Wo ist die Lebenslust?
Tabletten und Tristesse
»Prozac, alle verlangen heute Prozac«, sagt Madame Tonnelier. »Es ist keins mehr da!« Ihre Apotheke liegt in der Nähe des Elysée und des Innenministeriums. Aber die Inhaberin behauptet nicht, dass die Kunden für das beliebte Medikament gegen Depressionen in erster Linie von dort kommen. Der Run auf Psychopharmaka hat das ganze Land erfasst. Im Jahr kaufen die Franzosen weit mehr als zweihundertfünfzig Millionen Schachteln mit fast fünf Milliarden Pillen gegen Nervosität, Lebensangst oder andere seelisch bedingte Leiden. Ihr Verbrauch an Beruhigungsmitteln ist bei Weitem der höchste in Europa, mehr als das Dreifache dessen, was Briten oder Deutsche schlucken. Und niemand weiß wirklich, warum.
Über die Gründe gebe es merkwürdig wenig Untersuchungen, stellt Professor Edouard Zarifian von der Universität Caen in einem Bericht für den Gesundheitsminister fest. Die Daten des Psychotropen-Marktes sind besser geschützt als militärische Geheimnisse. Man weiß immerhin, dass zweihunderttausend Personen in Abhängigkeit von Lachpillen leben. Jeder neunte Erwachsene nimmt davon mindestens einmal in der Woche. Unter den Frauen über sechzig Jahren sind dreißig Prozent regelmäßig Konsumentinnen, von den Arbeitslosen siebenundfünfzig Prozent. In Orten mit weniger als fünftausend Einwohnern ist der Verbrauch am größten.
Für diese alarmierenden Daten aus dem Land der Lebenskünstler und Genießer macht der Psychiater Zarifian in erster Linie die Hersteller der Antidepressiva verantwortlich. »Zeitschriften, Kolloquien, Kongresse werden entweder von der Pharmaindustrie organisiert oder finanziell gefördert«, heißt es in dem Bericht. Die Fortbildung der Ärzte erfolge »ausschließlich durch Quellen, die von der Industrie kontrolliert werden, bei Fehlen von objektiven akademischen Referenzen, die im Widerspruch zur Werbebotschaft stehen könnten«. Es geht um einen Markt von einer halben Milliarde Euro im Jahr.
Unter dem doppelten Druck von Produzenten und Patienten müsse ein Arzt ein Held sein, wenn er der Versuchung widerstehen wolle, systematisch zu verschreiben, meint Zarifian. Hinzu komme, dass »zwischen zahlreichen Meinungsführern im akademischen Bereich und der Pharmaindustrie enge Beziehungen bestehen«. Dadurch erhalte die Reklamebotschaft höhere Weihen und zusätzliche Glaubwürdigkeit. Es bestehe indessen das Risiko, dass mit der allgemeinen Verbreitung solcher Drogen die Nachteile größer würden als ihre Wohltaten.
Der Soziologe Alain Ehrenberg sieht den Grund, weshalb so viele Franzosen sich mit chemischen Prothesen ausrüsten, im gestiegenen Erwartungsdruck. »Sogar, wenn jemand sich nur um eine untergeordnete Stelle bewirbt, soll er selbständig sein, effizient, dynamisch, motiviert.« Gesellschaftliche Probleme, die vor zwanzig Jahren politischen Ausdruck gefunden hätten, würden heute in psychischen Kategorien von Angst und Depression gesehen: Deshalb die Welle von psychopharmazeutischer und Psychotherapie.
In Frankreich praktizieren sechstausend Psychiater; sechsunddreißigtausend katholische Priester zelebrieren die Messe. Aber es gibt noch andere Helfer gegen Seelennöte. Fast fünfzigtausend Französinnen und Franzosen meldeten beim Finanzamt im vergangenen Jahr Einkommen als Hellseher, Astrologen, Medien und Glaubensheilkundige an – mehr als je zuvor. Im Land des Logikers René Descartes (»Ich denke, also bin ich«) ist vier Jahrhunderte nach dessen Geburt das Irrationale auf breiter Front im Vormarsch. Laut Umfragen glauben mehr Leute als vor zehn Jahren an den Teufel. Afrikanische Marabuts, die ihre Zauberkunst mit Flugblättern an Metrostationen anpreisen lassen, haben regen Zulauf – auch bei angestammten Franzosen.
Zarifians einzige gute Nachricht lautet, aus der übermäßigen Verbreitung von Psychopharmaka ließen sich »keine Schlüsse auf die geistige Gesundheit der Franzosen« ziehen. Am häufigsten werden die Medikamente Temesta und Lexomil, Imovane, Stilnox und Rohypnol verschrieben. Sie kommen auf jedem siebenten Rezept vor. In vier Fünfteln aller Fälle verordnet sie der Hausarzt. Madame Tonnelier hat in ihrer Apotheke Kunden, die mit Rezepten für die relativ neue Wunderdroge Prozac inzwischen auch vom Veterinär kommen. Sie bewährt sich bei Hunden, die zu unruhig sind, aggressiv oder aufsässig gegen ihren Herren. Auch von Hunden, die viel bellen, sich ständig kratzen oder sich durch zwanghaftes Lecken selber Schwären beibringen, wird Prozac gern genommen.