Auf der Suche nach der verlorenen Lust
Die Sphinx im Freudenhaus
Er werde einen guten Preis machen, verspricht der Besitzer. Vor ihm stehen ein Schwarzer mit einem Plastikhut und eine weiße Frau, heftig geschminkt, nicht mehr ganz jung. Sie überlegen. »Einen guten Preis«, beschwört der Patron in einem Französisch, das nach Nordafrika klingt. Zu ihm kommen viele, wenn auch nicht mehr lange und vor allem nicht aus Gründen, für welche die Adresse einst bekannt war. Denn schon wieder wird zugesperrt. »Völlige Liquidation vor Schließung«, verkünden bunte Plakate auf den verzinkten Rollläden, von denen zwei schon heruntergelassen sind. Links und rechts der Tür stehen auf dem Trottoir Stapel bunter Metallkoffer. Es gibt auch Stoffe, Hausrat und Kleidung zum halben Preis.
Noch gegen Ende des letzten Jahrhunderts tat im Haus Nummer 106 am Boulevard de la Chapelle die Heilsarmee ihre guten Werke. Danach übernahm die Stadt Paris das Haus auf Abbruch. Bis zur ersten Schließung im Nachkriegsjahr 1946 war hier ein Bordell. Nach einer heftigen Redeschlacht hatte die Nationalversammlung am 13. April jenes Jahres entschieden, dass es in Frankreich hinfort keine öffentlichen Häuser mehr geben soll. Den hundertsiebenundsiebzig maisons de tolérance der Hauptstadt sowie den dreizehnhundert im Rest des Landes wurde eine Frist von sechs Monaten eingeräumt. Vor sechzig Jahren war alles vorbei. Jubiläen, die keiner feiert. Dabei gehörten solche Häuser einmal so fest zur bürgerlichen Welt Frankreichs wie laizistische Volksschule, Wehrpflicht oder die Institutionen der Dritten Republik. »Mein lieber, kleiner Großvater«, schrieb der siebzehnjährige Marcel Proust, »ich bitte Dich um Deine Freundlichkeit.« Er bat außerdem um zehn Francs. Die hatte ihm zwar schon sein Vater gegeben, damit er ein Bordell aufsuchen konnte. Doch er war zu aufgeregt, um sich dort anders als finanziell zu erleichtern. »Ich wage nicht, Papa schon wieder um Geld zu bitten, und ich hoffe, dass Du mir in dieser Lage zu Hilfe kommst.« Ursprünglich wollte sich Proust an einen »Monsieur Nathan« wenden. »Aber der Mama ist es lieber, wenn ich Dich frage.« Der Brief ist erhalten.
Es war die Welt, in der Priester Soutanen trugen, Herren sich duellierten, Verbrecher in Ketten nach Cayenne verschickt wurden und ehrbare Frauen Krisen meisterten, indem sie dekorativ in Ohnmacht fielen. Männliche Fantasien konnten sich in der Armee verwirklichen, die jeden Herbst ins Große Manöver zog, in den Kolonien – und bei den nicht ehrbaren Frauen. Die Moral blieb gewahrt, weil auch die doppelte Moral so gut funktionierte.
»Das Chabanais? Was meinen Sie damit?«, fragt der Mann am Empfang des Hauses Nummer 12 in der gleichnamigen Straße. Er ist nur Urlaubsvertreter und weiß nicht, welche Erinnerungen er verwaltet. »Das Chabanais? Natürlich!«, sagt ein Stammgast des bistrots schräg gegenüber der Nationalbibliothek. Er tritt auf die Straße, um den Weg zu weisen. »Aber es ist nichts davon erhalten. Sie haben damals alles herausgerissen. Schade. Heute stünde es unter Denkmalschutz.«
Das Chabanais war das berühmteste Luxus-Puff von Paris, wahrscheinlich der Welt. Es wurde 1878 für die damals horrende Summe von 1,7 Millionen Francs eingerichtet, mit wohlwollender Unterstützung des Jockey Clubs, des exklusivsten Zirkels im Lande. Mehrere Mitglieder hatten enge Beziehungen zu »Miss Kelly«, der ersten Betreiberin. Minister, Botschafter, Aristokraten und Nabobs aus aller Welt verkehrten hier gerne.
In der Halle stand angeschrieben »House of all Nations«. Es gab ein japanisches Zimmer, das zuvor auf der Weltausstellung einen Preis gewonnen hatte, einen Salon Louis XVI., ein indisches, ein pompejanisches und ein maurisches Kabinett. Letzteres ließ sich der Dichter Guy de Maupassant in seiner Villa am Meer nachbauen, um es während der Ferien nicht entbehren zu müssen.
