Paris im Sommerschlaf
Wenn die Suche nach einer frischen »baguette« zum Tagesprogramm wird
Brot vom Backterminal oder vom Bäcker? Seit 1. Januar 1997 ist diese für Frankreichs Esskultur entscheidende Frage gesetzlich geregelt: Die vertrauensbildende Aufschrift Boulangerie, zu Deutsch Bäckerei, dürfen hinfort nur noch Betriebe tragen, die ihren Teig selber mischen, kneten, formen und backen. Wer von einer Großmühle tiefgefrorene Masse bezieht, diese nur auftaut und seine baguette eine Stunde später verkauft, muss auf Fantasiebezeichnungen wie »Pauls Backofen« ausweichen, die schon jetzt umso bodenständiger klingen, je mehr sie die traurige Wahrheit verschleiern.
Denn mit dem täglichen Brot der Franzosen geht es bergab. Zu Beginn des Jahrhunderts aßen sie im Durchschnitt neunhundert Gramm pro Tag, heute sind es nur noch hundertfünfzig Gramm, viel weniger als in Deutschland. Das Sprichwort »lang wie ein Tag ohne Brot« scheint nicht mehr zu gelten. Nach der fotogenen Figur mit der Baskenmütze und der baguette unter dem Arm spähen Ausländer oft lange. Und viele Franzosen müssen weite Wege machen, um einen unter sechsunddreißigtausend Bäckern zu finden, dessen Brot wie früher schmeckt.
Die industrielle Revolution hat die Backstuben erreicht. Eine politische Revolution wie 1789, bei deren Entstehen Preis und Qualität des Brotes eine erhebliche Rolle spielten, bricht deshalb nicht mehr aus. Schon jede sechste baguette kommt aus einer Brotfabrik. Sogar vor Brotstangen in der Plastikhülle schrecken abgestumpfte Verbraucher nicht mehr zurück. Und mehr als dreitausend Bäckerläden, die wie Handwerksbetriebe aussehen, sind in Wirklichkeit Backterminals. Die Besitzer rühmen sich, dass ihre baguette nicht schlechter ist als die von Hand hergestellte. Das Schlimmste ist, oft stimmt es.
Paris, im August – das bescheidene Stangenweißbrot weckt begehrliche Blicke. Endlich bricht einer der Wartenden an der Bushaltestelle das Schweigen: »Wo haben Sie es gekauft?« Der Bäcker an der Ecke hat zu. Der in der nächsten Querstraße auch. Und das Lebensmittelgeschäft mit Brotdepot, schräg gegenüber, hat gleichfalls die Fensterläden geschlossen. »Fermeture annuelle – Jahresschließung«, was im Klartext nichts anderes als Ferien bedeutet, steht auf vorgedruckten Zetteln, welche die Geschäftsleute mit Angabe des Wiederöffnungsdatums an die leeren Fenster hängen. Es braucht in französischen Wohnvierteln – abseits der Touristenpfade – zwischen 14. Juli und Anfang September oft lange Umwege, um an eine baguette zu kommen.
»Die traditionelle Sommerpause gibt es nicht mehr«, meldete der Frankreichkorrespondent der Süddeutschen Zeitung in den dynamischen siebziger Jahren. Das stimmte damals, aber das Pendel hat seither zurückgeschlagen. Nicht nur Läden, sondern auch immer mehr Fabriken und Büros gehen wie früher in den Sommerschlaf. Die Zahl der Firmen, in denen die Arbeit im Juli und August völlig ruhte, war von einstmals achtzig Prozent bis Mitte der achtziger Jahre auf siebenunddreißig Prozent gesunken. Jetzt sind es wieder über fünfzig Prozent. Jeder zweite Franzose ist im August in Urlaub. Der Index der Industrieproduktion fällt dann von hundertzwölf im Juni auf achtzig. Der Export geht um dreißig Prozent zurück.
