Pardon, wo ist das letzte »bistrot«?
Eine Institution stirbt
Jetzt sind es nur noch vierzigtausend. Vor einem knappen halben Jahrhundert, als Frankreich zweiundvierzig Millionen Einwohner hatte, konnten diese in zweihunderttausend bistrots einkehren. Noch vor zwanzig Jahren wurde an achtzigtausend Theken der Kleine Schwarze oder das obligate Ballonglas Rotwein ausgeschenkt, gar nicht zu reden von der Belle Époque vor dem Ersten Weltkrieg, als den Franzosen sechshunderttausend dieser Kommunikationszentren zur Verfügung standen. »Ohne Zweifel die solideste Institution Frankreichs, von keiner Revolution zu erschüttern«, nannte Léon-Paul Fargue in seinem »Spaziergänger durch Paris« die Cafés. Nun zählt Frankreich achtundfünfzig Millionen Konsumenten, aber die bistrots gehören auf die Liste gefährdeter Arten. Täglich sperren zwei von ihnen zu, in schlechten Jahren dreitausend.
Ein richtiges bistrot hat auszusehen wie ein Szenenentwurf für einen französischen Schwarz-Weiß-Film mit Jean Gabin. Die Gäste, die am zinc diskutieren oder an Marmortischen sitzen, rauchen schwarze Gauloises und tragen Baskenmützen. An der Kasse kann man Tabak und Briefmarken kaufen, Strafmandate für falsches Parken zahlen oder früher sogar die Autosteuer, Metro-Billetts erwerben, Toto und Lotto spielen oder auf Pferde setzen, Botschaften und Schlüssel für Freunde hinterlegen. Im Keller wacht Madame Pipi über Toilette und das nur noch selten benutzte Telefon.
Aber Jean Gabin ist tot. Die Leute haben sich an Farbfernsehen gewöhnt und trinken dazu Bier aus dem Supermarkt. Blonde Zigaretten aus amerikanischem Tabak lösen die schwarzen ab. Die Bar heißt noch zinc, ist aber öfters aus Plastik als aus Metall. Für einen billigen Imbiss gibt es immer mehr Verkaufsstände, die sich Croissanterie, Sandwicherie oder Pizzeria nennen. Die beiden Fachorgane der Bistrot-Wirte, Le Limonadier und die License Quatre – Letztere heißt nach der begehrten Genehmigung für den Ausschank alkoholischer Getränke – würden es nie zugeben: Aber bei McDonald’s steht Frankreich an sechster Stelle unter weltweit neunundsiebzig Nationen. Und es gibt noch andere Fast-Food-Ketten.
»Die Wirte erleben nur, was sie verdienen«, sagte Jacques Melac, Inhaber eines der beliebtesten Wein-Bistrots von Paris zu Le Monde. »Sie sind selber schuld, weil alles schlechter geworden ist. Mit dem Service geht es an! Sie tauchen die Hälfte Ihres Croissants in den Kaffee, und die Tasse ist leer. Kaum dass Ihnen der Wirt ›Bonjour‹ sagt. Sind Sie noch nie weggeschickt worden, weil Sie telefonieren wollten, ohne etwas zu trinken? Und die Namen! Le Marigny, Le Marlboro, Le Relais, das bedeutet doch gar nichts, hat nichts von Geschichte und Vergangenheit. Man weiß nicht einmal wie der Wirt heißt, noch weniger wo er herkommt.«
In der Hauptstadt sind nur noch einige Tausend bistrots übrig. Theoretisch bedauern es die Franzosen, dass ihre Cafés eingehen. Bei Umfragen finden fast zwei Drittel der Befragten, das bistrot sei ein »unentbehrlicher Bestandteil des Lebens«. Gleichzeitig bekennen neunundvierzig Prozent, dass sie nie ein Kaffeehaus betreten. Drei Viertel rühmen dessen »Ruhe«; ihnen ist offenbar entgangen, dass die meisten bistrots Stereoanlagen mit Popmusik und Spielautomaten betreiben, ob es die Kunden wollen oder nicht. Der typische Gast ist männlichen Geschlechts und achtzehn bis vierunddreißig Jahre alt. Am meisten verabscheuen ältere Damen das bistrot. Sie finden es verraucht und nicht sauber genug.
Früher galt das Café an der Ecke als der »Salon der Armen«. Für sie ist Paris zu teuer geworden, und sie sind in Betonsilos der Vorstädte abgewandert, bei deren Planung niemand an die Gemeinschaftseinrichtung dachte. In der Provinz hatte einst auch der kleinste Ort mehr bistrots als Arbeitslose. Heute kann es für ein Dorf eine Katastrophe sein, wenn das letzte Lokal zusperrt. Im Zuge der Entvölkerung von weiten Teilen des Landes sind Geschäfte und Behörden aus vielen Orten bereits weggezogen. Damit nicht der einzige Treffpunkt verschwindet, betreiben manche Gemeinden ihr bistrot inzwischen in eigener Regie.
Einer Legende nach geht das Wort bistrot auf jene Kosaken zurück, die nach ihrem Sieg über Napoleon in die Schenken der Champs Elysées zu stürmen pflegten, mit der Faust auf den Tisch schlugen, etwas Unverständliches bestellten, und am Ende regelmäßig »Bistro, bistro« (schnell, schnell) schrien. Mit Exotik suchen sich auch jetzt einige Wirte über Wasser zu halten. Sie trimmen ihre Lokale auf irisches Pub, bieten spanische Tapas an oder lassen ihre Gäste Karaoke singen.