Der Prince of Wales, der spätere König Edward VII., hatte im Chabanais einen Privatsalon mit seinem Wappen am Himmelbett. Es dürfte die wahre Grundlage der Entente cordiale, des späteren Bündnisses zwischen Britannien und Frankreich gewesen sein. Im Übrigen hatte der Raum nichts Viktorianisches. Es gab ein kurioses Sitzgerät, über das viel spekuliert wurde und das den Thronfolger von mehreren Seiten zugänglich machte. Es gab auch eine große Wanne aus rotem Kupfer mit einem Schwan als Galionsfigur. Der Prinz ließ sie mit Champagner füllen, um darin mit seinen Gespielinnen zu baden. Als die Einrichtung des Chabanais nach der Schließung versteigert wurde, erwarb Salvador Dalì die Wanne für hundertzwölftausend Francs. Was weiter aus ihr wurde, ist nicht übermittelt. Die Protokollabteilung des Elysée nahm das Chabanais ins Besuchsprogramm ausländischer Staatsgäste auf. Neben einem Gala-Abend in der Oper oder einem Empfang im Rathaus figurierte es unter dem Tarnnamen »Visite beim Präsidenten des Senats«. Dieser soll sehr überrascht gewesen sein, als ihn eine luxemburgische Prinzessin tatsächlich aufsuchte. Das siebenbändige Larousse-Lexikon von 1906 widmete dem Chabanais einen Artikel. Seit den zwanziger Jahren konnte das Haus gegen Trinkgeld auch von Familien besichtigt werden. In den übrigen Räumen ging das Geschäft weiter.
Auffallend viele Japaner schreiten suchend die Straße ab. In ihrem Reiseführer ist ein Nebenhaus mit roter Laterne verzeichnet, das Restaurant Hokkaido. Auf Nummer 4 will die Bar Le César mit unzulänglichen Mitteln den Geist des Ortes beschwören. Derzeit machen die barbusigen Hostessen Ferien. Im September, so verspricht ein Zettel, kommen sie »schön und gebräunt« zurück. Im Chabanais selbst ist nichts Einschlägiges mehr los, obwohl sich im Hauptgeschoss ausgerechnet eine Agentur für Hostessen und Sekretärinnen niedergelassen hat. Doch der Schein trügt. Die Angestellten arbeiten mit Akten und Computern und nur zu Bürozeiten.
Bei Umfragen wären achtundsechzig Prozent der Franzosen dafür, wieder Bordelle zuzulassen. Denn die Prostitution ist nicht verringert, sondern nur unkontrollierbar geworden. Zwischen vierhundert und sechshundert »Begegnungs-Klubs« sind in der Hauptstadt aktiv. Die schäbigen machen in Anzeigeblättern Reklame; bessere Adressen, die einen Hauch von verruchtem Luxus verheißen, werden unter der Hand weitergereicht. Auch die Vermittlung von Sexkontakten über Telefon und Internet floriert. Rund tausend Verfahren wegen Zuhälterei werden alljährlich eingeleitet. Paris hat in Europa den höchsten Anteil an HIV-Positiven.
Die blonde Vera heißt nicht Vera und ist auch nicht wirklich blond. Eine sogenannte Heiratsagentur, die sie aus Moskau holte, schärfte ihr als Erstes ein, dass die Klienten keine dunkelhaarigen Russinnen wollen. Vera wurde vermietet und sah wenig Geld, bis sie der Organisation entfloh, mit abgelaufenem Visum herumirrte und in der Metro übernachtete. Durch eine Freundin geriet sie an einen anderen, teuren Callgirl-Ring, der ihr ein Drittel der Honorare abnimmt. Nach Spesen kommt sie heute auf fünftausend Euro im Monat. Wenn alles gut geht, möchte Vera in einem Jahr wieder ihren wirklichen Namen tragen und eine Boutique in Moskau haben.
Muna sitzt auf einer Café-Terrasse an den Champs Elysées, trinkt ein Glas Tee und raucht. Als sie das piepende Handy aus ihrer Handtasche nimmt, erkennt sie die Stimme von Madame Leila. Muna kam ursprünglich mit einem schmalen marokkanischen Stipendium nach Frankreich. Jetzt ist sie eine von dreißig Nummern in Leilas Notizbuch. Sie notiert ihren Abendtermin. Die letzte Verabredung absolvierte Muna zusammen mit anderen Mädchen in der Pariser Residenz eines saudischen Geschäftsmanns, der für einen Golden Boy aus Riad eine Abschiedsparty gab. Die Nacht brachte Muna tausend Euro und ein solides Schmuckstück. Eigentlich hatte es ihr Kurzzeit-Gefährte seiner Frau zugedacht.
