzigtausend Euro kaufen. Mehr als ein Drittel der arbeitsfähigen Bevölkerung ist ohne Beschäftigung. Als einzige Stadt Frankreichs hat Roubaix eine maghrebinische Mehrheit: Dreiundfünfzig Prozent der Einwohner stammen aus Nordafrika. Der Kardiologe Salem Kacet ist stellvertretender Bürgermeister. Jetzt fühlt sich die Elite der Zuwanderer von den Islamisten überholt. Zentrum ihrer Agitation ist die Moschee in der Rue Archimède. Dort steigen auch Abgesandte der Islamischen Rettungsfront Algeriens (FIS) ab. Ladenbesitzern in der Umgebung wird nahegelegt, keinen Alkohol und kein Schweinefleisch mehr zu verkaufen.
Es war in den neunziger Jahren der bürgerliche Erziehungsminister und praktizierende Katholik François Bayrou, der durch einen Erlass das Tragen von »auffälligen religiösen Merkmalen« in den Schulen verbot. Beim ersten Auftreten von Fatima, Leila und Samira, hatte er als Abgeordneter noch gefunden: »Jede Handlung der Ausschließung kann die Entwicklung von Koranschulen nach sich ziehen. Sie wären für die Integration viel schädlicher als ein Schleier auf dem Haar.« Festgefahrene Situationen, die den Islamisten in die Hände spielten, sollten besser vermieden werden.
Viele Lehrer denken noch immer so. »Wir haben sie beim Schulbeginn nach den Ferien mit Kopftuch akzeptiert. Dann können wir sie nicht ein paar Wochen später abweisen. Das wäre ein Vertragsbruch, der sich nicht rechtfertigen lässt«, zitiert Le Monde einen Physiklehrer am Gambetta-Gymnasium von Tourcoing. Ein Geschichtslehrer derselben Schule sagt: »Die meisten dieser jungen Mädchen sind lebhaft und intelligent. Sie haben sich bis jetzt überhaupt nicht missionarisch, aggressiv oder provokant verhalten.«
Tatsächlich sollte der Erlass einen Gesetzesentwurf abfangen, der erheblich weiter ging. Sein Urheber war der gaullistische Abgeordnete Ernest Chenière – früher Direktor eben jenes Lycée in Creil, aus dem er schon Fatima, Leila und Samira hinauswarf. Der Karate-Amateur Chenière stammt von den Antillen, ist von egalitär-republikanischer Gesinnung und war durch seine schwarze Hautfarbe besser als ein Weißer gegen den Vorwurf des Rassismus gefeit. Für die Laizisten ist das Kopftuch nur der Anfang, dem gewehrt werden muss. Es liegen zahlreiche Anträge muslimischer Schülerinnen auf Befreiung vom Turnen vor. Andere wollen vom Französisch-Unterricht dispensiert sein, wenn gottlose Autoren wie Voltaire gelesen werden. Bei Theaterbesuchen entschuldigen sich ohnehin viele. Einige fundamentalistische Elterngruppen haben bereits Geschlechtertrennung im Schulhaus gefordert.
Alles fing mit einem Ei an. In Marseille bekamen muslimische Schulkinder schon vor Urzeiten ein hart gekochtes Ei, wenn andere in der Mittagspause mit einem Schinkenbrot gespeist wurden. Unter der Hand ließen Schulen für nordafrikanische Kinder Koran- und Arabisch-Unterricht zu, während andere Schüler Französisch oder Mathematik hatten. Nach einer Konvention vom Oktober 1981 kann ein Marokkaner auch in Frankreich seine marokkanische Frau ohne Gerichtsverfahren verstoßen. Ein Franzose algerischer Abstammung braucht seinen Militärdienst nicht in Frankreich zu leisten. Von 1980 bis 1993 war für Muslime de facto Polygamie zugelassen. Und von den kommunistisch regierten Pariser Vororten Aubervilliers oder la Courneuve bis zu dem von der liberalen UDF verwalteten Rillieux-la-Pape am Rande von Lyon unterstützen ungezählte Gemeinden islamistische Organisationen, indem sie ihnen Geld oder Lokale zur Verfügung stellen. Die Fundamentalisten haben den Ruf, bei der Bekämpfung von Kriminalität und Drogen effizienter zu sein als Sicherheitskräfte.