Noch Plätze frei

Streiflicht

Nirgends weht der Atem der Geschichte so fühlbar wie in der stillen Gruft, obwohl sich dort im platten physikalischen Sinn kein Lufthauch regt. Nichts macht sich im Fernsehen so gut wie eine politisch unumstrittene Totenehrung. Und keiner wusste das besser als François Mitterand, den sein erster Weg, als er sein hohes Amt antrat, ins Panthéon führte. Außer den Kameraleuten und den diskreten Helfern hinter den Säulen, die dem einsam schreitenden Staatschef eine jeweils neue Rose reichen mussten, war damals keiner dabei, während sich der Präsident vor dem Pazifisten Jaurès und dem Résistancehelden Jean Moulin verneigte. Symbolisch, wie er es gern hatte, schloss Mitterand den Kreis, indem er als beinahe letzte Amtshandlung die Atom-Pioniere Marie und Pierre Curie in die nationale Ruhmeshalle überführte.

Bis dahin war das Panthéon so etwas wie ein exklusiver Herren-Klub der toten Dichter und Denker. »Den großen Männern, das dankbare Vaterland« steht lapidar auf dem Giebel. Vor der womöglich noch schlimmeren Anklage, nichts als ein Tempel jener »toten weißen Männer« zu sein, die der Welt ihre verkorkste eurozentrische Zivilisation aufzwangen, war das Panthéon notdürftig durch den schwarzen Félix Eboué geschützt, der dort gleichberechtigt neben Voltaire und Rousseau liegen darf. Aber von Frauen war wirklich nicht die Rede, und dass man dem Hotel »Zu den großen Männern« vis-à-vis mündlich den Namenszusatz »und zu den kleinen Mädchen« verpasste, mag in der Belle Époque charmant gewesen sein. Gerecht war es nicht. Sogar nachdem mit großer Verspätung als erste Frau Marie Curie eingerückt war, blieb ein Schönheitsfehler. Sie bezog die Ruhestätte Nummer acht zusammen mit ihrem Mann.

Eigentlich war ja der ganze imposante Kuppelbau auf der höchsten Stelle von Paris einer Frau zugedacht, der heiligen Genoveva. Sie hatte einst beim Hunnen Attila die Schonung der Stadt erwirkt und wurde dadurch zur Schutzpatronin. Aber der Fortschritt Lesart 1789 hatte es nicht mit Heiligen oder ihren Kirchen und nicht sehr mit Feminismus. Wie schön wäre es, wenn der Atem der Geschichte, politisch korrekt, immer nur in einer Richtung wehte! Marie Curie hat zu Lebzeiten die Ehrenlegion verweigert und hätte, so sagt ihre Enkelin, wahrscheinlich nicht ins Panthéon gewollt. Die Reliquien der Genoveva liegen in einer alten Kirche nebenan – wo schon Pascal und Racine begraben wurden. Niemand fand, sie müssten zu den großen Männern umgebettet werden. Dafür kam der Revolutionär Marat hinein, flog aber nach dem Sturz der Jakobiner wieder hinaus. Die Mehrzahl von neunundsechzig großen Männern und zwei Frauen sind vergessene Berühmtheiten aus dem 19. Jahrhundert. Kein Ausländer ist darunter, kein Muslim, kein Minderheitenvertreter. Aber zweihundert Plätze sind noch frei.