Wenn die Seele in die Lifte springt
Der Turm, der wie sein eigenes Souvenir aussieht
Heute sind wir wieder dreiundzwanzigtausend. Manche von uns haben sich schon früh am Morgen angestellt, bevor geöffnet wird, um das Visum zu erhalten. Das Visum für den dritten Stock kostet dreizehn Euro, sieht aus wie eine Spielkarte und trägt – der Leser wird es schon erraten haben – ein buntes Bild des Eiffelturms. Den Inhaber berechtigt es nach einer ersten Auffahrt bis zu hundertfünfzehn Metern über Grund zunächst dazu, abermals Schlange für den Lift von der zweiten zur dritten Etage zu stehen. »Mehr als eine halbe Stunde Wartezeit auf der zweiten Plattform«, warnt diskret, und absichtlich vage, eine Tafel an den Schaltern zu Füßen des Turmes. Der Normaltourist hat diese erste Schwelle während der Hochsaison mit Glück nach einer Stunde erreicht. Da hält ihn, dreihundert Meter unter dem Gipfel, so leicht nichts mehr zurück.
Wer sich fühlen möchte wie Dr. Livingstone bei der Erforschung des inneren Afrika oder wie Charles Lindbergh auf seinem Atlantikflug muss hier nicht herkommen. Mehr als zweihundert Millionen waren vor ihm da, seit der Turm am 6. Mai 1889 zur Pariser Weltausstellung eröffnet wurde. Dennoch hat der Eiffelturm nichts von seiner Faszination verloren. Das höchste Bauwerk der Erde ist er längst nicht mehr; das Empire State Building in New York hat ihm diesen Rang vor mehr als achtzig Jahren abgelaufen. Dass er ein technisches Meisterwerk ist, daran allein kann es auch nicht liegen; er ist so leicht konstruiert, dass sich ein verkleinertes Modell im Maßstab 1 : 100 nicht herstellen lässt. Sein Gewicht auf der Erde ist pro Quadratzentimeter Auflagefläche nicht größer als das eines besetzten Stuhls. Aber wie viele unter den Dreiundzwanzigtausend wollen das wissen?
Ästhetisch war der Turm von Anfang an umstritten. Guy de Maupassant und Charles Gounod protestierten zusammen mit anderen Künstlern gegen den Bau des »abscheulichen Skeletts«, des »Fabrikschlots«, der »Eisenmatte«. Schon im Eröffnungsjahr freilich ließ sich der lebensfrohe Schriftsteller zu Festessen in die Restaurants des Turmes einladen, »weil sie der einzige Platz in Paris sind, wo man ihn nicht sieht«, während der Komponist bis vier Uhr früh für Gustave Eiffel auf dem Klavier improvisierte. Mit den ägyptischen Pyramiden, den Niagarafällen und der Chinesischen Mauer hat der Eiffelturm gemeinsam, dass sie alle ziemlich genauso aussehen, wie man sie sich vorstellt. Überraschungen gibt es nicht. Das macht den Reiz des Gewohnten aus: Eiffel, der Zuverlässige.
Es ist Montag. Das Schloss von Versailles und das Musée d’Orsay haben Ruhetag. Aber der Eiffelturm ist geöffnet. Veranstalter richten ihr Paris-Programm darauf ein. »Den Eiffelturm wollen alle sehen«, sagt ein Reiseleiter, der seine Gruppe aus einem Bus mit Krefelder Nummer steigen lässt. Sehen kann man ihn, wie schon Maupassant bemerkte, beinahe von überall in Paris. Wenn der Autor am Morgen die Fensterläden öffnet, ist Tag für Tag das Erste, worauf sein Blick fällt, der Turm: riesengroß, je nach Wetter braungrau, schwarz, silbrig im Dunst, manchmal mit der Spitze in den Wolken. Abends beim letzten Blick über die viel besungenen Dächer von Paris ist der Eiffelturm meistens noch beleuchtet. Zur Weltausstellung taten es zehntausend Gaslampen, später Scheinwerfer von außen. Zuletzt wurden sie durch Natriumstrahler ersetzt, die hübsch und energiesparend im Inneren des Gerippes leuchten. Der goldene Eiffelturm am Abendhimmel sieht seither aus wie sein eigenes Souvenir.