Am industriellen nördlichen Teil des Ringboulevards, der nach Napoleons Marschall Ney benannt ist, lädt ein Kleinbus spät am Abend sechs Straßenmädchen aus. Sie sind zwischen siebzehn und zweiundzwanzig, alle schmächtig, alle drogensüchtig wie ihre Zuhälter, die sie von Weitem beobachten. Hier sind die Tarife niedrig, zwanzig bis fünfzig Euro, aber die Risiken hoch. Für die billigen Mädchen ist es keine schöne Zeit. Doch das war für ihresgleichen auch die Belle Époque nicht.
Nach keiner von ihnen hätte Martholdi seine Freiheitsstatue modelliert, er holte sich dafür »Grande Céline« aus einem Haus in der Nähe der École Militaire. Sie wären nicht unter den »Demoiselles von Avignon« gewesen, die Picasso im Grand 5 malte. Und kein van Gogh hätte einer von ihnen am Weihnachtsabend sein frisch abgeschnittenes Ohr ins »Lupanar von Arles« geschickt.
Toulouse-Lautrec nannten die Mädchen in der Nummer 6 der Rue des Moulins wegen seiner verkrüppelten Gestalt »Kaffeekanne«. Er bezog dort, nur einen Sprung vom Chabanais, zeitweilig Wohnung. Auch in einem Bordell in der Rue d’Amboise hatte er gehaust. Von seinen Werken tragen siebenundsechzig den Vermerk »gezeichnet (oder gemalt) in einem geschlossenen Haus«. An der Stelle seines »Salon de la rue des Moulins« arbeitet heute hinter Scherengitter und Milchglasscheibe ein Zahnarzt.
Hinter einer Fassade aus den zwanziger Jahren führt in der Nummer 50 der Rue Saint-Georges eine lange Treppe mit rotem Läufer zum ersten Stock empor. Es heißt, der Reichsmarschall Hermann Göring sei in den hohen Räumen des Erdgeschosses geblieben. Das ganze Viertel wurde abgesperrt, wenn er kam. In der Pariser Hauptsynagoge zwei Querstraßen abwärts herrschte derweil Angst. Auch jetzt werden das Israelitische Konsistorium, gleichfalls in der Rue Saint-Georges, und die Synagoge um die Ecke streng bewacht. Die Posten der kasernierten Polizei CRS tragen stets schussbereite Maschinenpistolen und stecken in kugelsicheren Westen.
Das St.-Georges war von den Deutschen als Offiziersbordell requiriert, genau wie das Chabanais oder das Haus in der Rue des Moulins. Ein zeitgenössisches Merkblatt für die Benutzer nennt neben der Adresse jeweils die Metrostation und die nächste Sanierstelle für Geschlechtskrankheiten. Dass die Puffwirte und ihre Verwalterinnen – die ausführende Macht lag immer in den Händen einer Frau – mit der Besatzung kollaboriert hätten, war ein wirksames Argument für die Schließung.
Dennoch, ohne Marthe Richard wäre es dazu wahrscheinlich nie gekommen. »La veuve qui clôt« (die Witwe, die zusperrt) – so wurde sie unter Anspielung auf die bekannte Champagnermarke genannt – war eine farbige Figur. Vor 1914 war sie eine der ersten fünf Pilotinnen Frankreichs. Während des Krieges wurde sie Agentin des französischen Geheimdienstes und in dessen Auftrag Geliebte des Chefs des deutschen Marine-Nachrichtendienstes in Spanien. In einem Film aus den dreißiger Jahren idealisierte Edwige Feuillère diese Episode. Den Boche spielte Erich von Stroheim.
Als populäre Stadträtin von Paris führte Marthe Richard unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg die Kampagne gegen die Bordelle. Was als Stadtverordnung gedacht war, wurde mit Unterstützung der Kommunisten und Sozialisten in der Nationalversammlung zum Gesetz. Marthe Richard setzte ferner durch, dass die Dirnen-Karteien der Sittenpolizei vernichtet wurden. Die Erben von Fouché, des gefürchteten Polizeiministers von Napoleon, führen solche Befehle zwar aus – aber nicht ohne vorher Kopien zu machen. So konnten die Feinde der Witwe leicht herausfinden, dass die geborene Marthe Betenfeld, lange bevor sie die Freudenhäuser abschaffte, selber anschaffen gegangen war. In Nancy war sie von 1905 bis 1907 unter der Nummer 640 als Prostituierte registriert. Ein Spezialist für dieses Thema, Alphonse Boudard, weist in seinem Buch »La fermeture« nach, dass Marthe zehn Monate des Jahres 1906 wegen ansteckender Krankheit zwangsweise im Spital verbrachte. Als Marthe Richard in ihr letztes Gefecht zog, war das Penicillin erfunden und die Französinnen hatten gerade das Stimmrecht erhalten.
