Brüchig wie ein schlechter Zahn

Der Montmartre soll vor Spekulanten und ungestümen Stadtplanern geschützt werden

Als Berg ist der Montmartre so berühmt wie das Matterhorn oder der Mount Everest. Für Touristen ist er leichter zugänglich: Vier Millionen erreichen ihn jährlich mit der Metro oder den Pariser Omnibussen, sechs Millionen betreten die Basilika Sacré-Cœur. Wie viele zu Fuß oder mit dem eigenen Auto kommen, ist unbekannt. An guten Tagen, so sagen die Geschäftsleute, fahren zusätzlich tausend Touristenbusse auf die Butte; an schlechten Tagen, so entgegnen die Einwohner, die über Lärm, zitternde Wände, Verkehrschaos und Abgase klagen.

Jetzt soll der Montmartre wenigstens vor Spekulanten oder gut gemeinten Projekten moderner Stadtentwicklung geschützt werden. Zwei andere Pariser Viertel, das Marais und das siebente arrondissement mit ihren Adelspalais, sind als erhaltenswert in ihrer Gesamtheit anerkannt – was den Einbruch von Beton und Sparkassenarchitektur auch nicht verhindern konnte. Für den Montmartre käme diese Klassifizierung nach Ansicht der Experten zu spät. Ein entsprechendes Verfahren, nach dem Gesetz von Kulturminister André Malraux 1970 für das siebente arrondissement in Gang gesetzt, wurde erst ein Vierteljahrhundert später abgeschlossen. Das Verfahren für das Marais, 1964 begonnen, läuft immer noch. Der Montmartre wird hoffentlich schneller seinen verbesserten Flächennutzungsplan erhalten, der seine kleinen Häuser, seine Ateliers, seine Gärten und seine Sozialstruktur erhält.

Vom Mons Martis, dem römischen Marsberg, wo der heilige Dionysius im dritten Jahrhundert gerichtet wurde, trug er sein Haupt noch zehn Kilometer nach Norden an die Stelle des heutigen Saint-Denis. Die Pariser entdeckten im 19. Jahrhundert, dass man sich auf dem Märtyrerberg auch amüsieren konnte. Der hundertdreißig Meter hohe Hügel gehörte noch nicht zur Stadt. Die Lokalsteuer, der octroi, galt dort nicht. Der Wein war billiger. Einige der Schenken, in denen man trank, den Sängern zuhörte und tanzte, existieren noch – als Touristenfallen. Andere wurden zu Bauobjekten: Der Moulin de la Galette verwandelte sich während der siebziger Jahre in ein teures Appartementhaus.

Fast alles, was Fremde interessiert, spielt sich auf der Spitze des Hügels, einer Fläche von nur sechs Hektar, ab, eigentlich auf noch weniger, denn die Straßen machen ganze zwei Hektar aus. Auf die Idee, dass die Place du Tertre »eine graue versponnene Waldlichtung« sein könnte, die einen Traum in urzeitlichem Violett träumt, wäre der Schriftsteller Alfred Andersch ein halbes Jahrhundert später kaum mehr gekommen. Sie ist frisch gepflastert und hat neue, noch magere Bäumchen erhalten. Fast dreihundert Maler mit städtischer Lizenz (Mindestalter achtzehn Jahre, Berufsnachweis, sauberes Führungszeugnis) fischen vor überfüllten Restaurant-Terrassen im Touristenstrom.

Eigentlich müssten sie ihre Genre-Bildchen an Ort und Stelle malen, aber viele verkaufen nur Meterware mit Montmartre-Gassen, oft mit falscher Perspektive, damit auch der Eiffelturm, das Moulin Rouge und Notre-Dame zu sehen sind. Ganz Verworfene benutzen Staffelei und Pinsel nur als Dekoration, setzen aber fernöstliche Billigproduktion ab. Der große Inspirator ist Maurice Utrillo, zu Recht, denn als Einziger außer Toulouse-Lautrec malte er Montmartre-Sujets. Die anderen Großen von Manet bis Picasso arbeiteten nur auf dem Hügel, weil die Mieten niedrig oder die Freunde schon dort waren.

Im Untergrund ist der Montmartre brüchig wie ein schlechter Zahn. Rund zweieinhalb Millionen Kubikmeter gipshaltigen Stein hat man im Lauf der Jahrhunderte aus Stollen, Löchern und Galerien gegraben. Die tiefsten davon liegen siebenundzwanzig Meter unter Tage. Manchmal senkt sich ein Trottoir oder ein Keller, wenn in der Tiefe alte Höhlen einstürzen. Das Bauen ist rentabel, aber schwierig. Neue Gebäude werden auf unterirdische Betonpfeiler gesetzt.

Die Leute vom Montmartre waren immer rebellisch. Sie nennen sich »Freie Gemeinde«, »Republik«, sind stolz auf den letzten Weinberg von Paris und bringen mehr Bürgerinitiativen hervor als andere skeptische Pariser. Wiederholt ist es ihnen gelungen, den Bau einer unterirdischen Garage zu verhindern, der eine ihrer Grünflächen gefährdet hätte. Die Stadt gab nach. Immerhin hat die Pariser Kommune, die 1871 das Rathaus niederbrannte, mit einem Aufstand des Montmartre angefangen.