Es ist Dienstag. Der Louvre und das Centre Pompidou haben geschlossen. Am Eiffelturm ist Parteienverkehr. Von den achteinhalb Millionen Besuchern, die der Louvre jährlich registriert, wollen nach einer inoffiziellen Erhebung 42,7 Prozent die Mona Lisa nicht sehen, 55,3 Prozent gehen der Venus von Milo aus dem Weg und 63,1 Prozent legen keinen Wert auf die Nike von Samothrake. Auch sonst verläuft sich dort das Publikum. Das Centre Pompidou verkauft fünfeinhalb Millionen Eintrittskarten. Aber rund die Hälfte der Besucher des Kulturzentrums betreten weder Ausstellungen noch die Bildergalerie oder die Bibliothek. Sie fahren mit der Rolltreppe an der Fassade empor, um vom fünften Stock aus gratis zu genießen, wofür sie bei Eiffel mehr bezahlen und länger warten müssten – einen Blick auf Paris von oben. Dann gehen sie wieder.
Die 6,8 Millionen Besucher des Eiffelturms kommen nur seinetwegen. Viele von ihnen sind, ohne es zu wissen, Nostalgiker. Wenn im Nordwestpfeiler der doppelstöckige Lift abhebt, versinken im Fundament langsam zwei gewaltige Kessel, die sich mit Seine-Wasser füllen. Denn dort wird der Aufzug noch wie in der Belle Époque hydraulisch gehoben. Schwungräder, Seilzüge, Gegengewichte vermitteln dem Eiffelturm-Fahrer auch in der Höhe keinerlei Flugzeuggefühl. »Das ist Zeppelin, das ist Raddampfer«, ruft begeistert ein älterer Herr aus den USA. Ein japanischer Bub sagt immer wieder ein paar Worte, welche die Wartenden wohlwollend und verständnislos anhören. »Er möchte mit dem gelben Lift fahren«, übersetzt höflich lächelnd sein Vater ins Englische. Alle Nationen sind da, als wollten sie hier den Turmbau von Babel rückgängig machen. Der rote Lift kommt zuerst.
Gustave Eiffels aus dem Rheinland zugewanderter Großvater besaß den Weitblick, seinen angestammten Familiennamen Boenickhausen abzulegen und sich nach der heimatlichen Eifel zu benennen, natürlich pfiffiger, pariserischer, mit zwei »f«. Der Boenickhausen-Turm – »la tour Boenickhausen« wäre kein Erfolg geworden. »La tour Äfféll« wurde zum Wahrzeichen. Beim Umgang mit Namen zeigte auch der Erbauer selber eine leichte Hand. Ursprünglich hatte er von dem Projekt für den Turm, das von seinen Ingenieuren Maurice Koechlin und Emile Nouguier stammte, nichts wissen wollen. Erst als Eiffel merkte, dass die Regierung und die Stadt Paris Interesse zeigten, kaufte er ihnen das Patent ab. Vertraglich sicherte er ihnen ein Prozent des Gewinns und die Erwähnung ihrer Namen zu. Er zahlte, aber der Koechlin-Nouguier-Eiffelturm steht in keinem Reiseführer.
In Eiffels Turmstübchen, das er sich im obersten Stock eingerichtet hatte, können Touristen durch die Fenster spähen. Sein goldenes Denkmal am Fuß des Nordturms strahlt Zuversicht in den technischen Fortschritt aus. Dabei war der Unternehmer Eiffel, der auf drei Kontinenten Brücken und andere Eisenkonstruktionen gebaut hatte, nicht immer erfolgreich. In den Finanzskandal um das erste Projekt für den Panamakanal verwickelt, wurde er sogar zu einem Jahr Gefängnis verurteilt. Zwar hob nach jahrelangem Tauziehen das Kassationsgericht die Strafe auf, doch Eiffel verwand den Schlag nie. Umso mehr identifizierte er sich mit dem Turm. Monoman sammelte er Büsten, Karikaturen, Fotos, Artikel, die sich mit seiner Person beschäftigten. Seine fünf Kinder und seine Mitarbeiter erhielten als Neujahrsgeschenk regelmäßig ein Porträt Eiffels.