»Sind die Damen nicht mehr da?«, fragte vorsichtig ein älterer Herr im Büro der Berufsvereinigung der französischen Gerberindustrie. Aber das ist auch schon etwas her. Er suchte an dieser Stelle noch das One-Two-Two. Fernandel und Jean Gabin waren dort bekannt, Sacha Guitry und Tino Rossi, Cary Grant und Humphrey Bogart, der Maharadscha von Kapurthala und König Leopold von Belgien, der wegen seiner Schwäche für eine Pensionärin Cleopold genannt wurde. Da man ins One-Two-Two, wenn man wollte, nur zum Essen gehen konnte, kamen auch Frauen, die etwas Halbweltluft atmen mochten, die Mistinguett und Marlene Dietrich, Martine Carol und Katharine Hepburn. Michel Simon hatte jahrelang ein Zimmer und gab »122 rue de Provence« als seine Adresse an. Wer ihn engagieren wollte, fand ihn hier. Der Hausbesitzer fuhr im letzten Vorkriegsjahr einen der beiden Cadillacs, die es in Paris gab.
Ahnungslos hat sich als neuer Nachbar des alten One-Two-Two mit glitzerndem Marmor und Glas die iranische Bank Tejarat angesiedelt: koranische Segensformeln im Schaufenster, Ayatollah-Porträts in der Halle. Schon der Verein der Bordellwirte (l’Amicale des Maîtres d’hôtels meublés de France et des Colonies) hatte eine hübsche Adresse. Rue Notre-Dame de Nazareth. Der Zufall macht seine Sache nicht schlecht. Das Haus Nummer 9, Rue Navarin, bediente hinter seiner strengen neogotischen Fassade Masochisten. Aber es war nicht billig, in dieser Kapelle durch Leiden selig zu werden. Hoch oben in einem verglasten Anbau der Nummer 10 in der Rue des Martyrs stehen verblichene Riesenfiguren eines Karnevals von ehedem. Ein Präsident des Senats starb hier leibhaftig, als das Haus noch den Freuden gewidmet war. In solchen Fällen genügte ein Anruf bei der Polizei. Honoratioren wurden unauffällig abgeholt, damit der Arzt anderswo Herzversagen konstatieren konnte.
Um einige Stammkunden des Sphinx zu besuchen, genügt es, quer über den Boulevard Edgar Quinet zum Montparnasse-Friedhof zu gehen. Die Spuren anderer verlieren sich überall auf der Welt. Gabriele d’Annunzio und Graf Ciano, der Schwiegersohn und Außenminister Mussolinis, waren darunter, die Hollywoodstars Gary Cooper und Errol Flynn, die Literaten Ernest Hemingway und Erich-Maria Remarque. Im Morgengrauen nach einer fröhlichen Nacht gingen Madame Martoune, ihre Mädchen und die Gäste gelegentlich zum nahen Boulevard Arago, um sich eine Hinrichtung durch die Guillotine anzusehen. Dann aßen sie zusammen in den Hallen Zwiebelsuppe. Rechte Zeitungen behaupten hartnäckig, dass Albert Sarraut, Premierminister in der Dritten Republik, am luxuriösen Sphinx finanziell beteiligt gewesen sei. Das Art-déco-Gebäude wurde nach der Schließung abgerissen und durch einen Neubau ersetzt.
Manchmal war es nur ein Schritt zur Sünde und nur ein Schritt zurück zur Absolution. Über dem Seitenportal der Kirche Saint-Sulpice weisen zwei steinerne Heilige auf das Haus schräg gegenüber, vormals Miss Beety. Die Hausnummer 36 besteht nicht aus dem üblichen blauen Schild aus Emaille, sondern aus einem großen Goldmosaik auf blauem Grund, die Ziffern frankiert von Zweigen eines Lebensbaums.
Solche Signale hatten Bordelle gern. Es ist verbürgt, dass Kleriker diesen Weg beschritten, verkleidet oder die Soutane unter dem Regenmantel hochgerafft. Verirrte Schafe konnten auch ins Haus Nummer 15 der Rue Saint-Sulpice gehen. Es war mit seinen Gängen so diskret angelegt, dass sie keinem bekannten Gesicht zu begegnen brauchten. Nun sind dort Wohnungen und ein Geschäft für antike Spiegel.
Alles stocksolide. Es gibt keine Sünde mehr, wenig Bedarf für Vergebung und gar keine Bordelle.