Da ohnehin Flaute und steigende Arbeitslosigkeit das Klima bestimmen, bereitet diese Entwicklung den Experten Sorge. Aber es ist wenig dagegen zu machen. Die Autowerke von Peugeot, Citroën und Renault beispielsweise, die von 25. Juli bis 25. August stillliegen, begründen dies vorwiegend mit der Abhängigkeit von Zulieferern, die ihrerseits Betriebsferien machen. In den Werken von Douai trifft normalerweise alle fünfundvierzig Minuten ein Lastwagen mit Autositzen ein. Im Sommer kommt er nicht. »Wir stellen etwas weniger als fünfzig Prozent der Bestandteile unserer Autos selber her«, sagte der letzte Präsident von Peugeot-Citroën. »Der Rest kommt von Zulieferern. Von ihnen legt im August die große Mehrheit den Schlüssel unter den Fußabstreifer. Da unsere Vorräte praktisch auf null gehalten werden, muss Peugeot sich diesem Zug anschließen.«
Den Sommerrekord der geschlossenen Betriebe hält mit fünfundsiebzig Prozent seit langen Jahren die Konfektionsindustrie, gefolgt von der Holzverarbeitung mit achtundsechzig Prozent und von der Metallindustrie mit sechzig Prozent. In allen drei Branchen geht die Aktivität um mehr als vier Fünftel zurück. In der Bauindustrie, wo Zuschläge für Arbeit in den Sommerwochen gezahlt werden müssen, herrscht dagegen Hochkonjunktur. Erhebliche Mitschuld am Sommerloch wird der Tourismus-Lobby nachgesagt, die sich lange einer wirksamen Staffelung der Schulferien widersetzte.
Mit produktiver Arbeit sind ohnehin, wie das Nationale Institut für Demografische Studien (INED) veröffentlichte, immer weniger Franzosen beschäftigt. Die Zahl der Arbeiter ging zwischen 1982 und 1990 um 1,7 Prozent auf 7,6 Millionen zurück, die der Bauern um zweiunddreißig Prozent auf neunhundertneunundneunzigtausend. Dafür haben die Ruheständler um dreiundzwanzig Prozent auf 9,2 Millionen zugenommen, die sonstigen Nichtbeschäftigten um zehn Prozent auf 23,7 Millionen, die Angestellten sowie die Kategorien der Führungskräfte und intellektuellen Berufe um zweiundvierzig Prozent auf 1,9 Millionen. Diese Entwicklung geht unaufhaltsam weiter.
In jenen Zahlen muss auch die soziale Umgestaltung zum Bürokratenstaat enthalten sein, die gleichzeitig das Französische Forschungsinstitut für die öffentlichen Verwaltungen (Ifrap) konstatierte. Während Frankreich 1914 mit vierhunderttausend Staatsdienern auskam, braucht es heute mehr als fünf Millionen, heißt es in einem Bericht, der sich wie eine Bestätigung des Parkinson’schen Gesetzes liest. Ein englischer Autor hatte 1955 in einem Essay unter dem apokryphen Namen »Professor C. Northcote Parkinson« die These aufgestellt, dass sich jede Verwaltung Gründe zum Wachstum verschafft. »Je weniger es zu verwalten gibt, umso mehr Beamte braucht man dafür«, lautet jetzt die Folgerung des Instituts. Als krasses Beispiel wird das Pariser Landwirtschaftsministerium genannt, dessen Mitarbeiterstab auf heute achtunddreißigtausend angewachsen ist, obwohl die Bauern, wie von der INED festgestellt, rapide weniger werden. Während die französische Industrie in den vergangenen zehn Jahren eine Million Arbeitsplätze verlor, baute das Industrieministerium sein Personal um fünfundzwanzig Prozent aus. Sogar das Ministerium für die Kriegsveteranen, deren Zahl sich alljährlich um dreieinhalb Prozent vermindert, wird kaum kleiner.
Aus dem Zweiten Weltkrieg war Frankreich noch mit neunhunderttausend fonctionnaires hervorgegangen. Rund eineinhalb Millionen waren es zwanzig Jahre später, 2,2 Millionen im Jahr 1976. In der heutigen Zahl von fünf Millionen sind zwar die eineinhalb Millionen Beschäftigten der Gemeinden, Departements und Regionen sowie die sechshunderttausend Angehörigen des öffentlichen Gesundheitsdienstes enthalten, nicht aber die dreieinhalb Millionen Pensionisten des Öffentlichen Sektors. Der Staat gibt für sie ziemlich genauso viel aus, wie die Mehrwertsteuer erbringt.
Dass sie für ihr Geld nichts leisten, behauptet das Ifrap nicht. Der Jahrgang 1976 des Journal Officiel, in dem die Gesetze und Verordnungen veröffentlicht werden, kam noch mit 7.070 Seiten aus. Der letzte Jahrgang umfasste bereits 17.141 Seiten. Um seine Gewerbesteuer zu deklarieren, muss ein mittleres Unternehmen 3,6 Meter Formulare ausfüllen, wozu vorher drei Meter Erläuterungen gelesen werden müssen.