Es ist Sonntag. Die Modesalons in der Rue du Faubourg St.-Honoré haben zu, die Warenhäuser auch, die meisten guten Restaurants gleichfalls. Aber der Eiffelturm ist geöffnet. Die Treppen im Südwestpfeiler sehen aus wie Ameisenstraßen. Denn man kann es auch billiger haben und die unterste Plattform für vier Euro fünfzig zu Fuß erreichen. Zu Fuß ging auch Adolf Hitler: Bei seiner Stadtrundfahrt im Juni 1940 waren angeblich die Lifte defekt. Er soll nur bis zum zweiten Stock gekommen sein, dann ging ihm – symbolisch für den weiteren Kriegsverlauf – der Atem aus. Vier Jahre lang ließen die Deutschen keine Franzosen auf den Eiffelturm. Schon im Ersten Weltkrieg hatte der Feind die Antennen an der Spitze genutzt: Durch aufgefangene deutsche Funksprüche erfuhr der französische Generalstab 1914, dass die rückwärtigen Verbindungen der deutschen Truppen, die auf Paris vorstürmten, dünn waren. Die Zeit war reif für die Gegenoffensive und das »Wunder an der Marne«. Wieder durch Funksprüche kamen die Franzosen auf die Spuren der Spionin Mata Hari, der mutmaßlich einzigen femme fatale in deutschen Diensten. Als die Amerikaner den Eiffelturm eineinhalb Jahre nach der Befreiung zurückgaben, kam ein Monteur und behob den »Liftdefekt«. Mit dem Schraubenzieher.
Für Funk und Fernsehen war der Turm gar nicht gebaut. Er war materiell zweckfrei, ein Monument des Surrealismus vor der Zeit. An Vollkommenheit übertraf ihn in dieser Hinsicht nur noch der Burdsch el-Kahira, der Kairo-Tower, auf der Nil-Insel Gesirah. Dieser entstand, nachdem eine CIA-Mission unter Führung des Präsidentensohns Kermit Roosevelt dem ägyptischen Staatschef Gamal Abd el-Nasser drei Millionen Dollar in bar »zur persönlichen Verfügung« überbracht hatte, um ihn vom Bündnis mit den Russen abzuhalten. Der verärgerte Nasser gab die Summe, damals viel Geld, für einen völlig sinnlosen Turm aus, der keine Büros, keine Feuerwache, keine Wetterstation, keine Sendermasten, sondern nur ein schlechtes Drehrestaurant enthält. In der Umgebung des Präsidenten hieß die hundertsiebenundachtzig Meter hohe Röhre »Wa’if Rusfil«, was man am besten mit »Roosevelts Erektion« übersetzt.
Den Franzosen stand der Sinn nach Höherem. Ihre Republik hatte gerade den Staub der Niederlage von 1871 aus den Kleidern geschüttelt und wollte zeigen, wo immer noch der Mittelpunkt der Welt war. Etwa zugleich und aus verwandten Motiven begann das katholische Frankreich auf dem Montmartre mit dem Bau der Basilika Sacré-Cœur. Seither stehen sich die architektonischen Symbole des Frankreichs der Marianne und der Jeanne d’Arc als Höhepunkte der Pariser Stadtsilhouette gegenüber, Ausdruck der zwei Seelen, die Franzosen wie alle anständigen Menschen in der Brust tragen. Es ist achtzehn Uhr. Notre-Dame schließt gerade, nicht so der Eiffelturm.
Im Jules-Verne-Restaurant in der zweiten Etage werden die Tische für das Abendessen gedeckt. Bretonischer Hummer, gekocht, Sauce Cardinal (vierundneunzig Euro) oder Kalbsrippe nach Art der Corrèze, des Heimatdepartements von Expräsident Jacques Chirac (vierundsiebzig Euro), stehen auf der Karte. Das »Jules Verne« ist eines der exklusiven Lokale der Stadt. Hier gibt es keine Liftschlangen, das Restaurant hat seinen eigenen Aufzug. Dafür muss lange im Voraus reserviert werden. Zwei elegante Golf-Araber, die gern rasch entschlossene Gäste gewesen wären, treten enttäuscht aus dem Vestibül wieder ins Freie.
Eigentlich hätte der Turm nach Ablauf der zwanzigjährigen Konzession abgerissen werden sollen. Aber eine Goldgrube schüttet niemand zu. Die Anleihe für den Bau war aus den Einnahmen des ersten Jahres zurückbezahlt worden. Sogar die Arbeiter, die schon am Bau mit fünfundneunzig Centimes Stundenlohn überdurchschnittlich gescheffelt hatten, bekamen nachträglich eine Zusatzprämie von hundert Franc. Heute verdient der Staat am weltlichen Himmelfahrtsgeschäft: Wenn das Geld im Kasten klingt, die Seele in die Lifte springt.